Verfahrensgang
LG Wiesbaden (Urteil vom 29.01.2020; Aktenzeichen 4434 Js 39905/18 1 KS) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 29. Januar 2020, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben
- im Strafausspruch und
- soweit das Landgericht von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels sowie die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Rz. 3
2. Demgegenüber hält der Strafausspruch rechtlicher Prüfung nicht stand.
Rz. 4
a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. In die Strafzumessungsentscheidung des Tatrichters kann das Revisionsgericht nur eingreifen, wenn diese Rechtsfehler aufweist, weil die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen hat oder sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349).
Rz. 5
Bei der Darstellung seiner Strafzumessungserwägung im Urteil ist das Tatgericht nur gehalten, die bestimmenden Zumessungsgründe mitzuteilen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO). Eine erschöpfende Aufzählung aller für die Strafzumessungsentscheidung relevanten Gesichtspunkte ist dagegen weder gesetzlich vorgeschrieben noch in der Praxis möglich (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 14. März 2018 – 2 StR 416/18, NStZ 2019, 138, 139; BGH, Urteil vom 2. August 2012 – 3 StR 132/12, NStZ-RR 2012, 336, 337). Ein der Strafzumessung in sachlich-rechtlicher Hinsicht anhaftender Rechtsfehler liegt jedoch dann vor, wenn das Tatgericht bei seiner Zumessungsentscheidung einen Gesichtspunkt, der nach den Gegebenheiten des Einzelfalls als bestimmender Strafzumessungsgrund in Betracht kommt, nicht erkennbar erwogen hat (vgl. BGH, Urteile vom 27. Februar 2020 – 4 StR 552/19, juris Rn. 10, vom 4. April 2019 – 3 StR 31/19, juris Rn. 15; Senat, Urteil vom 14. März 2018 – 2 StR 416/18, aaO).
Rz. 6
b) Diesen Anforderungen wird die Strafzumessungsentscheidung des angefochtenen Urteils nicht in jeder Hinsicht gerecht. Sie erweist sich als lückenhaft.
Rz. 7
aa) Die Strafkammer hat einerseits rechtsfehlerfrei zum Nachteil des Angeklagten unter anderem dessen strafrechtliche Vorbelastung aufgrund einer Verurteilung vom 1. Juni 2017 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten sowie die Begehung der neuerlichen Tat während der bis zum 31. Mai 2020 für die vorgenannte Verurteilung laufenden Bewährungszeit berücksichtigt.
Rz. 8
bb) Sie hätte indes mit Rücksicht auf die Wirkungen der Strafe, die für das künftige Leben des Angeklagten zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), angesichts des drohenden Widerrufs der Strafaussetzung einer erheblichen Restfreiheitsstrafe auch das den Angeklagten treffende Gesamtstrafübel in den Blick nehmen und erörtern müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 – 5 StR 478/14, juris Rn. 3; Senat, Urteil vom 22. August 2012 – 2 StR 235/12, juris Rn. 21; BGH, Beschlüsse vom 20. Juli 2009 – 5 StR 243/09, NStZ-RR 2009, 367, vom 9. November 1995 – 4 StR 650/95, BGHSt 41, 310, 314; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis für Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 740; MüKo-StPO/Wenske, § 267 Rn. 395). Zwar hatte der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen in dem zum Widerruf anstehenden Verfahren in der Zeit vom 17. Dezember 2016 bis zum 1. Juni 2017 Untersuchungshaft erlitten. Gleichwohl wird die Gesamtverbüßungsdauer durch den drohenden Bewährungswiderruf der verbleibenden Reststrafe von mehr als einem Jahr hier erheblich verlängert. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Strafausspruchs.
Rz. 9
3. Auch die Entscheidung des Landgerichts, von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abzusehen, erweist sich als rechtsfehlerhaft.
Rz. 10
a) Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen begann der Angeklagte bereits in der Schulzeit Alkohol zu trinken und Amphetamine zur Leistungssteigerung zu konsumieren. Er rauchte gelegentlich Marihuana, insbesondere um besser schlafen zu können. Ab 2017 konsumierte er weniger Alkohol, nahm jedoch zur Leistungssteigerung weiterhin Amphetamine. Gelegentlich konsumierte er auch Kokain. 2017 nahm der Angeklagte ebenfalls vermehrt und täglich Anabolika zu sich. Es handelte sich dabei um ca. 1.000 mg Testosteron und 800 mg Boldenon pro Woche, sowie 75 mg Trenbolon und 50 mg Vinistrol täglich.
