Leitsatz (amtlich)
Bei einer Verurteilung nach § 323 a StGB kommt die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus trotz uneingeschränkt schuldhaften Sichberauschens jedenfalls dann in Betracht, wenn der Täter andernfalls in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden müßte.
Normenkette
StGB §§ 63, 66, 323a
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Urteil vom 20.12.2002) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 20. Dezember 2002 im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat zum Maßregelausspruch Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen mißhandelte der Angeklagte in alkoholisiertem Zustand (Tatzeit-BAK: 4,02 ‰) einen Zechgenossen durch Schläge mit der Faust und mit einer Taschenlampe sowie durch Fußtritte, so daß dieser u.a. ein Schädelhirntrauma und mehrere Gesichtsfrakturen erlitt.
2. Die sachverständig beratene Strafkammer geht – rechtsfehlerfrei – davon aus, daß der Angeklagte bei Trinkbeginn (im Zeitpunkt des „Sichberauschens”) voll schuldfähig war. Die Rauschtat (gefährliche Körperverletzung) habe er im Zustand erheblich verminderter, möglicherweise völlig aufgehobener Steuerungsfähigkeit begangen.
Das Landgericht hat weiter festgestellt, daß beim Angeklagten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vorliegt. Er ist seit Jahrzehnten alkoholabhängig. Im Bundeszentralregister befinden sich für ihn 23 Eintragungen; die diesen zugrundeliegenden Straftaten beging der Angeklagte, soweit sie gewichtig waren, stets unter Alkoholeinfluß. Mehrjährige Unterbringungen in einer Entziehungsanstalt waren ohne Erfolg.
3. Die Strafkammer hat die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 StGB, dessen Voraussetzungen vorliegen, angeordnet. Seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hat sie ohne Rechtsfehler abgelehnt, weil diese keine Aussicht auf Erfolg verspricht. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hat das Landgericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (Beschluß vom 18. Mai 1995 – 5 StR 239/95 = NStZ 1996, 41) mit der Begründung abgelehnt, diese komme nur dann in Betracht, wenn die Tat, d.h. das Sichberauschen, im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen wurde, was hier aber nicht der Fall gewesen sei.
4. Die Maßregelanordnung kann nicht bestehen bleiben.
Die Annahme des Landgerichts, die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB scheide aus Rechtsgründen aus, hält der Nachprüfung nicht stand.
Zu Recht macht die Revision geltend, daß die Sicherungsverwahrung als „ultima ratio” (vgl. BGH NStZ 2002, 533, 534) erst dann hätte angeordnet werden dürfen, wenn § 63 StGB nicht anwendbar wäre. Hätte das Landgericht bei der Maßregelentscheidung auf die Rauschtat – gefährliche Körperverletzung – abgestellt, so wäre die Eingangsvoraussetzung des § 63 StGB – die sichere Feststellung zumindest verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) – erfüllt gewesen. Da dem Angeklagten kein Nachteil daraus erwachsen darf, daß er nicht wegen der Rauschtat, sondern (weil seine Steuerungsfähigkeit möglicherweise aufgehoben war) in Anwendung des Zweifelssatzes wegen Vollrausches verurteilt wurde (vgl. BGH NStZ 1993, 81, 82; StV 1997, 18), hätte das Landgericht – in erneuter Anwendung des Zweifelssatzes (diesmal zum Rechtsfolgenausspruch) – die Voraussetzungen des § 63 StGB prüfen (zur Anwendung des § 63 StGB beim Zusammenwirken von Persönlichkeitsstörung und Alkoholabhängigkeit vgl. BGHSt 44, 338 ff.; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 63 Rdn. 2 f. m.w.N.) und nach § 72 Abs. 1 StGB der Maßregel den Vorzug geben müssen, die den Angeklagten am wenigsten beschwert (vgl. BGHR StGB § 63 Konkurrenzen 3; s. hierzu auch BGHR StGB § 72 Sicherungszweck 1, 4, 6).
5. Der Senat hat bei den anderen Strafsenaten des Bundesgerichtshofs angefragt, ob der Entscheidung des 5. Strafsenats vom 18. Mai 1995 (= NStZ 1996, 41), der sich der 1. Strafsenat (Beschluß vom 16. Dezember 1997 – 1 StR 735/97), der 2. Strafsenat (u.a. Beschluß vom 26. Juni 1996 – 2 StR 244/96 = NStZ-RR 1997, 102) und auch der erkennende Senat (Beschluß vom 4. Februar 1997 – 4 StR 655/96 = NStZ-RR 1997, 299, 300) angeschlossen haben, der Grundsatz zu entnehmen ist, daß bei einer Verurteilung wegen Vollrausches eine Unterbringung nach § 63 StGB nur in Betracht kommt, wenn der Angeklagte das Vergehen nach § 323 a StGB – die Alkoholaufnahme – im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen hat, daß somit für die Unterbringungsanordnung die Schuldfähigkeitsbeurteilung im Hinblick auf die Rauschtat ohne Bedeutung ist. Dem hätte der Senat – für eine Fallgestaltung wie hier – nicht folgen können. In seinem Anfragebeschluß vom 5. August 2003 hat er vielmehr grundsätzliche Bedenken geltend gemacht, ob an der Rechtsprechung festzuhalten ist, daß bei § 323 a StGB Anknüpfungspunkt der für die Anordnung nach § 63 StGB vorausgesetzten sicheren Feststellung des § 21 StGB (allein) das „Sichberauschen” – die Alkoholaufnahme – und „rechtswidrige Tat” im Sinne des § 63 StGB nicht auch die Rauschtat ist. Die anderen Strafsenate haben hierzu nicht abschließend Stellung genommen; sie sind jedoch der beabsichtigten – auf die doppelte Anwendung des Zweifelssatzes gestützten – Entscheidung des Senats nicht entgegengetreten.
6. Der Maßregelausspruch ist daher mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben. Hierdurch wird der Strafausspruch nicht berührt, weil auszuschließen ist, daß das Landgericht eine mildere Strafe verhängt hätte, wenn es statt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet hätte.
Unterschriften
Maatz, Kuckein, Athing, Solin-Stojanović, Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 2558029 |
NJW 2004, 960 |
EBE/BGH 2004, 3 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 2004, 229 |
DAR 2005, 248 |
StV 2005, 21 |