Leitsatz (amtlich)
Der Rechtsanwalt unterliegt in aller Regel einem unverschuldeten Rechtsirrtum, wenn er die Berufung in einer Wohnungseigentumssache aufgrund einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung nicht bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Berufungsgericht, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Berufungsgericht einlegt.
Normenkette
GVG § 72 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Dresden (Beschluss vom 26.01.2016; Aktenzeichen 2 S 606/15) |
AG Bautzen (Urteil vom 09.10.2015; Aktenzeichen 22 C 661/15 WEG) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des LG Dresden vom 26.1.2016 aufgehoben.
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Parteien sind Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. In dem Garten sind den Klägern einerseits und der Beklagten andererseits Sondernutzungsrechte an angrenzenden Flächen zugewiesen. Auf der Sondernutzungsfläche der Beklagten befindet sich an der gemeinsamen Grenze eine 3,50m hohe Thujenhecke. Mit der vor dem AG Bautzen erhobenen Klage verlangen die Kläger - soweit von Interesse - den Rückschnitt der Hecke auf 1,80m nebst vorgerichtlichen Anwaltskosten. Nachdem das Verfahren zunächst als allgemeine Zivilsache angesehen worden ist, ist die Abgabe an die für Wohnungseigentumssachen zuständige Amtsrichterin erfolgt, die der Klage stattgegeben hat. Das Urteil ist der Beklagten am 12.10.2015 zugestellt worden. In der Rechtsmittelbelehrung wird das LG Görlitz als zuständiges Berufungsgericht bezeichnet.
Rz. 2
Mit einem am 12.11.2015 eingegangenen Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten Berufung bei dem LG Görlitz eingelegt und am 14.12.2015, einem Montag, die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Nach einem am 15.12.2015 erfolgten gerichtlichen Hinweis auf die Unzuständigkeit des LG Görlitz hat er am 21.12.2015 Berufung bei dem LG Dresden als dem gem. § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG für Wohnungseigentumssachen zuständigen Berufungsgericht eingelegt. Zugleich hat er das Rechtsmittel begründet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das LG Dresden hat mit dem angefochtenen Beschluss den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 3
Das Berufungsgericht meint, Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, weil der Beklagten ein schuldhafter Rechtsirrtum ihres Prozessbevollmächtigten zuzurechnen sei. Auf die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung des AG habe dieser nicht vertrauen dürfen. Angesichts der Tatsache, dass § 72 Abs. 2 GVG eine besondere Zuständigkeit für Berufungen in Wohnungseigentumssachen vorsehe, habe es nahegelegen, die Zuständigkeit des LG Görlitz zu überprüfen. Die Tatsache, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht sei, entschuldige ihn nicht. Im Gegenteil habe ein Rechtsanwalt in einem Rechtsgebiet, in dem er sich nicht vertieft auskenne, besondere Sorgfalt walten zu lassen.
III.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 5
1. Sie ist gem. §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Ein Zulassungsgrund ist gegeben, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung i.S.v. § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Das Berufungsgericht hat der Beklagten den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Dies verletzt ihren Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. BVerfGE 77, 275, 284) und eröffnet die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO (vgl. BGH, Beschl. v. 23.10.2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, 368 m.w.N.).
Rz. 6
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch in der Sache begründet.
Rz. 7
a) Die bei dem LG Görlitz eingelegte Berufung hat die Frist des § 517 ZPO nicht gewahrt. Zuständiges Berufungsgericht ist nämlich gem. § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG das LG Dresden, weil es sich um eine Streitigkeit zwischen zwei Sondernutzungsberechtigten um den Gebrauch des gemeinschaftlichen Eigentums und damit um eine Wohnungseigentumssache gem. § 43 Nr. 1 WEG handelt.
Rz. 8
b) Die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung des AG hat dazu geführt, dass die Beklagte die Berufungsfrist ohne ihr Verschulden versäumt hat. Aus diesem Grund ist ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowohl gegen die Versäumung der Berufungs- als auch der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren (§ 233 ZPO).
Rz. 9
aa) Die Wiedereinsetzung setzt zunächst voraus, dass die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung kausal für die Versäumung der Fristen war (vgl. BGH, Beschl. v. 12.1.2012 - V ZB 198/11, V ZB 199/11, NJW 2012, 2443 Rz. 8 m.w.N.). Daran bestehen nach dem tatsächlichen Ablauf keine Zweifel, weil der Prozessbevollmächtigte der Beklagten die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung befolgt hat.
Rz. 10
bb) Die Beklagte hat die Fristen unverschuldet versäumt.
Rz. 11
(1) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass durch eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung ein Vertrauenstatbestand geschaffen wird, der zur Wiedereinsetzung wegen schuldloser Fristversäumnis berechtigt, wenn die Belehrung einen unvermeidbaren oder zumindest entschuldbaren Rechtsirrtum auf Seiten der Partei hervorruft und die Fristversäumnis darauf beruht. Auch eine anwaltlich vertretene Partei darf sich im Grundsatz auf die Richtigkeit einer Belehrung durch das Gericht verlassen, ohne dass es darauf ankommt, ob diese gesetzlich vorgeschrieben ist oder nicht (vgl. zum Ganzen BGH, Beschl. v. 12.1.2012 - V ZB 198/11, V ZB 199/11, NJW 2012, 2443 Rz. 10 m.w.N.; s. auch Senat, Beschl. v. 12.10.2016 - V ZB 178/15, juris Rz. 11).
