Verfahrensgang
LG Bochum (Urteil vom 20.01.2016) |
Tenor
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 20. Januar 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die dagegen gerichtete Revision, mit der der Beschuldigte allgemein die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat in vollem Umfang Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der therapieresistente Beschuldigte seit 2008 an einer krankhaften seelischen Störung in Gestalt einer chronisch überdauernden, paranoiden Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie. Diese Psychose bewirkt formale und inhaltliche Denkstörungen, verbunden mit einem ausgedehnten Wahnerleben, Panikattacken und Fehlwahrnehmungen. Der Beschuldigte hört imperative Stimmen und fühlt sich durch die „Bundeswehr” bedroht und gelenkt, die ihm bei seiner Musterung Chips in Kopf und Ohr implantiert habe, über die er fremdgesteuert werde.
Rz. 3
Der Beschuldigte hatte bereits im Februar 2012 – diese Tat ist nicht Gegenstand der Antragsschrift im vorliegenden Verfahren – der ihm auf dem Bürgersteig entgegenkommenden Zeugin L. ohne ersichtlichen Grund heftig gegen die linke Hüfte getreten. Auch dabei hatte er in der Vorstellung gehandelt, sein Bein werde über in seinem Körper implantierte Chips fremdgesteuert. Die zu diesem Zeitpunkt hochschwangere Zeugin hatte im Anschluss an die Tat wegen der Gefahr einer Fehlgeburt im Krankenhaus behandelt werden müssen. Wegen dieser Tat wurde der Beschuldigte durch Urteil des Amtsgerichts Essen vom 27. September 2013 wegen Schuldunfähigkeit im Sinne von § 20 StGB freigesprochen.
Rz. 4
2. Im Zustand krankheitsbedingter Schuldunfähigkeit kam es zu folgenden Anlasstaten des zwischen 2007 und 2010 mehrfach wegen Diebstahls, Unterschlagung und Erschleichens von Leistungen vorbestraften Beschuldigten:
Rz. 5
a) Am Morgen des 20. November 2013 war er – wegen einer Knieverletzung mit Gehstützen – in W. unterwegs. Als die 77-jährige Zeugin S., die sich dem Beschuldigten aus der entgegengesetzten Richtung mit dem Fahrrad näherte, etwa in seiner Höhe angehalten hatte, um ihre beschlagene Brille zu reinigen, hob dieser unvermittelt eine Gehstütze und versetzte der Zeugin damit einen kräftigen Schlag auf den Kopf. Der in diesem Augenblick latent psychotische Beschuldigte handelte in der Vorstellung, sein Arm werde über vermeintlich in seinem Körper implantierte Chips ferngesteuert. Der Fahrradhelm der Zeugin platzte durch den Schlag auf, sie selbst erlitt am Kopf eine blutende Platzwunde, ging infolge des Schlags in die Knie und fiel dann kurzzeitig bewusstlos zur Seite um. Währenddessen klemmte sich der Beschuldigte die Krücke unter den Arm und entfernte sich zügig. Kurze Zeit darauf konnte er von herbeigerufenen Polizeibeamten festgenommen werden. Die Zeugin leidet seit dem Vorfall häufig an Kopfschmerzen und erhält Beruhigungstabletten, weil sie an Angstgefühlen leidet.
Rz. 6
Der Beschuldigte benutzte ferner in der Zeit vom 15. Juni bis zum 16. September 2012 in 13 Fällen öffentliche Verkehrsmittel, ohne im Besitz eines gültigen Fahrausweises zu sein. Zudem beging er im April 2013 vier Ladendiebstähle.
Rz. 7
b) Die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten, so die sachverständig beratene Strafkammer, sei bei allen Taten vollständig aufgehoben gewesen, während die Einsichtsfähigkeit angesichts der eigenen Reflexion der Taten noch vorhanden gewesen sei. Sein exzessiver Drogenkonsum habe die psychotische Symptomatik im Tatzeitraum graduell verstärkt und aufrechterhalten. Der Angriff auf die Zeugin S. sei eindeutig Ausfluss der psychotischen Symptomatik und ganz dem Wahnerleben der Fremdsteuerung durch die „Bundeswehr” untergeordnet. Dies habe auch schon für die Tat zum Nachteil der Zeugin L. gegolten.
Rz. 8
3. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 9
a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beschwert den hiervon Betroffenen außerordentlich. Sie darf deshalb nur angeordnet werden, wenn vom Täter infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten mindestens aus dem Bereich der mittleren Kriminalität zu erwarten sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 26. Juni 2007 – 5 StR 215/07, NStZ-RR 2007, 300, 301 mwN). Das Gesetz fordert dem Tatrichter damit eine Gefährlichkeitsprognose ab, die eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat voraussetzt (BGH, Beschluss vom 11. Januar 2006 – 2 StR 582/05, StV 2006, 579). In diese Prüfung ist eine länger währende Straffreiheit als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten einzubeziehen (BGH, Urteil vom 28. August 2012 – 5 StR 295/12, NStZ-RR 2012, 366, 367).
Rz. 10
b) An einer solchen umfassenden Gesamtwürdigung fehlt es hier.
Rz. 11
Das Landgericht stützt seine Gefährlichkeitsprognose auf das dauerhafte Krankheitsbild beim Beschuldigten. Auf Grund seiner chronischen Psychose seien weitere Delikte „sehr wahrscheinlich”; die Abhängigkeit von psychose- bzw. aggressionsfördernden Drogen führe insoweit zu einer erheblichen Steigerung des Risikos weiterer Straftaten in Form von Aggressionsdelikten.
Rz. 12
Die tatrichterliche Prognoseentscheidung setzt sich nicht mit dem Umstand auseinander, dass der Beschuldigte bereits seit dem Jahr 2008 an der psychischen Erkrankung leidet, dennoch seither lediglich zweimal krankheitsbedingt im Februar 2012 und im November 2013 wegen Aggressionsdelikten, im Übrigen lediglich wegen Bagatelltaten in Erscheinung getreten ist. Dieser Umstand war schon deshalb erörterungsbedürftig, weil auch zwischen der Tat zum Nachteil der Zeugin S. am 20. November 2013 und seiner vorläufigen Unterbringung am 22. Juli 2015 auf Grund eines Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts Witten ein Zeitraum von annähernd zwanzig Monaten liegt, in dem sich der Beschuldigte nicht in staatlichem Gewahrsam befand, und trotz seines krankhaften Zustandes keine weiteren Straftaten aus dem Bereich der mittleren Kriminalität mehr beging. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognoseentscheidung des Tatrichters ist derjenige der Hauptverhandlung, nicht derjenige der Tat (BGH, Beschluss vom 11. Januar 2006 aaO). Die Gefährlichkeitsprognose bedarf daher der erneuten tatrichterlichen Prüfung.
Rz. 13
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf das Folgende hin:
Rz. 14
a) Bei der für die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB erforderlichen Prognose wird genauer als bisher geschehen zu prüfen und zu konkretisieren sein, welche Taten von dem Beschuldigten zu erwarten sind (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2009 – 5 StR 555/08, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 31).
Rz. 15
b) Von der Aufhebung ist das Urteil insgesamt betroffen. Wegen der Unzulässigkeit der Verfolgung der unter Ziff. II. 1 bis II. 16 der Urteilsgründe genannten Anlasstaten im Sicherungsverfahren nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 3. Mai 2016 Bezug.
Unterschriften
Sost-Scheible, Roggenbuck, Franke, Mutzbauer, Quentin
Fundstellen
Haufe-Index 9707446 |
StV 2017, 592 |