Entscheidungsstichwort (Thema)
Beihilfe zum Totschlag
Leitsatz (amtlich)
Vergatterung von Soldaten an der innerdeutschen Grenze vor befehlsgemäßem tödlichen Schußwaffengebrauch gegen einen unbewaffneten Flüchtling ist als Beihilfe zum Totschlag strafbar.
Normenkette
StGB §§ 27, 212
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten B wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Oktober 2000 nach § 349 Abs. 4 StPO dahin geändert, daß dieser Angeklagte wegen Beihilfe zum Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen, jedoch wird die Gebühr um ein Zehntel ermäßigt; die Staatskasse trägt ein Zehntel der gerichtlichen Auslagen und notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers im Revisionsverfahren.
Gründe
I.
Das Landgericht hat den Beschwerdeführer, den Angeklagten B., wegen Anstiftung zum Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
1. Folgendes Tatgeschehen liegt dem angefochtenen Urteil zugrunde:
Am 10. Mai 1974 wurde der 68jährige S. an der innerdeutschen Grenze zwischen Alt-Glienicke und Berlin-Rudow von Soldaten der Grenztruppen der DDR erschossen. Die beiden im Wachdienst an der Grenze eingesetzten Soldaten vermuteten, daß der schwerkranke, möglicherweise suizidale Rentner, der den Hinterlandsicherungszaun überstiegen hatte und sich ihrem Postenturm näherte, nach Berlin (West) flüchten wollte. Nachdem der Mann einen Zuruf, er solle stehenbleiben, unbeachtet gelassen hatte und weitergelaufen war, gab einer der Soldaten auf Befehl des als Postenführer eingesetzten anderen mit seiner Maschinenpistole „Kalaschnikow”, die auf Dauerfeuer eingestellt war, fünf Schüsse in Richtung des als „Grenzverletzer” angesehenen Rentners ab, um dessen Flucht unbedingt zu verhindern. Ein Schuß traf S. tödlich. Dies hatten die Soldaten bei dem befehlsgemäß ausgeübten Schußwaffengebrauch zwar nicht gewollt, jedoch für möglich erachtet und gebilligt.
Der Beschwerdeführer war als Oberleutnant stellvertretender Kompaniechef und als „Kommandeur Grenzsicherung” eingesetzt. Von dem Geschehen benachrichtigt, traf er alsbald am Ort ein. Der von ihm herbeigerufene Regimentsarzt stellte den Tod des Opfers fest. Die Grenzsoldaten wurden für ihr Verhalten belobigt; auch der Beschwerdeführer erhielt eine Geldprämie von 200 Mark als Auszeichnung. Auf die Vermißtenanzeige der Angehörigen des Getöteten wurde diesen auf Veranlassung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR vorgespiegelt, er sei zehn Tage später erhängt im Wald aufgefunden worden. Die Angehörigen erklärten sich daraufhin mit der sofortigen Feuerbestattung ohne Obduktion einverstanden.
Der Beschwerdeführer war für die „Vergatterung” der Soldaten verantwortlich gewesen. Er hatte sie entweder – wie regelmäßig üblich – selbst vorgenommen oder sie – im nicht sicher ausschließbaren Fall, daß er mit vorrangigen Organisationsaufgaben befaßt gewesen war – einem anderen übertragen. Den Soldaten war bei der Vergatterung, wie üblich, vor ihrem Einsatz befohlen worden, in ihrer Schicht „Grenzverletzer” an der Flucht – erforderlichenfalls durch Einsatz der Schußwaffe – zu hindern, sie festzunehmen, äußerstenfalls „zu vernichten”, da der Tod eines „Grenzverletzers” eher hingenommen werden sollte als ein gelungener Grenzdurchbruch.
2. Die Mitangeklagten – die beiden zum Grenzdienst eingesetzten, unmittelbar für den Schußwaffengebrauch verantwortlichen, zur Tatzeit erst 20jährigen Soldaten –, die das Urteil nicht angefochten haben, wurden jeweils wegen (gemeinschaftlichen) Totschlags zu neun Monaten Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt. Das Landgericht hat die Tat weder als durch die Grenzvorschriften der DDR gerechtfertigt noch trotz Handelns auf Befehl als entschuldigt angesehen. Es hat den Angeklagten einen vermeidbaren Verbotsirrtum zugebilligt und die Strafen nach dem Strafrahmen des § 213 StGB a. F. als dem mildesten Recht (§ 2 Abs. 3 StGB i. V. m. Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB) gebildet.
Die gegen den Beschwerdeführer verhängte elfmonatige Freiheitsstrafe hat das Landgericht demselben Strafrahmen entnommen. Es hat ihn aufgrund der selbst vorgenommenen oder angeordneten Vergatterung als Anstifter (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR, § 26 StGB) angesehen.
II.
Die Revision des Beschwerdeführers führt mit der Sachrüge zur Änderung des Schuldspruchs und zur Reduzierung der Strafe. Im übrigen ist das Rechtsmittel, wie vom Generalbundesanwalt zutreffend beurteilt, offensichtlich unbegründet.
