Verfahrensgang
LG Gera (Urteil vom 13.03.2020; Aktenzeichen 450 Js 35299/17 3 KLs) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Gera vom 13. März 2020 wird
- das Urteil aufgehoben und das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte in den Fällen II.5, II.6 und II.8 der Urteilsgründe verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zu Last;
das vorgenannte Urteil
aa) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen schuldig ist,
bb) im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben, jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels sowie die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176a Abs. 1 Nr. 1, § 176 Abs. 1 StGB i.d.F. vom 26. Januar 1998) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Soweit das Landgericht den Angeklagten in den Fällen II.5, II.6 und II.8 der Urteilsgründe wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt hat, fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung einer wirksamen Anklageerhebung und demzufolge auch an der eines Eröffnungsbeschlusses, so dass das Verfahren in diesen Fällen gemäß § 206a Abs. 1, § 354 Abs. 1 analog StPO auf Kosten der Staatskasse (§ 467 Abs. 1 StPO) einzustellen ist.
Rz. 3
a) Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten, nach Beschränkung gemäß § 154 Abs. 1 StPO, mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage zur Last gelegt, den am 22. Oktober 1987 geborenen Nebenkläger zwischen Juni 1999 und dem 28. Dezember 2000 sechsmal in seiner damaligen Wohnung in H. und zwischen dem 29. Dezember 2000 und dem 21. Oktober 2001 weitere dreimal in seiner Wohnung in S. sexuell missbraucht zu haben. Konkret soll der Angeklagte, soweit hier von Bedeutung, in der Wohnung in H. unter anderem an drei verschiedenen, im Einzelnen nicht mehr bestimmbaren Tagen während des dargestellten Tatzeitraumes den ungeschützten Analverkehr an dem elf- bis dreizehnjährigen Nebenkläger (Fall II.4 der Anklage) und bei weiterer Gelegenheit den Oralverkehr durchgeführt haben (Fall II.5 der Anklage). An einem anderen Tag soll er sich von dem Kind oral befriedigt haben lassen (Fall II.6 der Anklage). In seiner Wohnung in S. soll der Angeklagte sowohl im Schlaf- wie auch im Gästezimmer den Nebenkläger in mindestens drei Fällen sexuell missbraucht haben, wobei er wiederum einmal den ungeschützten Analverkehr an dem Zeugen (Fall II.7 der Anklage) und den Oralverkehr durchgeführt haben soll (Fall II.8 der Anklage). Ein anderes Mal soll sich der Angeklagte wiederum von dem Kind oral befriedigt haben lassen (Fall II.9 der Anklage).
Rz. 4
b) Das Landgericht hat hierzu – unter Beschränkung nach § 154 Abs. 2 StPO hinsichtlich des Tatvorwurfs im Fall II.9 der Anklage – folgende Feststellungen getroffen:
Rz. 5
aa) Im Zeitraum ab Dezember 1999 bis zum 28. Dezember 2000 kam es an drei verschiedenen, nicht mehr bestimmbaren Tagen zu Missbrauchshandlungen gegenüber dem zwölf- bzw. dreizehnjährigen Nebenkläger. Dabei führte der Angeklagte in drei Fällen den ungeschützten Analverkehr mit dem Nebenkläger nach vorherigen Playstation-Spielen und Kabbeln auf der Couch im Wohnzimmer der Wohnung in H. durch (Fälle II.4 bis II.6 der Urteilsgründe).
Rz. 6
bb) Im Sommer 2001 führte der Angeklagte an einem Freitag im Bett im Schlafzimmer des Hauses in S. den Analverkehr mit dem Nebenkläger bis zum Samenerguss durch (Fall II.7 der Urteilsgründe). Am darauffolgenden Samstag oder Sonntag befanden sich der Angeklagte und der Nebenkläger im Gästezimmer im ersten Obergeschoss des Hauses in S.. Hier führte der Angeklagte seinen Penis von hinten in den Anus des Zeugen ein. Kurz darauf erschien die Zeugin M. an der verschlossenen Tür, worauf der Angeklagte seinen Penis aus dem Anus des Zeugen zog. Der Angeklagte und der Nebenkläger verhielten sich still, um die Zeugin über ihre Anwesenheit in dem Zimmer zu täuschen. Anschließend schlichen beide aus dem Haus und taten so, als ob sie außer Haus unterwegs gewesen seien (Fall II.8 der Urteilsgründe).
Rz. 7
c) Die auf diese Feststellung gestützte Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in den Fällen II.5, II.6 und II.8 der Urteilsgründe hat keinen Bestand.
Rz. 8
aa) Zwar genügt die Anklageschrift ihrer Umgrenzungsfunktion, da sie den Verfahrensgegenstand durch den zeitlichen Rahmen der Tathandlungen, die Nennung der Höchstzahl der innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, das Tatopfer und die wesentlichen Grundzüge des jeweiligen Geschehens bezeichnet (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Februar 2018 – 2 StR 390/17, juris Rn. 14 f.; BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2016 – 3 StR 186/16, juris Rn. 10, jew. mwN).
