Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 15.01.2004) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 15. Januar 2004 nach § 349 Abs. 4 StPO dahin abgeändert, daß der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt wird.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens und die dem Angeklagten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren räuberischen Diebstahls (Einsatzstrafe: zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe), räuberischen Diebstahls in zwei Fällen (Einzelfreiheitsstrafen von jeweils einem Jahr und zehn Monaten), Diebstahls und vorsätzlicher Körperverletzung (Einzelfreiheitsstrafen von jeweils sechs Monaten) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und hat die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die – im übrigen unbegründete – Revision des Angeklagten führt mit einer Verfahrensrüge zu einer Reduzierung der Gesamtfreiheitsstrafe.
1. Zutreffend rügt der Angeklagte einen Verstoß gegen sein Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen einer Verfahrensverständigung aufgrund folgender Verfahrensvorgänge:
Am ersten Hauptverhandlungstag wurde im Einvernehmen mit Gericht, Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagtem die – für sich nach den Grundsätzen von BGHSt 43, 195 nicht durchgreifend bedenkliche – Verständigung gefunden, daß der Angeklagte im Fall eines Geständnisses neben der Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als vier Jahren verurteilt werden solle. Aus der Protokollierung des von der Strafkammer beratenen Verständigungsergebnisses in Verbindung mit der unmittelbar zuvor in die Sitzungsniederschrift aufgenommenen Antragsankündigung des Staatsanwalts (die seinen später bis zum ersten Schlußvortrag gestellten Anträgen entsprach) entnimmt der Senat – entsprechend dem Revisionsvorbringen, dem Gericht und Staatsanwaltschaft nicht entgegengetreten sind – folgende weitere Voraussetzungen jener gefundenen Verständigung: Zum einen sollte – wie später auch erfolgt – wegen 23 weiterer angeklagter (einfacher) Diebstähle das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt werden; zum anderen sollten – wie später nicht erfolgt – in die Gesamtstrafe die Einzelstrafen aus einer anderen rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten durch das Amtsgericht Tiergarten in Berlin wegen Diebstahls in sechs Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung zu zehn Monaten Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen werden.
Der Angeklagte war im Anschluß an diese Verständigung hinsichtlich der nicht eingestellten abgeurteilten Taten „in vollem Umfang glaubhaft” geständig (UA S. 5). Staatsanwalt und Verteidiger plädierten übereinstimmend im Sinne der Verständigung, mit einem der zugesagten Obergrenze entsprechenden Gesamtstrafantrag. Erst jetzt erkannte die Strafkammer, daß die in Aussicht genommene Einbeziehung der Strafen aus der Vorverurteilung nicht zulässig sei. (Diese – auch dem Urteil zugrunde liegende – Auffassung ist sachlichrechtlich zutreffend, weil die hier abgeurteilten Taten nach dem Urteil des Amtsgerichts in der anderen Sache begangen worden waren; möglicherweise hatte die – freilich durch Berufungsrücknahme erfolgte und damit für § 55 Abs. 1 StGB unmaßgebliche – weit spätere Rechtskraft jenes Urteils zunächst zu der irrtümlichen abweichenden Beurteilung der Einbeziehungsfrage im Rahmen der Verständigung geführt.). Hierauf wurde der Angeklagte – dessen Verteidiger auf Beibehaltung der Verständigung beharrte – im Rahmen einer rechtlichen Erörterung hingewiesen. Das Landgericht verurteilte den Angeklagten nunmehr – dem hierauf geänderten Antrag des Staatsanwalts folgend – ohne die in Aussicht genommene (fehlerhafte) Einbeziehung zu einer Gesamtstrafe in uneingeschränkter Höhe der – freilich noch unter Berücksichtigung der vorgesehenen Einbeziehung – zugesagten Obergrenze.
Hierin sieht die Revision – wenngleich mit teilweise unzutreffenden rechtlichen Überlegungen und Folgerungen – im Ergebnis mit Recht einen Verstoß gegen das aus Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und aus Art. 6 Abs. 1 MRK abzuleitende Gebot fairer Verfahrensgestaltung.
2. Allerdings trifft die Prämisse der Verteidigung nicht zu, die Unmöglichkeit der zunächst vorgesehenen Einbeziehung sei Folge der Teileinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO gewesen. Sofern die eingestellten Vorwürfe vor dem rechtskräftigen Amtsgerichtsurteil begangene Taten betrafen, hätte dies im Falle ihrer Aburteilung zur Bildung zweier Gesamtstrafen geführt; eine Einbeziehung der Strafen für nach der amtsgerichtlichen Verurteilung begangene Taten war nach § 55 Abs. 1 StGB rechtlich jedenfalls ausgeschlossen (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 55 Rdn. 9).
