Tenor
Dem Europäischen Gerichtshof wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die die Erteilung und die Annullierung eines einheitlichen Visums regelnden Art. 21, 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. L 243 vom 15. September 2009 S. 1, Visakodex – VK) dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen entgegenstehen, in denen die geschleusten Personen zwar über ein Visum verfügen, dieses aber durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaates über den wahren Reisezweck erlangt haben?
Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorlagefrage ausgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat über die Revision des Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Berlin zu entscheiden. Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt.
Rz. 2
1. Dem Vorabentscheidungsverfahren liegt folgender, vom Landgericht festgestellter Sachverhalt zugrunde:
Rz. 3
Der Angeklagte gehörte vietnamesischen Banden an, deren Ziel es war, Vietnamesen nach Deutschland illegal einzuschleusen. Eine Bande ging in der Weise vor, dass der ungarischen Botschaft in Vietnam vorgespiegelt wurde, bei gegen ein Entgelt von 11.000 $ bis 15.000 $ zu schleusenden vietnamesischen Staatsbürgern handele es sich um Mitglieder touristischer Reisegruppen. Die vorgeblichen Reisegruppen bestanden jeweils aus 20 bis 30 Personen. In der irrigen Annahme, dass die Reisen tatsächlich stattfinden würden, erteilte die ungarische Botschaft den Betroffenen Touristenvisa, die einen kurzen Aufenthalt in allen Schengenstaaten ermöglichten. Die Reisen wurden in den ersten Tagen zum Schein gemäß Reiseprogramm durchgeführt, bevor die Geschleusten dem vorab gefassten Tatplan entsprechend von Paris aus in die jeweiligen Zielländer – zumeist Deutschland – weitertransportiert wurden. Die in Berlin eintreffenden Geschleusten wurden zunächst in so genannten „Safehouses” untergebracht, bis sie dann von in Deutschland ansässigen Verwandten abgeholt und anderweitig einquartiert wurden.
Rz. 4
Die weitere Bande machte sich den Umstand zunutze, dass vietnamesische Arbeitskräfte in Schweden als Beerenpflücker auf wenige Monate befristete Arbeitsvisa erlangen konnten, die einen Aufenthalt im Schengenraum erlaubten. Bei der Beantragung der Visa wurde den zuständigen Behörden vorgespiegelt, dass die zu schleusenden Personen als Beerenpflücker arbeiten wollten, während sie in Wahrheit planten, sich unmittelbar nach ihrer Ankunft in Schweden weiter nach Deutschland schleusen zu lassen.
Rz. 5
2. Dem Angeklagten liegt im Einzelnen zur Last:
Rz. 6
a) Am 21. Juni 2010 nahm er mit zwei anderen Bandenmitgliedern sechs vietnamesische Staatsbürger in Empfang, die mit erschlichenen ungarischen Touristenvisa von Paris kommend in Berlin eingetroffen waren. Mit einem der Mittäter sorgte er dafür, dass diese und drei weitere geschleuste Personen durch Verwandte oder Bekannte abgeholt und untergebracht wurden. Für seine Mithilfe erhielt er einen Lohn von 500 EUR. Dem Tatplan entsprechend tauchten die betreffenden vietnamesischen Staatsbürger nach ihrer Ankunft in Deutschland unter (Tat 1).
Rz. 7
b) Am 4. Juli 2010 holte er mit zwei Bandenmitgliedern zehn nach Berlin gebrachte vietnamesische Staatsbürger ab, die mit erschlichenen ungarischen Touristenvisa nach Europa eingereist waren, und sorgte für deren Unterbringung. Er erhielt Geldleistungen in unbekannter Höhe (Tat 2).
Rz. 8
c) Am 17. Juli 2010 fuhren der Angeklagte und ein Mittäter von Berlin nach Schweden, um den Transport einer Gruppe von vietnamesischen Staatsangehörigen nach Berlin zu organisieren. Diese hatten auf die dargestellte Weise schwedische Arbeitsvisa als Beerenpflücker erschlichen. Jeder vietnamesische Staatsangehörige hatte für die Schleusung 2.000 EUR an den Angeklagten zu zahlen. Der Mittäter des Angeklagten fuhr mit vier geschleusten Personen am 19. Juli 2010 nach Berlin, während der Angeklagte in Schweden verblieb, um die Schleusung der übrigen vietnamesischen Staatsangehörigen zu organisieren. Die vier mit seinem Mittäter nach Berlin gekommenen Vietnamesen wurden plangemäß von einem weiteren Mittäter in Berlin untergebracht (Tat 3).