1. Mit der Ausführung der konkret rechtsfehlerfrei festgestellten, mit bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführten Tat haben die Grenzsoldaten der mittlerweile offenkundigen Befehlslage an der innerdeutschen Grenze (vgl. BGHSt 40, 218, 222 ff.; 45, 270, 274 ff.) Folge geleistet. Entgegen den Einwendungen der Revision hat der Tatrichter die Haupttat entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur BGHSt 39, 1 und 168; 40, 241), die vom Bundesverfassungericht (BVerfGE 95, 96) und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Urteile vom 22. März 2001, EuGRZ 2001, 210 und 219) gebilligt geworden ist, zutreffend bewertet. Für die Beurteilung der allgemeinen Befehlslage und des ihr folgenden, vom Tatrichter rechtsfehlerfrei konkret festgestellten Inhalts der Vergatterung wäre es bedeutungslos, wenn – wie die Revision geltend macht – die zur Tatzeit maßgeblichen Grenzvorschriften den Begriff „Vernichtung” ausdrücklich nur auf in die DDR eindringende bzw. bewaffnete „Grenzverletzer” bezogen hätten. Dies hat der Senat – für eine andere Tatzeit, aber mit hier unverändert geltenden Erwägungen – bereits festgestellt (BGH, Urteil vom 24. April 1996 – 5 StR 322/95 –, insoweit in BGHR WStG § 5 Abs. 1 – Schuld 3 und NStZ-RR 1996, 323 nicht abgedruckt).
Die Verurteilung des Beschwerdeführers auf wahldeutiger Tatsachengrundlage und seine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen der Vergatterung sowohl für den Fall, daß er sie selbst erteilt, oder auch für den Fall, daß er sie delegiert hatte, ist – auch auf der Basis des Strafrechts der DDR – rechtsfehlerfrei (vgl. zum einen BGHSt 42, 65, 67; zum anderen BGH, Urteil vom 24. April 1996 – 5 StR 322/95 –, auch insoweit in BGHR WStG § 5 Abs. 1 – Schuld 3 und NStZ-RR 1996, 323 nicht abgedruckt; BGH NStZ 2001, 364).
2. Die Beurteilung der Vergatterung (vgl. dazu tatsächlich BGHSt 39, 1, 3 und 11) als Anstiftung erweist sich hingegen letztlich nicht als zutreffend. Der Beschwerdeführer ist lediglich der Beihilfe (§ 27 Abs. 1, § 22 Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR) zum Totschlag schuldig.
Wer an der Durchsetzung des Grenzregimes der DDR mit der darin enthaltenen offensichtlich menschenrechtswidrigen Anweisung zu notfalls tödlichem Schußwaffengebrauch durch verantwortliche Gestaltung der maßgeblichen Befehle mitgewirkt hat, ist für den tödlichen Schußwaffengebrauch nach dem regelmäßig milderen Recht der Bundesrepublik Deutschland als mittelbarer Täter, nach dem Recht der DDR als Anstifter verantwortlich (BGHSt 40, 218; 45, 270). Der Vorgesetzte in der Grenzkompanie, der die einzelnen Soldaten zum Wachdienst an der Grenze eingeteilt und dabei vergattert hat (vgl. zu diesem militärischen Begriff Schölz/Lingens, WStG 4. Aufl. § 44 Rdn. 5; Dau, WDO 2. Aufl. § 17 Rdn. 20), hat seinerseits entsprechend befehlsgebunden nach strikten inhaltlichen Vorgaben gehandelt. Zwar hat er mit seinem Verhalten für den Fall eines anschließenden tödlichen Schußwaffengebrauchs den konkreten Einsatz des dabei unmittelbar tätig gewordenen Soldaten verursacht; er hat ihn regelmäßig – so auch hier – bewußt zu bedingt vorsätzlichem Töten für den Fall einer als möglich angesehenen nicht anders verhinderbaren Flucht eingesetzt. Indes war die Befehlslage den Soldaten – auch dem hier möglicherweise erstmals im Grenzdienst eingesetzten Schützen – im Rahmen ihrer Ausbildung vorgegeben und erläutert. Sie wurde durch die Vergatterung lediglich aktualisiert. Der Vergatterer hatte keinen inhaltlichen Spielraum. War Schußwaffengebrauch gegen Flüchtlinge ausnahmsweise aus besonderem Anlaß ausgesetzt (vgl. BGHSt 39, 168, 190; 45, 270, 303) – hierauf weist der Tatrichter im Rahmen der rechtlichen Bewertung als Anstiftung besonders hin –, war dem Vergatterer auch dies selbstverständlich vorgegeben.