Auch war das Landgericht nicht etwa verpflichtet – im Gegenteil aus Rechtsgründen gehindert –, eine sachlichrechtlich fehlerhafte nachträgliche Gesamtstrafbildung allein aufgrund der insoweit irrtümlichen Zusage vorzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 2003 – 3 StR 257/03). Es mußte allerdings nach Aufdeckung des Irrtums ein Hinweis an den Angeklagten erfolgen, damit dieser sich im Rahmen der weiteren Hauptverhandlung unter Berücksichtigung der nicht mehr einhaltbaren Zusage infolge einer insoweit „gescheiterten Absprache” umfassend sachgerecht verteidigen konnte (vgl. BGHSt 43, 195, 210; BGHR StPO vor § 1/faires Verfahren – Vereinbarung 13). Dem hat das Landgericht zunächst genügt. Es ist nicht dem Gericht anzulasten, daß der Verteidiger danach auf Aufrechterhaltung der irrtumsgeprägten Verständigung bestehen wollte, anstatt sachgerecht auf den Hinweis zu reagieren, indem er etwa eine weitergehende Verteidigung in tatsächlicher Hinsicht in Erwägung zog oder – näherliegend – auf die gebotene Bildung einer niedrigeren Gesamtstrafe ohne Einbeziehung zu dringen suchte.
3. Gleichwohl begründet die im Urteil vorgenommene Gesamtstrafbildung einen Fairneßverstoß. Das Landgericht setzte sich damit nämlich – was die Revision prinzipiell zutreffend sieht – in nicht nachzuvollziehender Weise in Widerspruch zu seinen eigenen im Rahmen der Verständigung gefundenen und bekanntgegebenen Rechtsfolgenbewertungen (vgl. BGH NJW 2004, 1396, 1397 f., zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt; Weider NStZ 2002, 174, 176).
Anhaltspunkte, daß das bei der Absprache zugesagte Strafmaß in irgendeiner Weise zum Vorteil oder Nachteil des Angeklagten gegen Grundsätze gerechter Straffindung verstoßen, etwa unvertretbar hoch oder unvertretbar niedrig gewesen wäre, sind nicht ersichtlich; das Ergebnis war lediglich in der vorgesehenen Gesamtstrafzusammenfassung rechtlich nicht erreichbar. Einen sonst gegebenen tragfähigen Grund, von den mit der Verständigung gefundenen, bekanntgegebenen und vertretbaren Straffindungsgrundsätzen abzuweichen, hat das Landgericht nicht bezeichnet; er kann insbesondere nicht etwa in der ebenfalls erst nachträglich bemerkten Qualifikation eines räuberischen Diebstahls nach § 250 Abs. 2 StGB liegen, die auch den Staatsanwalt sachgerechterweise nicht etwa bewogen hat, von seinem schon im ersten Schlußvortrag gestellten, dem Urteil entsprechenden Einsatzstrafantrag abzugehen.
Danach mußte aber aus sich aufdrängenden Gerechtigkeitserwägungen eine Gesamtstrafe ohne Einbeziehung von sieben rechtskräftigen Einzelstrafen, die ihrerseits auf zehn Monate Gesamtfreiheitsstrafe zurückgeführt waren, geringer ausfallen als eine solche mit deren Einbeziehung, wie sie der Absprache zugrunde gelegen hatte – auch wenn die Gesamtstrafe in beiden Alternativen gleichermaßen nach § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB durch Erhöhung der Einsatzstrafe zu bilden ist. Anderes wäre nur in einem – hier nicht vorliegenden – Ausnahmefall in Betracht gekommen, in dem eine extrem hohe Einsatzstrafe oder auch eine Vielzahl sehr hoher Einzelstrafen im zweiten Tatkomplex eine unvermindert hohe Gesamtstrafe allein für den zweiten Tatkomplex nach sich ziehen mußte. Andererseits lag auf der Hand, daß eine Gesamtstrafe für Taten, die nach mittlerweile rechtskräftiger Aburteilung anderer Taten begangen wurden, in der Summe mit der Gesamtstrafe für jene Taten merklich strenger auszufallen hatte als eine etwa zulässige einheitliche Gesamtstrafbildung für sämtliche Taten, die sich eher am Grundsatz der Zusammenziehung zu orientieren hätte.
Somit war das Landgericht nicht etwa gehalten, die Gesamtstrafe ohne die ursprünglich vorgesehene Einbeziehung nunmehr so zu bilden, daß das Gesamtstrafübel in der Summe mit der rechtskräftigen Gesamtstrafe die Obergrenze nicht überschritt, die im Rahmen der insoweit irrtumsgeprägten Verständigung bezeichnet worden war. Nach dem die Gesamtstrafbildung prägenden Prinzip der Strafzusammenziehung war vielmehr eine hieraus rechnerisch folgende Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten – eben wegen des notwendig geringeren Zusammenziehungseffekts bei gesonderter Gesamtstrafbildung – jedenfalls zu überschreiten. Das Maß der Überschreitung zu bestimmen, hätte dem Tatgericht unter Bedachtnahme auf den bei der ursprünglichen Zusage vorgesehenen Maßstab oblegen. Jedenfalls war wegen der Erfassung von erheblich weniger Taten durch die nunmehr – neben der bestehenbleibenden rechtskräftigen zehnmonatigen Gesamtfreiheitsstrafe – zu bildende Gesamtfreiheitsstrafe das ursprünglich vorgesehene Maß von vier Jahren deutlich zu unterschreiten. Das hat das Landgericht mit der Bemessung der Gesamtstrafe in voller Höhe der unter anderer Prämisse zugesagten Höchstgrenze verfahrensfehlerhaft verabsäumt.