Rz. 11
Das Landgericht hat – dem Sachverständigen für Psychiatrie und Psychotherapie folgend – die Anordnung einer Unterbringung gemäß § 64 StGB abgelehnt, weil bei dem Angeklagten kein Hang im Sinne der Vorschrift vorliege. Dieser setze „eine den Täter treibende oder beherrschende Neigung, Rauschmittel immer wieder in einem Umfang zu konsumieren, durch den die Gesundheits-, Arbeits- und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werde” voraus. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt, weil der Angeklagte weder körperlich abhängig gewesen sei, noch sich der Konsum auf seine soziale Stellung und Leistungs- bzw. Arbeitsfähigkeit ausgewirkt habe.
Rz. 12
b) Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht von einem zu engen Verständnis eines Hangs im Sinne des § 64 Satz 1 StGB ausgegangen ist.
Rz. 13
aa) Für die Annahme eines solchen Hangs ist eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende und durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, ausreichend. Dass diese Neigung bereits den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht hat, ist nicht erforderlich (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. April 2019 – 3 StR 53/19, juris Rn. 11; vom 10. November 2015 – 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113 f., jew. mwN). Das Fehlen von ausgeprägten Entzugserscheinungen steht der Annahme eines Hangs nicht notwendig entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. April 2012 – 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271 mwN). Wenngleich erheblichen Beeinträchtigungen der Gesundheit oder der Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hangs zukommt und diese in der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen werden, schließt deren Fehlen jedoch die Annahme eines Hangs nicht notwendigerweise aus (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 2. April 2019 – 3 StR 53/19, juris Rn. 11; vom 10. November 2015 – 1 StR 482/15, aaO).
Rz. 14
bb) Diesen Maßstab hat das Landgericht bereits verfehlt, wenn es davon ausgeht, ein Hang im Sinne des § 64 StGB erfordere eine den Täter treibende oder beherrschende Neigung, Rauschmittel immer wieder in einem Umfang zu konsumieren, durch den die Gesundheits-, Arbeits- und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werde. Auch die weiteren Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass es dem Umstand, dass der Sachverständige eine körperliche Abhängigkeit verneint hat und sich der dauerhafte Drogen- und Alkoholkonsum des Angeklagten nicht auf dessen soziale Stellung sowie dessen Leistungs- bzw. Arbeitsfähigkeit ausgewirkt hat, eine den aufgezeigten Vorgaben nicht entsprechende Bedeutung beigemessen hat.
Rz. 15
c) Da der Gewalttat des Angeklagten ein erheblicher Alkoholkonsum (BAK mindestens 1,73 ‰) vorausging und die dem Angeklagten entnommene Blutprobe verschiedene Abbauprodukte von Betäubungsmitteln sowie – nach Darstellung des Sachverständigen für Sportmedizin und Leistungsphysiologie – vergleichsweise hohe Mengen von Anabolika enthielt, die zu verstärkter Aggressivität und erhöhter Reizbarkeit führen, liegt auch die Annahme eines symptomatischen Zusammenhangs nicht fern. Angesichts der unter dem Einfluss von Alkohol sowie der weiteren genannten Substanzen begangenen massiven Gewalttat erscheint eine hangbedingte Gefährlichkeit nicht ausgeschlossen. Den Urteilsgründen lassen sich schließlich auch keine Umstände entnehmen, welche die Prognose zuließen, dass eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB nicht bestehe.
Rz. 16
d) Über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss deshalb wiederum unter Hinzuziehung eines – naheliegenderweise anderen – psychiatrischen Sachverständigen (§ 246a StPO) neu verhandelt und entschieden werden. Dem steht nicht entgegen, dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2007 – 5 StR 485/07, NStZ-RR 2008, 107; Urteil vom 10. April 1990 – 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 9). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen.
Unterschriften
Franke, Eschelbach, Meyberg, Grube, Schmidt
Fundstellen
Haufe-Index 14207387 |
NStZ-RR 2021, 103 |
NStZ-RR 2021, 6 |
StV 2021, 20 |
StV 2021, 354 |