Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerhinterziehung
Leitsatz (redaktionell)
1. Im Fall der Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung, auf die hin ein unrichtiger Steuerbescheid ergangen ist, besteht der Hinterziehungsumfang in der Differenz zwischen der geschuldeten und der festgesetzten Steuer.
2. Ermittelt der Stpfl. seinen zu versteuernden Gewinn mittels Betriebsvermögensvergleichs, ist eine gewinnmindernde Aufwandsbuchung allein durch das Erfassen von fingierten Kaufpreisen für den Erwerb von Waren nicht belegt. Das Gericht hat zu bedenken, dass bei ordnungsmäßiger Buchung die hochpreisigen und weiter zu veräußernden Waren des Umlaufvermögens im Jahresabschluss auf einem Bestandskonto auf der Aktivseite zu bilanzieren waren. Dies gilt unabhängig von einer vom Angeklagten zusätzlich wahrheitswidrig behaupteten teilweisen Stundung der Kaufpreise (gewinnneutraler Aktivtausch bei fingierter Bargeldzahlung; gewinnneutraler Aktiv-Passivtausch bei fingierter Kaufpreisverbindlichkeit). Es ist festzustellen, wie der beauftragte Steuerberater die überlassenen Scheinrechnungen buchhalterisch behandelte.
Normenkette
AO § 370 Abs. 1 Nrn. 1-2, Abs. 4 S. 1 Hs. 1; EStG § 4 Abs. 1 S. 1, § 5 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LG Köln (Urteil vom 27.05.2020; Aktenzeichen 113 Js 161/19 119 KLs 7/19) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 27. Mai 2020 aufgehoben
- hinsichtlich der Einzelstrafe im Fall B. I. 3. (Einkommensteuerhinterziehung bezüglich des Veranlagungszeitraums 2013) der Urteilsgründe,
mit den zugehörigen Feststellungen
aa) im Fall B. II. 3. der Urteilsgründe,
bb) hinsichtlich der Einzelstrafen in den Fällen B. I. 2. und 4. bis 6. der Urteilsgründe (Einkommensteuerhinterziehung bezüglich der Veranlagungszeiträume 2011 und 2014 bis 2016),
cc) im Ausspruch über die Gesamtstrafe und
dd) im Ausspruch über die Einziehung des Wertes von Taterträgen, soweit er einen Betrag von 1.118.569,90 EUR übersteigt.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in fünf Fällen, wegen Betrugs in drei Fällen und wegen vorsätzlicher Körperverletzung in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten verurteilt. Zudem hat es gegen den Angeklagten die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe der ersparten Einkommensteuern nebst Solidaritätszuschlag und der in den ersten beiden Betrugsfällen vereinnahmten Gelder mit einem Betrag von 1.767.695,99 EUR angeordnet. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
Rz. 2
Das Landgericht hat – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – Folgendes festgestellt und gewertet:
Rz. 3
1. Der Angeklagte, ein Augenarzt, hinterzog für die Veranlagungszeiträume 2011 sowie 2013 bis 2016 Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag in Höhe von rund 800.000 EUR. Die von ihm für die Jahre 2011, 2013 und 2015 eingereichten Einkommensteuererklärungen waren unrichtig, da er in den zugrundeliegenden Jahresabschlüssen u.a. Rückstellungen, Entgelte für angebliche Beratungsleistungen und einen Investitionsabzugsbetrag fingierte, Bareinnahmen aus ärztlichen Leistungen verschwieg sowie private Kosten als Betriebsausgaben in Abzug brachte (Fälle B. I. 2., 3. und 5. der Urteilsgründe). Die Buchhaltung für die Jahresabschlüsse 2014 und 2016 manipulierte der Angeklagte in gleicher Weise; Einkommensteuererklärungen für diese beiden Zeiträume gab er erst nach Abschluss der Veranlagungsarbeiten bzw. überhaupt nicht ab (Fälle B. I. 4. und 6. der Urteilsgründe).
Rz. 4
a) Für den Veranlagungszeitraum 2011 setzte das Finanzamt auf die unrichtige Erklärung des Angeklagten mit Bescheid vom 28. Februar 2014 Einkommensteuer in Höhe von 40.544 EUR und Solidaritätszuschlag in Höhe von 2.229,92 EUR fest.