4. Der Verfahrensfehler gäbe grundsätzlich Anlaß zur Aufhebung und Zurückverweisung. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob sich eine derartige Entscheidung auf die Aufhebung der von dem Verfahrensfehler unmittelbar betroffenen Gesamtstrafe zu beschränken oder zur Eröffnung effektiver Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten in der neuen Hauptverhandlung weiterzugehen hätte (vgl. BGHR StPO vor § 1/faires Verfahren – Vereinbarung 13), ob etwa gar zur Eröffnung anderweitiger Verteidigungsmöglichkeiten nach fehlgeschlagener Absprache – auf welche der Verteidiger freilich selbst nicht gedrungen hat – bis hin zur Hinterfragung der Verwertbarkeit des nach der ursprünglich gefundenen, dann fehlgeschlagenen Verständigung abgelegten Geständnisses (vgl. Kuckein in Festschrift für Lutz Meyer-Goßner 2001 S. 63, 68 ff.; Schlothauer StV 2003, 481 ff.) eine vollständige Urteilsaufhebung geboten oder jedenfalls angezeigt wäre. Denn hier liegt ein Sonderfall vor, in dem der Senat auf den Fairneßverstoß ausnahmsweise mit einer Durchentscheidung in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO zu reagieren hat.
Dieser Sonderfall wird dadurch begründet, daß die Verletzung der Grundsätze der Fairneß in einem Verfahren geschehen ist, in dem es zuvor schon zu gravierenden, von der Justiz zu verantwortenden Verfahrensverzögerungen gekommen war; hierauf hatte das Landgericht auch – für sich vollkommen angemessen (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 16) – durch eine bezifferte Verminderung der Einzelstrafen (mit dargelegter Auswirkung auf die Gesamtstrafe) nach präziser Feststellung der Verzögerung (UA S. 6 ff.) reagiert. Danach ist aber hier sogar eine doppelte Verletzung von Grundsätzen aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK festzustellen. Die Bedeutung dieser Norm gebietet dem Revisionsgericht bei dieser besonderen Sachlage, eine Entscheidung zu finden, durch die bei möglichst optimaler Wahrung der für den Angeklagten streitenden Fairneßgrundsätze eine weitergehende Verfahrensverzögerung vermieden wird (vgl. zur Durchentscheidung BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 10; BGH wistra 1999, 261; 2001, 57).
Danach bemißt der Senat die Gesamtfreiheitsstrafe selbst nach den dargelegten Grundsätzen (oben 3) so, wie sie das Tatgericht unter Berücksichtigung der weiterhin beachtlichen Maßstäbe aus seinem gescheiterten Verständigungsvorschlag nach Maßgabe der geänderten Sachlage (Unmöglichkeit nachträglicher Gesamtstrafbildung) für den Angeklagten günstigstenfalls hätte bemessen können. Das ist unter Bedacht auf den entfallenen weitergehenden Konzentrationseffekt einer einheitlichen Gesamtstrafbildung eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten, welche – gemessen an der ursprünglich zugesagten, vom Landgericht für angemessen gehaltenen Obergrenze einer einheitlichen Gesamtstrafe – die mangels möglicher einheitlicher Gesamtstrafbildung gebotene Erhöhung des Gesamtstrafübels mit nur einem Monat (vgl. § 39 StGB) so niedrig wie möglich hält. Günstiger hätte der Angeklagte, der eine weitergehende neue Verteidigung in der Sache nach Bekanntwerden des Scheiterns der Absprache vor dem Tatgericht nicht erstrebt hat, vom Landgericht bei voller Wahrung gebotener Verfahrensfairneß nicht gestellt werden können. Eingedenk der bisherigen Verfahrensverzögerungen stellt ihn der Senat nunmehr, um das Verfahren sofort zum Abschluß zu bringen, von sich aus so, ohne nochmals tatgerichtliches Ermessen zu eröffnen, das auch die Bildung einer höheren – nicht indes einer noch niedrigeren – Gesamtstrafe gestattet hätte.
5. Der hieraus resultierende Teilerfolg der Revision des Angeklagten erfüllt sein eigentliches Rechtsmittelziel so weitgehend, daß eine vollständige Überbürdung der Kosten und Auslagen im Revisionsverfahren auf die Staatskasse nach § 473 Abs. 4 StPO (vgl. Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl. § 473 Rdn. 27 f.) angemessen erscheint.
Unterschriften
Harms, Basdorf, Raum, Brause, Schaal
Fundstellen
Haufe-Index 2558292 |
NStZ 2005, 115 |
DAR 2005, 243 |
StV 2004, 471 |
StraFo 2004, 313 |