Leitsatz (amtlich)
›Wird einem Betroffenen gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, so wird die Frist zur Begründung des Rechtsmittels nicht durch eine bereits vorher bewirkte Zustellung der angefochtenen Entscheidung in Lauf gesetzt, sondern erst durch die Zustellung des Wiedereinsetzungsbeschlusses.‹
Verfahrensgang
AG Darmstadt |
OLG Frankfurt am Main |
Gründe
Das Amtsgericht Darmstadt hat mit Beschluß gemäß § 72 OWiG vom 22. Oktober 1979 - zugestellt am 9. Januar 1980 - gegen den Betroffenen wegen einer Ordnungswidrigkeit eine Geldbuße in Höhe von 6.400 DM verhängt. Hiergegen hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 15. Januar 1980 - eingegangen bei Gericht am 17. Januar 1980 - Rechtsbeschwerde eingelegt und gleichzeitig um Verlängerung der Frist zur Begründung des Rechtsmittels bis zum 1. März 1980 gebeten. Er hat die Rechtsbeschwerde dann mit Schriftsatz vom 19. März 1980, der bei Gericht am 20. März 1980 einging, begründet.
Mit Beschluß vom 12. Februar 1980 hat das Amtsgericht die Rechtsbeschwerde wegen Nichteinhaltung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels als unzulässig verworfen. Nachdem dieser Beschluß dem Betroffenen am 10. April 1980 zugestellt worden war, hat der Verteidiger hiergegen mit Schriftsatz vom 11. April 1980 - eingegangen bei Gericht am 12. April 1980 - "Beschwerde" eingelegt und zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde beantragt. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat dem Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde gewährt, beabsichtigt aber die Rechtsbeschwerde nunmehr wegen nicht rechtzeitiger Begründung gemäß § 79 Abs. 3 OWiG, § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen.
Es ist der Ansicht, die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde sei abgelaufen. Sie habe unmittelbar nach Ablauf der Einlegungsfrist und unabhängig davon zu laufen begonnen, ob das Rechtsmittel rechtzeitig oder verspätet eingelegt wurde. Die Zustellung des Beschlusses über die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde setze die Begründungsfrist nicht erneut in Lauf. Das Oberlandesgericht sieht sich an der beabsichtigten Entscheidung jedoch durch die Beschlüsse des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 4. November 1971 (BayObLGSt 1971, 189 ff) und des Oberlandesgerichts Koblenz vom 13. Juni 1967 (MDR 1967, 857) gehindert, in denen die Auffassung vertreten wird, bei verspäteter Revisionseinlegung und beantragter Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Einlegungsfrist beginne die Revisionsbegründungsfrist auch dann erst mit der Zustellung des die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses, wenn das gegen einen Abwesenden ergangene Urteil nach § 341 Abs. 2 StPO zugestellt worden war. Es hat die Sache deshalb dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung der Frage vorgelegt,
ob durch die Zustellung des Beschlusses nach § 72 OWiG des Amtsgerichts die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde auch dann in Lauf gesetzt wird, wenn die Rechtsbeschwerde verspätet eingelegt ist und auf den zusätzlichen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einlegungsfrist gewährt wird.
Die Vorlegungsvoraussetzungen des § 121 Abs. 2 GVG sind jedenfalls im Hinblick auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz gegeben. Dabei spielt es keine Rolle, daß das Oberlandesgericht Frankfurt am Main in einer Rechtsbeschwerdesache gegen einen Beschluß gemäß § 72 OWiG entscheiden will, während die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz die Revision gegen ein in Abwesenheit des Angeklagten verkündetes Urteil betrifft. In beiden Fällen beginnt die Rechtsmittelfrist mit der Zustellung der Entscheidung. Die Vorschriften für die Revisionsbegründung und die Wiedereinsetzung gelten auch für das Rechtsbeschwerdeverfahren (§§ 46, 79 Abs. 3 und 4 OWiG). Das Oberlandesgericht Frankfurt kann die Rechtsbeschwerde deshalb nicht als unzulässig verwerfen, ohne von der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Koblenz abzuweichen.
In der Sache teilt der Senat in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt und der in Rechtsprechung und Schrifttum herrschenden Meinung (vgl. Löwe/Rosenberg, StPO 23. Aufl. § 345 Rdn. 9 mit weiteren Nachweisen) die Auffassung des Oberlandesgerichts Koblenz. Sie entspricht der ständigen Rechtspraxis der Strafsenate des Bundesgerichtshofs, die sich im Anschluß an die Entscheidung in RGSt 76, 280 ff entwickelt hat. Danach ist die Zustellung eines Urteils, die vor Einlegung einer zulässigen Revision und vor der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision bewirkt wurde, nicht geeignet, die Frist zur Begründung der Revision in Lauf zu setzen.