Der Bundesgerichtshof hat über die rechtliche Einordnung des Tatbeitrages der Vergatterung noch nicht verbindlich entschieden. Als im Rahmen der Befehlskette mitverantwortlichen mittelbaren Täter hat er den Vergatterer bislang nicht angesehen, vielmehr in einem Sonderfall, in welchem Vergatterer wie Schützen ein Tötungsvorsatz nicht nachzuweisen war, die bei anderer Beweislage anzunehmende Verantwortlichkeit des Vergatterers als Anstifter oder Gehilfe offengelassen (BGHR StGB § 25 Abs. 1 – Mittelbare Täterschaft 6; vgl. auch Willnow JR 1997, 221, 226). Im vorliegenden Fall, in dem der mit dem bedingten Tötungsvorsatz der für die Schußabgabe unmittelbar verantwortlichen Grenzsoldaten korrespondierende bedingte Tötungsvorsatz des Beschwerdeführers als Vergatterer nicht in Frage steht, ist nunmehr über die Bewertung des in der Vergatterung liegenden Tatbeitrages zu entscheiden.
Infolge der vorgesetzten Stellung des Beschwerdeführers und seiner konkreten Einsatzorganisation steht sein Tatbeitrag zwar an der Grenze zur mittelbaren Täterschaft bzw. Anstiftung. Dagegen stehen die eigene Befehlseinbindung des Beschwerdeführers mit strikten inhaltlichen Vorgaben und die zuvor erfolgte generelle Befehlserteilung an die eingesetzten Soldaten, deren Tatentschluß für den Fall der später tatsächlich eingetretenen (hier wohl nur vermeintlichen) Fluchtsituation damit nicht erst durch die Vergatterung geweckt wurde, sondern für den Fall der Bereitschaft der Soldaten zu unbedingter Befehlserfüllung bereits latent vorhanden und zuvor festgelegt war.
Danach bewertet der Senat den in der Vergatterung liegenden Tatbeitrag des Beschwerdeführers lediglich als Beihilfe zum Totschlag. Sondernormen des Militärstrafrechts, auf die Schuldsprüche wegen täterschaftlicher Verantwortlichkeit auch in Fällen der vorliegenden Art mit klaren Befehlsstrukturen bislang nicht gestützt worden sind (vgl. lediglich den Vorbehalt in BGHSt 40, 218, 237), zwingen bei der hier gegebenen Befehlseinbindung nicht zu anderer Entscheidung. Mit der Vergatterung oder ihrer Veranlassung hat der Beschwerdeführer – in Befolgung und Förderung der allgemeinen Befehlslage – die unmittelbaren Täter in ihrem zuvor bereits anderweits geweckten Tatentschluß letztlich lediglich maßgeblich bestärkt (vgl. auch BGHR StGB § 26 – Bestimmen 3; DDR-Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrbuch 1976 S. 377 f.).
Einen über die bloße Vergatterung hinausgehenden konkreten Befehl in der aktuellen Situation des unmittelbar bevorstehenden Schußwaffengebrauchs, der zu abweichender Beurteilung veranlassen würde (vgl. BGHSt 42, 65, 68 ff.), hatte der Beschwerdeführer nicht erteilt. Die Entscheidung des Senats hat die Konsequenz, daß Fälle der Vergatterung ohne anschließenden tödlichen Schußwaffengebrauch nicht etwa nach Vorschriften über versuchte Anstiftung oder nach wehrstrafrechtlichen Spezialnormen (vgl. BGHR StGB § 25 Abs. 1 – Mittelbare Täterschaft 6) strafbar sind.
3. Der Senat kann den Schuldspruch selbst ändern. Der Beschwerdeführer hätte sich gegen den geänderten Schuldvorwurf nicht anders wirksamer verteidigen können.
Trotz einer weiteren Herabsetzung des nach § 2 Abs. 3 StGB, Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB maßgeblichen Strafrahmens des § 213 StGB a. F. gemäß § 27 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB kann der Senat jedenfalls ausschließen, daß die Strafe noch milder hätte ausfallen können als bei den unmittelbar tätig gewordenen Soldaten, die einen erheblich niedrigeren Dienstgrad hatten und deren durch Befehlsbindung und vermeidbaren Verbotsirrtum sowie affektive Anspannung geprägte aktuelle Tatsituation einer Entschuldigung erheblich näher stand (vgl. zu dieser Problematik nur BGHR WStG § 5 Abs. 1 – Schuld 4 und 6 m.w.N.; BVerfGE 95, 96, 142; EGMR EuGRZ 2001, 219, 220 f. und Sondervoten S. 222 ff.), als dies beim Beschwerdeführer der Fall war.
Um den angesichts eines mehr als 25 Jahre zurückliegenden Tatgeschehens gebotenen endgültigen Abschluß des Verfahrens herbeizuführen, setzt der Senat hier entsprechend § 354 Abs. 1 StPO die Strafe auf diese konkret denkbare Mindesthöhe fest.
Unterschriften
Häger, Basdorf, Gerhardt, Raum, Brause
Fundstellen
Haufe-Index 634755 |
BGHSt |
BGHSt, 100 |
NJW 2001, 3060 |
NStZ 2001, 589 |
Nachschlagewerk BGH |
NJ 2001, 604 |
NPA 2002, 0 |
StraFo 2002, 93 |