Rz. 5
b) Bei der Bestimmung des Umfangs der hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 2014 und 2015 verkürzten Einkommensteuerbeträge hat das Landgericht fingierte Aufwendungen in Höhe von fast 500.000 EUR bzw. rund 404.000 EUR für den vorgetäuschten Erwerb von 745 Packungen der hochpreisigen Medikamente Lucentis und Jetrea nicht als abzugsfähig angesehen. Die entsprechenden, dem Steuerberater überlassenen Einkaufsrechnungen hatte der Angeklagte selbst erstellt; ihnen lagen keine entgegengenommenen Sachleistungen zugrunde.
Rz. 6
c) In der Bilanz für das Jahr 2016, für das der Angeklagte keine Einkommensteuererklärung abgab, war eine angebliche Forderung des Angeklagten gegen seinen Bruder wegen Uneinbringlichkeit vollständig wertberichtigt; dies minderte den ausgewiesenen Gewinn um fast 135.000 EUR. Tatsächlich bestand ein solcher Anspruch des Angeklagten nicht.
Rz. 7
2. Im Fall B. II. 3. der Urteilsgründe bot der Angeklagte der m. GmbH, einem Factoringunternehmen, am 7. Oktober 2016 eine fingierte Zahlungsforderung aus einer angeblichen ärztlichen Heilbehandlung gegenüber seiner Ehefrau in Höhe von rund 18.730 EUR zum Kauf an. Zur Verschleierung des Umstands, dass „Schuldnerin” der Forderung die Ehefrau des Angeklagten war, war diese mit ihrem Geburtsnamen benannt. Tatsächlich hatte der Angeklagte seine Ehefrau nicht medizinisch behandelt. Die m. GmbH schrieb dem Angeklagten den Nominalwert der Forderung auf dessen Abrechnungskonto gut. Am 13. Oktober 2016 überprüfte der Risikomanager der Abrechnungsgesellschaft, der Zeuge K., den Forderungserwerb aufgrund der ungewöhnlich hohen Rechnungssumme. In einem Telefonat mit dem Angeklagten gewann K. die Erkenntnis, dass die Forderung fingiert sei; er ließ daraufhin den Forderungsgegenwert wieder „zum Soll stellen”.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 8
1. Die Revision ist teilweise begründet.
Rz. 9
a) In den Fällen der Einkommensteuerhinterziehung hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 2011 sowie 2014 bis 2016 hat das Landgericht den Schuldumfang rechtsfehlerhaft bestimmt. Dies nötigt zur Aufhebung der zugehörigen Einzelstrafen mitsamt den Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).
Rz. 10
aa) Im Fall der Einkommensteuerhinterziehung bezüglich des Jahres 2011 (B. I. 2. der Urteilsgründe) hätte das Landgericht bei der Bestimmung des Verkürzungsumfangs die mit Bescheid vom 28. Februar 2014 vom Finanzamt festgesetzten Beträge abziehen müssen. Denn das Landgericht hat die Verurteilung insoweit auf die Abgabe einer unrichtigen Erklärung am 23. Dezember 2013 gestützt, auf die hin ein unrichtiger Steuerbescheid ergangen ist (§ 370 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 AO). In einem solchen Fall besteht der Hinterziehungsumfang in der Differenz zwischen der geschuldeten und der festgesetzten Steuer. Lediglich hinsichtlich der Steuerstraftaten bezüglich der Jahre 2014 und 2016 ist das Landgericht von einer Tatbegehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) ausgegangen (UA S. 179).
Rz. 11
bb) Da der Angeklagte seinen zu versteuernden Gewinn mittels Betriebsvermögensvergleichs ermittelte (§ 4 Abs. 1 Satz 1, § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG), ist hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 2014 und 2015 (B. I. 4. und 5. der Urteilsgründe) eine gewinnmindernde Aufwandsbuchung allein durch das Erfassen von fingierten Kaufpreisen für den Erwerb von Medikamenten nicht belegt. Das Landgericht hat nicht bedacht, dass bei ordnungsmäßiger Buchung die hochpreisigen und an die Patienten weiter zu veräußernden Waren des Umlaufvermögens im Jahresabschluss auf einem Bestandskonto auf der Aktivseite zu bilanzieren waren. Dies gilt unabhängig von einer vom Angeklagten zusätzlich wahrheitswidrig behaupteten teilweisen Stundung der Kaufpreise (gewinnneutraler Aktivtausch bei fingierter Bargeldzahlung; gewinnneutraler Aktiv-Passivtausch bei fingierter Kaufpreisverbindlichkeit). Eine Gewinnminderung über die Gewinn- und Verlustrechnung – etwa durch Unterlassen von Bestandsbuchungen – ist dem Urteil auch seinem Gesamtzusammenhang nach – anders als beim ebenfalls vorgetäuschten Erwerb von zum Verbrauch bestimmter Klingen zur Gewinnminderung in den Jahren 2015 und 2016 – nicht zu entnehmen. Im Gegenteil fehlen Feststellungen dazu, wie der beauftragte Steuerberater die überlassenen Scheinrechnungen buchhalterisch behandelte (vgl. insbesondere UA S. 86, 90 f.).