In solchen Fällen beginnt die Revisionsbegründungsfrist vielmehr erst mit der Zustellung des die Wiedereinsetzung bewilligenden Beschlusses.
Es besteht kein Anlaß, diese Rechtsprechung aufzugeben oder in den Fällen von ihr abzuweichen, in denen sich das zu begründende Rechtsmittel gegen eine in Abwesenheit des Beschwerdeführers erlassene Entscheidung richtet.
Die Durchführung des Rechtsmittels der Revision (Rechtsbeschwerde) vollzieht sich in zwei Schritten. Zunächst muß der Beschwerdeführer binnen einer Woche erklären, daß er die Entscheidung anficht. Hat er das getan und will er das Rechtsmittel durchführen, dann muß er es innerhalb der in § 345 Abs. 1 StPO bestimmten Monatsfrist, die frühestens nach Ablauf der Einlegungsfrist beginnt, begründen. Hat er die Entscheidung dagegen nicht rechtzeitig angefochten, dann wird sie rechtskräftig. Eine Obliegenheit, ein Rechtsmittel gegen eine rechtskräftige Entscheidung zu begründen, enthält § 345 Abs. 1 StPO jedoch nicht. Mit der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels wird zwar die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung mit rückwirkender Kraft beseitigt. Dieser Rückwirkung sind aber dort Grenzen gesetzt, wo es nicht nur um die Aufhebung und Rückverlagerung rechtlicher Auswirkungen geht. Ebensowenig wie ein vergangenes tatsächliches Ereignis rückwirkend ungeschehen gemacht werden kann (vgl. BGHSt 18, 34 ff), kann eine Obliegenheit für die Vergangenheit begründet werden.
Auch eine Verpflichtung zur vorsorglichen Begründung des Rechtsmittels ist abzulehnen. Sie würde dem Rechtsmittelführer oft eine umfangreiche und schwierige Tätigkeit abverlangen, die sich möglicherweise später - bei Versagung der Wiedereinsetzung in der vorigen Stand wegen Versäumung der Einlegungsfrist - als überflüssig erweisen würde (vgl. BVerwG NJW 1971, 294, 295). Die Auferlegung einer solchen Verpflichtung bedürfte auch einer besonderen gesetzlichen Grundlage, die für diesen Fall nicht vorgesehen ist. Sie läßt sich - entgegen der Ansicht des vorlegenden Oberlandesgerichts - nicht aus § 342 StPO ableiten, der einen Sonderfall regelt und nur dann Bedeutung erlangt, wenn keine Wiedereinsetzung gewährt wird, und der insoweit lediglich bestimmt, daß die Chance einer das angefochtene Urteil beseitigenden Wiedereinsetzung für den Lauf der Frist zur Einlegung (und Begründung) der Revision ohne Bedeutung ist.
Die Verneinung einer Verpflichtung zur vorsorglichen Begründung des Rechtsmittels mag in bestimmten Fällen zwar dazu führen, daß einem Angeklagten (Betroffenen) mehr Zeit zur Begründung seines Rechtsmittels zur Verfügung steht als das Gesetz regelmäßig vorsieht. Das mag in diesen Fällen auch zu einer Verzögerung des Verfahrens führen. In anderen Fällen dagegen hätte die Bejahung der Pflicht zur vorsorglichen Rechtsmittelbegründung aber eine noch erheblichere Verzögerung des Verfahrens zur Folge. Denn wenn ein Angeklagter (Betroffener) die Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels schuldlos versäumt, so wird ihm häufig auch die Nichteinhaltung der Begründungsfrist nicht vorzuwerfen sein, so daß ihm auch insoweit - gegebenenfalls sogar erst nach Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müßte. Ob dies bei Urteilen, die in Abwesenheit eines Angeklagten (Betroffenen) verkündet und ihm dann zugestellt werden und bei Beschlüssen gemäß § 72 OWiG, die ebenfalls zugestellt werden müßten, seltener der Fall wäre als bei Urteilen, die in Abwesenheit verkündet wurden, kann dahinstehen. Eine unterschiedliche, auf den Einzelfall abgestellte Regelung der Frage, wann nach Versäumung der Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels die Rechtsmittelbegründungsfrist zu laufen beginnt, ist nämlich abzulehnen. Sie widerspräche dem Gebot der Klarheit und Eindeutigkeit von Fristenregelungen. Fristen müssen sofort, eindeutig und klar erkennbar sein (vgl. BVerfGE 4, 31, 37).
Fundstellen
Haufe-Index 2992715 |
BGHSt 30, 335 |
NJW 1982, 1110 |
LM StPO § 345 Nr. 7 |
NStZ 1983, 359 |
MDR 1982, 423 |
StV 1982, 213 |