Verfahrensgang
LG Saarbrücken (Urteil vom 15.09.2020; Aktenzeichen 3 Ks 3/20 15 Js 221/20) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 15. September 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
- im Strafausspruch,
- soweit von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung eines früher gegen ihn ergangenen Urteils zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 2
1. Die Entscheidung des Landgerichts, von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abzusehen, hat keinen Bestand.
Rz. 3
a) Das sachverständig beratene Landgericht hat einen Hang des Angeklagten im Sinne des § 64 Satz 1 StGB verneint. Bei dem Angeklagten bestehe zwar eine deutliche Suchtgefährdung in Bezug auf den Konsum von Alkohol und Cannabis, die ohne therapeutische Intervention in eine Suchterkrankung einmünden werde. Eine Neigung zum Betäubungsmittel- und Alkoholkonsum sei bei dem Angeklagten gegeben, ein Konsum im Übermaß jedoch nicht (UA S. 47).
Rz. 4
Im Übrigen gingen die Straftaten des Angeklagten nicht auf seinen Rauschmittelkonsum zurück, sondern auf seine Persönlichkeitsproblematik. Dies verdeutliche „der Umstand der Tatbegehungen seit November 2018 und damit deutlich vor Zuspitzung der persönlichen Probleme des Angeklagten und dessen intensiviertem Rauschmittelkonsum als Bewältigungsstrategie ab November 2019” (UA S. 48).
Rz. 5
b) Diese Ausführungen stoßen auf durchgreifende rechtliche Bedenken.
Rz. 6
aa) Für die Annahme eines Hangs im Sinne des § 64 Satz 1 StGB genügt eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. April 2020 – 6 StR 28/20 mwN).
Rz. 7
Dies liegt den Urteilsgründen zufolge in Bezug auf den Angeklagten nahe. Danach begann der im August 2003 geborene Angeklagte bereits im Jahr 2016 mit dem Konsum von Rauschmitteln. Er trank zunächst am Wochenende zwei oder drei Bier und rauchte gelegentlich Joints. Ab November 2019 intensivierte er seinen Konsum und trank regelmäßig größere Mengen hochprozentigen Alkohols; zweimal musste er aufgrund einer Alkoholintoxikation stationär behandelt werden. Cannabis konsumierte er zu dieser Zeit alle zwei bis drei Tage. Zu Beginn seiner Inhaftierung litt er unter Schlafstörungen, zitterte und schwitzte vermehrt. Durch die Intensivierung seines Alkohol- und Cannabiskonsums versuchte der Angeklagte, einer bereits im Jahr 2017 bei ihm diagnostizierten und nach wie vor bestehenden Anpassungsstörung zu begegnen.
Rz. 8
Selbst wenn das Konsumverhalten des Angeklagten diagnostisch als „Problem mit Bezug auf die Lebensführung, Konsum von Alkohol und Cannabinoiden (ICD-10: Z 72.0)” einzustufen sein mag und die Kriterien einer „auf psychische Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen für die Suchtstoffe Alkohol und Cannabinoide (ICD-10, Kapitel F1) im Sinne eines schädlichen Gebrauchs oder eines Abhängigkeitssyndroms noch nicht voll erfüllt” sind (UA S. 6), belegt dies nicht nur eine – auch von der Jugendkammer bejahte – Neigung des Angeklagten zum Betäubungsmittel- und Alkoholkonsum, sondern lässt auch eine mitursächlich auf seine Konsumgewohnheiten zurückzuführende soziale Gefährdung bzw. Gefährlichkeit des noch jugendlichen Angeklagten naheliegend erscheinen.
Rz. 9
bb) Auch die Erwägung des Landgerichts, dass die Straffälligkeit des Angeklagten nicht auf seinen Rauschmittelkonsum, sondern seine Persönlichkeitsproblematik zurückgehe, erweist sich als nicht tragfähig. Der von § 64 Satz 1 StGB vorausgesetzte symptomatische Zusammenhang zwischen Hang und Anlasstat liegt schon dann vor, wenn der Hang neben anderen Ursachen zur Tat beigetragen hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2020 – 6 StR 270/20 mwN). Das war hier der Fall, weil der Angeklagte den Urteilsgründen zufolge bei der Tat jedenfalls auch rauschmittelbedingt enthemmt war (UA S. 32, 40).
Rz. 10
cc) Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen nicht von vornherein ausscheidet, muss über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt – wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 StPO) – neu verhandelt und entschieden werden. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; vgl. BGH, Urteil vom 10. April 1990 – 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5); er hat die unterbliebene Anwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen.
Rz. 11
2. Der Strafausspruch kann nicht bestehen bleiben, weil mit Blick auf § 5 Abs. 3 JGG nicht auszuschließen ist, dass das Landgericht bei Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt von einer Ahndung durch eine Jugendstrafe abgesehen hätte.
Unterschriften
Sander, König, Feilcke, Tiemann, von Schmettau
Fundstellen
Haufe-Index 14392398 |
NStZ 2021, 7 |
NStZ-RR 2021, 6 |