Rz. 12
(2) Die Anforderungen an einen entschuldbaren Rechtsirrtum überspannt das Berufungsgericht, indem es ihn mit der Begründung verneint, eine eigene Rechtsprüfung des Prozessbevollmächtigten der Beklagten habe aufgrund der besonderen Zuständigkeitsregelung in § 72 Abs. 2 GVG nahegelegen. Damit stützt es seine Entscheidung der Sache nach ausschließlich auf die Vermeidbarkeit des Rechtsirrtums und lässt außer Acht, dass ein vermeidbarer Rechtsirrtum nach der von ihm selbst wiedergegebenen höchstrichterlichen Rechtsprechung schon dann entschuldbar ist, wenn die Rechtsmittelbelehrung nicht offenkundig fehlerhaft und der durch sie verursachte Irrtum nachvollziehbar ist (vgl. BGH, Beschl. v. 12.1.2012 - V ZB 198/11, V ZB 199/11, NJW 2012, 2443 Rz. 11 m.w.N.). Die entscheidende Frage, ob die Rechtsmittelbelehrung offenkundig fehlerhaft war, erörtert das Berufungsgericht nicht. Dies ist dann anzunehmen, wenn die Rechtsmittelbelehrung - ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand - nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte (vgl. Senat, Beschl. v. 12.10.2016 - V ZB 178/15, juris Rz. 12 m.w.N.); unter dieser Voraussetzung ist die Vermutung des fehlenden Verschuldens gem. § 233 Satz 2 ZPO widerlegt (vgl. dazu MünchKomm/ZPO/Stackmann, 5. Aufl., § 232 Rz. 13). Hiernach bemisst sich, ob der Rechtsirrtum nachvollziehbar ist oder nicht.
Rz. 13
(3) Nach diesem Maßstab unterliegt der Rechtsanwalt in aller Regel - und auch hier - einem unverschuldeten Rechtsirrtum, wenn er die Berufung in einer Wohnungseigentumssache aufgrund einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung nicht bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Berufungsgericht, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Berufungsgericht einlegt. Denn eine solche Rechtsmittelbelehrung ist regelmäßig nicht offenkundig in einer Weise fehlerhaft, dass sie - ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand - nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermag.
Rz. 14
(a) Dies ergibt sich zum einen aus § 72 Abs. 2 Satz 2 GVG. Hiernach ist nicht zwingend das in § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG genannte LG am Sitz des OLG für Berufungen in Wohnungseigentumssachen zuständig, weil die Länder durch Rechtsverordnung ein anderes LG bestimmen können; der Rechtsanwalt darf grundsätzlich davon ausgehen, dass dem AG bekannt ist, bei welchem LG die Zuständigkeitskonzentration eingerichtet worden ist, und dass es hierüber zutreffend belehrt.
Rz. 15
(b) Zum anderen fehlt es auch deshalb an der Offenkundigkeit, weil die Zuständigkeitskonzentration nicht schon dadurch eintritt, dass - wie hier - der für Wohnungseigentumssachen zuständige Amtsrichter entschieden hat; maßgeblich ist allein, ob es sich um eine Streitigkeit i.S.v. § 43 Nr. 1 bis 4 oder Nr. 6 WEG handelt (näher BGH, Beschl. v. 12.11.2015 - V ZB 36/15, ZMR 2016, 247 Rz. 10). Daher hat der Senat die Wiedereinsetzung in einem Fall versagt, in dem der für allgemeine Zivilsachen zuständige Amtsrichter entschieden und der Rechtsanwalt die zutreffende Rechtsmittelbelehrung, wonach die Berufung bei dem gem. § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Berufungsgericht einzulegen war, nicht befolgt hatte (BGH, Beschl. v. 12.11.2015 - V ZB 36/15, ZMR 2016, 247 Rz. 10). Im Umkehrschluss darf der Rechtsanwalt in aller Regel darauf vertrauen, dass die der Rechtsmittelbelehrung zugrunde liegende Einordnung der Sache seitens des AG als Wohnungseigentums- oder als allgemeine Zivilsache zutreffend ist.
Rz. 16
cc) Die weiteren Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand liegen vor.
Rz. 17
3. Der die Berufung verwerfende Beschluss wird mit der Wiedereinsetzung gegenstandslos (BGH, Beschl. v. 9.2.2005 - XII ZB 225/04, FamRZ 2005, 791, 792). Seine Aufhebung erfolgt nur klarstellend.
Fundstellen
Haufe-Index 10803456 |
DB 2017, 2353 |
NJW 2017, 3002 |
NJW 2017, 8 |
JurBüro 2017, 447 |
NZG 2017, 1386 |
NZM 2017, 481 |
ZAP 2017, 677 |
ZMR 2017, 13 |
ZMR 2017, 903 |
ZfIR 2017, 428 |
JZ 2017, 450 |
MDR 2017, 841 |
MDR 2017, 866 |
WuM 2017, 358 |
ZWE 2017, 293 |
MietRB 2017, 191 |
NJW-Spezial 2017, 414 |
IWR 2017, 52 |
Mitt. 2017, 374 |