Rz. 9
d) Anschließend organisierten der in Schweden verbliebene Angeklagte und sein dorthin zurückgekehrter Mittäter nach gleichem Muster die Schleusung weiterer vietnamesischer Staatsbürger nach Berlin. Auch diese Personen mussten hierfür jeweils 2.000 EUR an den Angeklagten bezahlen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2010 wurden acht vietnamesische Staatsangehörige von Schweden nach Berlin verbracht, wo die Aufnahme und Unterbringung der geschleusten Personen organisiert wurde (Tat 4).
Rz. 10
3. Nach Auffassung des Landgerichts hat sich der Angeklagte dadurch in vier selbständigen Fällen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern nach § 97 Abs. 2 i.V.m. § 96 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und b i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 und § 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Nr. 1 und 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz (AufenthG) strafbar gemacht. Voraussetzung für die Strafbarkeit ist dabei, dass hinsichtlich der geschleusten Personen der Tatbestand der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) bzw. des unerlaubten Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) erfüllt ist. Wie aus der Zitierung des § 95 Abs. 6 AufenthG im Urteil ersichtlich ist, hat das Landgericht in dem Umstand, dass die geschleusten Personen formell über Visa verfügten, keinen die Strafbarkeit hindernden Umstand gesehen. Gemäß dieser Vorschrift steht für die Tatbestände des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG einem Handeln ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ein – hier gegebenes – Handeln aufgrund eines durch falsche Angaben erschlichenen Aufenthaltstitels gleich.
Rz. 11
4. Mit seiner Revision wendet sich der Angeklagte gegen seine Verurteilung. Er beanstandet, ohne dies näher zu begründen, die Verletzung sachlichen Rechts.
Rz. 12
5. Der Senat hält die Beantwortung der – mit seinem Ersuchen um Vorabentscheidung vom 10. Januar 2012 (5 StR 351/11) identischen – Vorlagefrage für den Erlass seiner Entscheidung über die Revision für erforderlich. Sie ist entscheidungserheblich, ohne dass einschlägige oder übertragbare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ersichtlich wäre (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. Oktober 2011 – 2 BvR 1969/09 Rn. 25, und vom 22. September 2011 – 2 BvR 947/11 Rn. 14, jeweils mwN). Der Senat legt sie deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung vor.
Rz. 13
Er geht davon aus, dass die Voraussetzungen des § 95 Abs. 6 AufenthG erfüllt sind. Die zu schleusenden Personen haben gegenüber den Amtsträgern der ungarischen bzw. der schwedischen Botschaft in Vietnam bewusst wahrheitswidrig vorgegeben, zu touristischen Zwecken bzw. zum Zweck vorübergehender Arbeit in den Schengenraum einreisen zu wollen (vgl. Art. 21 VK, auch i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. a, c, d und e der Verordnung (EG) – Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, Schengener Grenzkodex – SGK, ABl. L 105 vom 13. April 2006, S. 1). Demgegenüber hatten sie von Anfang an die Absicht, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, was der Erteilung der Visa zwingend entgegenstand (vgl. Art. 21 Abs. 1 VK, Art. 5 Abs. 1 lit. e SGK; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., AufenthG § 6 Rn. 22). Nach den tatgerichtlichen Feststellungen wurden die Visa nur aufgrund der Fehlvorstellung der Amtsträger über den wahren Zweck der Reisen erteilt.
Rz. 14
Zur weiteren Begründung wird auf das in der Sache 5 StR 351/11 ergangene Vorabentscheidungsersuchen vom 10. Januar 2012 Bezug genommen.
Rz. 15
Der Senat weist darauf hin, dass der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof Verfahrensbeteiligter ist.
Unterschriften
Basdorf, Brause, Schaal, Schneider, König
Fundstellen