Verfahrensgang
LG Hechingen (Urteil vom 27.04.2021; Aktenzeichen 16 Js 8377/20 jug 1 KLs) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hechingen vom 27. April 2021 im Ausspruch über die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen und sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt, seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen nahm der 1981 geborene Angeklagte, bei dem seit seiner Jugend eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer Pädophilie nach ICD-10: F65.4 besteht, mindestens fünf sexuelle Handlungen im Zeitraum ab Anfang September 2019 bis Ende April 2020 an seiner zu den Tatzeitpunkten acht bzw. neun Jahre alten leiblichen Tochter J. vor. In mindestens zwei weiteren – nicht anklagegegenständlichen – Fällen führte er im genannten Zeitraum auch bei seiner siebenjährigen leiblichen Tochter N. entweder Penis, Finger oder einen Gegenstand bis mindestens zum Scheidenvorhof in deren Scheide ein. Der Angeklagte, der bislang keine Strafhaft verbüßt hat, wurde 2014 wegen Sichverschaffens kinderpornographischer Schriften in 29 Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, die im November 2017 erlassen wurde.
Rz. 3
2. Der Schuld- und der Strafausspruch weisen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Die auf § 66 Abs. 2 StGB gestützte Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hält hingegen sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 4
a) Zwar hat das Landgericht die formellen und materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a, Nr. 4 StGB, insbesondere einen Hang des Angeklagten und seine fortbestehende Gefährlichkeit, rechtsfehlerfrei festgestellt. Die Begründung der Ermessensentscheidung lässt jedoch nicht erkennen, dass sich das Landgericht des Ausnahmecharakters der Vorschrift des § 66 Abs. 2 StGB bewusst war (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 27. Juni 2019 – 1 StR 612/18 Rn. 5 mwN und vom 8. Februar 1996 – 4 StR 752/95 Rn. 9).
Rz. 5
aa) Die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB steht im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Die Ermessensausübung unterliegt zwar nur eingeschränkter revisionsgerichtlicher Überprüfung. Sie erstreckt sich aber vor allem darauf, ob bei einer Ermessensausübung von einem zutreffenden rechtlichen und tatsächlichen Ansatz ausgegangen worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2019 – 1 StR 612/18 Rn. 4 mwN).
Rz. 6
bb) Bei der Ermessensausübung sind die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes zu beachten. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers soll der Tatrichter die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt des Urteils auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung getragen, der sich daraus ergibt, dass § 66 Abs. 2 StGB – im Gegensatz zu Abs. 1 – eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung nicht voraussetzt. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichtige Kriterien, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind. Es besteht zwar keine Vermutung dahingehend, dass langjährige, erstmalige Strafverbüßung stets zu einer Verhaltensänderung führen wird. Je länger die verhängte Freiheitsstrafe und je geringer die bisherige Hafterfahrung des Täters mit Verurteilung und Strafvollzug sind, desto mehr muss sich der Tatrichter aber mit diesen Umständen auseinandersetzen (BGH, Beschlüsse vom 27. Juni 2019 – 1 StR 612/18 Rn. 5 und vom 13. September 2011 – 5 StR 189/11 Rn. 19).
Rz. 7
b) Das Landgericht verneint aufgrund der beim Angeklagten vorliegenden mittelgradig ausgeprägten depressiven Störung mit Interessenverlust, Antriebslosigkeit und depressivem Affekt (UA S. 4), dass bei ihm ein langjähriger Strafvollzug trotz Fortschreitens seines Lebensalters von „erst 40” Jahren prognostisch eine Haltungsänderung bewirken würde. Hierfür bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte, insbesondere weil der Angeklagte aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur stets ein vom Beziehungspartner abhängiges „bequemes” Leben gesucht habe, das er nun auch im Strafvollzug vorfinde. Dort würde ihm jede Verantwortung für die Lebensführung abgenommen. Die Haftumstände würden den Angeklagten nicht derart beeinträchtigen, dass von einer hinreichenden Warnfunktion trotz erstmaliger Haftverbüßung ausgegangen werden könne.
Rz. 8
c) Mit diesen weitgehend spekulativen Erwägungen wird das Landgericht den Anforderungen an die Begründung der Ermessenentscheidung nach § 66 Abs. 2 StGB nicht gerecht. Bei der Beurteilung der Auswirkungen eines langjährigen Strafvollzugs auf den Angeklagten hat es mit Blick auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift nicht rechtsfehlerfrei erörtert, ob im Rahmen des Strafvollzugs dessen depressiv-dependente, auf Bequemlichkeit ausgerichtete Persönlichkeitsstruktur behandelt werden kann. Es ist zudem nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass trotz dieser nicht auf Straftaten ausgerichteten Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten ein langjähriger Strafvollzug keinerlei Auswirkung auf eine Haltungsänderung haben würde.
Rz. 9
3. Die Feststellungen sind von dem Erörterungsmangel nicht betroffen und können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen, die den bisherigen Feststellungen nicht widersprechen, sind möglich.
Unterschriften
Raum, Jäger, Bellay, Hohoff, Leplow
Fundstellen
Haufe-Index 14889971 |
StV 2022, 304 |