Rz. 12
cc) Im Fall der Einkommensteuerhinterziehung bezüglich des Veranlagungszeitraums 2016 (B. I. 6. der Urteilsgründe) ist nicht festgestellt, dass der Tatvorsatz des Angeklagten sich auf die unberechtigte Gewinnminderung durch Teilwertabschreibung (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG) einer nicht existenten Forderung erstreckte (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juli 2019 – 1 StR 265/18 Rn. 30 mwN). Es fehlt insoweit zudem an einer Beweiswürdigung (vgl. UA S. 134). Diese Lücke lässt sich nicht über den Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, insbesondere mit den vielfältigen buchhalterischen Manipulationen durch den Angeklagten, schließen. Vielmehr hätte sich das Landgericht damit auseinandersetzen müssen, dass es sich schon für die Jahre 2014 und 2015 nicht von einem vorsätzlichen Verschweigen von Zinseinkünften aus dem in Rede stehenden Darlehen überzeugen konnte. Es hat hierzu ausgeführt, die Einlassung des Angeklagten sei nicht zu widerlegen, der Steuerberater sei irrtümlich von einer Darlehensrückzahlungsforderung gegenüber dem Bruder ausgegangen; diesen Fehler in der Buchhaltung habe er nicht erkannt (UA S. 109-111).
Rz. 13
b) Die Verurteilung wegen Betrugs (§ 263 Abs. 1 StGB) zum Nachteil der m. GmbH hält ebenfalls mitsamt den Feststellungen der sachlich-rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Jedenfalls ein Vermögensschaden ist nicht festgestellt.
Rz. 14
aa) Die m. GmbH zahlte den dem in ihrer Buchhaltung geführten Kundenkonto gutgeschriebenen Kaufpreisbetrag in Höhe von rund 18.730 EUR nicht aus (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2016 – 4 StR 134/15 Rn. 8). Auf dieses interne Abrechnungskonto konnte der Angeklagte nicht zugreifen. Das Landgericht hat demnach offensichtlich bereits im Eingehen der Zahlungsverbindlichkeit (§ 433 Abs. 2 BGB) einen Betrugsschaden als bewirkt angesehen; indes ist damit ein Vermögensschaden weder konkret beschrieben noch beziffert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09, BVerfGE 130, 1 Rn. 178; BGH, Urteil vom 17. Dezember 2019 – 1 StR 171/19 Rn. 32; vgl. auch BGH, Beschluss vom 26. Juni 2019 – 1 StR 551/18 Rn. 19). Hierfür hätte der Vergleich der Vermögenslagen der m. GmbH unmittelbar vor und nach dem Kaufvertragsabschluss eine messbare negative Vermögensbilanz ergeben müssen (BGH, Urteile vom 17. Dezember 2019 – 1 StR 171/19 Rn. 31 f. mwN und vom 16. Juni 2016 – 1 StR 20/16 Rn. 33 f.). Solches ist hier nicht belegt:
Rz. 15
Zwar war die vom Factoringunternehmen erworbene Geldforderung (§ 398 BGB) fingiert und damit wertlos; das vertragliche Äquivalenzverhältnis war nachhaltig gestört. Jedoch bleibt offen, mit welchem bezifferbaren Wert das Drohen der Auszahlung des Kaufpreises, mit anderen Worten: die Gefährdungslage anzusetzen war. Die für die Bewertung dieses Risikos erforderlichen Einzelheiten fehlen, insbesondere wann die m. GmbH ohne die Tatentdeckung den Kaufpreis nach den Vertragsbedingungen vom Kundenkonto ausgezahlt hätte oder ob sie für den Fall des Nichtbestehens von abgetretenen Forderungen durch werthaltige, ohne Weiteres zu realisierende Sicherungsinstrumente von vornherein abgesichert war (vgl. dazu BGH, Urteile vom 10. August 2017 – 3 StR 549/16 Rn. 42, 45 f. und vom 4. März 1999 – 5 StR 355/98 Rn. 25 ff., 49 ff., BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 54; Beschluss vom 23. Januar 2014 – 3 StR 365/13 Rn. 4 f.).