Rz. 9
bb) Jedoch weichen die in der Hauptverhandlung festgestellten Tatmodalitäten in diesen drei Fällen in wesentlichen Punkten von der Anklage ab, so dass es sich nicht mehr um die von ihr umfassten Tatvorwürfe handelt.
Rz. 10
(1) In den Fällen, in denen einzelne Sexualtaten einer Tatserie nur hinsichtlich des Tatorts und der Begehungsweise, nicht aber hinsichtlich der Tatzeiten näher bestimmt werden können, erlangt die Art und Weise der Tatbestandsverwirklichung maßgebliche Bedeutung für die Individualisierung der zum Gegenstand einer Anklage und später des Eröffnungsbeschlusses gemachten Taten (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2018 – 2 StR 390/17, juris Rn. 19; BGH, Beschlüsse vom 18. Oktober 2016 – 3 StR 186/16, juris Rn. 10; vom 27. November 2011 – 3 StR 255/11, NStZ 2012, 168, 169; Urteil vom 11. Januar 1994 – 5 StR 682/93, BGHSt 40, 44, 46).
Rz. 11
(2) Hieran gemessen ist die Identität zwischen den angeklagten und den ausgeurteilten Taten in den Fällen II.5, II.6 und II.8 nicht gewahrt.
Rz. 12
(a) Der in den Fällen II.5 und II.6 der Urteilsgründe festgestellte Analverkehr unterscheidet sich in Art und Ausführung so erheblich von dem in der Anklage vorgeworfenen Oralverkehr, dass sich die festgestellten Übergriffe auf den Nebenkläger als andere prozessuale Tat darstellen. Da weder der Anklageschrift noch hiermit korrespondierend den Urteilsfeststellungen sonstige individualisierende Umstände, die die Unverwechselbarkeit der Tat gleichwohl gewährleisten könnten, zu entnehmen sind, durfte das Landgericht die festgestellten (schweren) sexuellen Missbrauchshandlungen nicht ohne die – hier fehlende – Erhebung einer Nachtragsanklage zum Gegenstand seiner Verurteilung machen.
Rz. 13
(b) Auch im Fall II.8 der Urteilsgründe hat die Strafkammer eine andere als die angeklagte Tat ausgeurteilt. Der festgestellte Analverkehr weicht wiederum maßgeblich vom angeklagten Oralverkehr des Angeklagten an dem Nebenkläger ab. Der festgestellte Tatort im Gästezimmer kann die Unverwechselbarkeit der Tat nicht gewährleisten, denn die Anklage weist dem Tatvorwurf in diesem Fall keinen individuellen Tatort zu. Sie beschreibt lediglich, der Angeklagte habe die Taten in den Fällen II.7 bis II.9 der Anklage in der Wohnung in S. sowohl im Schlaf- als auch im Gästezimmer begangen, wobei die Staatsanwaltschaft in der Anklage wiederum von einer Mindestanzahl von Taten ausgegangen ist und weitergehende Tatvorwürfe nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt hat. Damit bleibt aber offen, ob sich der im Fall II.8 der Anklage dargestellte Übergriff im Wohn- oder Gästezimmer der Wohnung in S. zugetragen haben soll.
Rz. 14
2. Im Übrigen erweist sich das Rechtsmittel als unbegründet.
Rz. 15
a) Die Verfahrensrügen des Angeklagten bleiben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ohne Erfolg.
Rz. 16
b) Die auf die erhobene Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des verbleibenden Urteils hat keinen Rechtsfehler zu Ungunsten des Angeklagten ergeben.
Rz. 17
3. Die Teileinstellung führt zum Wegfall der Einzelstrafen in den Fällen II.5, II.6 und II.8 der Urteilsgründe. Dies entzieht der Gesamtfreiheitsstrafe die Grundlage. Die Feststellungen werden von dem Rechtsfehler nicht berührt und können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen sind möglich, soweit diese nicht in Widerspruch zu den bisherigen stehen. Dabei wird der nunmehr zur Entscheidung berufene Tatrichter Gelegenheit haben, genauer als bisher in den Blick zu nehmen, dass ein Härteausgleich für erledigte Geldstrafen nur dann geboten ist, wenn diese, wozu sich die Urteilsgründe bisher nicht verhalten, ganz oder teilweise im Wege einer Ersatzfreiheitsstrafe „vollstreckt” worden sind (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Urteil vom 18. Dezember 2018 – 2 StR 291/18, juris Rn. 47; BGH, Urteil vom 8. November 2018 – 4 StR 269/18, juris Rn. 16, jew. mwN).
Unterschriften
Franke, Eschelbach, Meyberg, Grube, Schmidt
Fundstellen
Haufe-Index 14204776 |
NStZ-RR 2021, 25 |
RPsych 2021, 130 |