Rz. 16
bb) Sollten der Angeklagte und die m. GmbH gar eine Kontokorrentabrede (vgl. § 355 HGB) getroffen haben, wäre die fingierte Geldforderung aufgrund des Einstellens in das Kontokorrent ein unselbständiger Verrechnungsposten geworden. Dann hätte das Factoringunternehmen auf sein eigenes Vermögen allenfalls erst durch Abgabe eines Saldoanerkenntnisses (§§ 781, 780 BGB) vermögensmindernd eingewirkt; ein Vermögensschaden wäre damit durch den Ankauf der Forderung erst recht nicht begründet.
Rz. 17
c) Um dem nunmehr zur Entscheidung berufenen Tatgericht eine neue in sich stimmige Strafzumessung bezüglich der Steuerstraftaten zu ermöglichen, hebt der Senat auch die Strafe für die zweite Steuerstraftat (B. I. 3. der Urteilsgründe) auf. Die Aufhebung der genannten sechs Einzelstrafen zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich. Da das Landgericht den Schuldumfang rechtsfehlerhaft bestimmt hat, unterliegt auch die Einziehungsanordnung teilweise der Aufhebung. In Höhe von 1.118.569,90 EUR (Erlöse aus den beiden ersten Betrugstaten in Höhe von 972.451,17 EUR sowie ersparte Steueraufwendungen in Höhe von 82.961 EUR [Einkommensteuer 2011], 4.562,85 EUR [Solidaritätszuschlag 2011], 92.675 EUR [Einkommensteuer 2013] und 5.097,12 EUR [Solidaritätszuschlag 2013] abzüglich der nachträglich vom Fiskus erlangten Beträge in Höhe von 39.177,24 EUR) hat die Einziehung hingegen Bestand.
Rz. 18
2. Im Übrigen bleibt die Revision erfolglos. Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
Rz. 19
a) Die Verfahrensbeanstandungen dringen nicht durch.
Rz. 20
aa) Die Rüge, das Landgericht habe dadurch gegen die Transparenz- und Dokumentationspflichten aus § 273 Abs. 1a Satz 2, § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO verstoßen, dass es den Inhalt der Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft vom 2. März 2020 und des Gerichts vom 9. März 2020 (S. 52 der Revisionsbegründung) nicht protokolliert habe, bleibt aus mehreren Gründen erfolglos.
Rz. 21
(a) Diese Beanstandung ist vor allem deswegen unvollständig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), weil die Revision bereits nicht behauptet, das Gericht bzw. die Staatsanwaltschaft habe an diesen beiden Hauptverhandlungstagen ein verständigungsbezogenes Gespräch geführt. Somit bleibt nach dem Revisionsvortrag offen, ob und wodurch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft Fragen des prozessualen Verhaltens in einen Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht haben soll. Nur dann konnte aber die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung im Raum stehen und das am 5. Februar 2020 vor der Hauptverhandlung ergebnislos geführte Verständigungsgespräch wieder aufgegriffen worden sein. Solch konkreter Tatsachenvortrag ist unabdingbar, um dem Revisionsgericht die Prüfung zu ermöglichen, ob infolge der Möglichkeit der Verständigung die Mitteilungspflicht der Vorsitzenden aus § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO überhaupt ausgelöst worden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. März 2017 – 5 StR 493/16 und vom 29. September 2016 – 3 StR 310/15 Rn. 14 mN). Nur wenn eine auf eine Verständigung abzielende Erörterung erwiesen wäre, könnte daran eine Beanstandung anknüpfen, der Vorsitzende habe den Inhalt oder die Umstände dieser Verständigungsbemühungen unzureichend dokumentiert (vgl. zu Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung: BGH, Urteile vom 10. Juli 2013 – 2 StR 195/12 Rn. 8 ff., BGHSt 58, 310, 312 f. und vom 18. November 2020 – 2 StR 317/19 Rn. 39, 41, 43, 45; Beschlüsse vom 16. September 2020 – 2 StR 459/19 Rn. 3, 7 ff.; vom 15. Juli 2020 – 2 StR 526/19 Rn. 10; vom 30. Juli 2019 – 5 StR 288/19 Rn. 7, BGHSt 64, 168, 169; vom 12. Oktober 2016 – 2 StR 367/16 Rn. 11; vom 18. Juli 2016 – 1 StR 315/15 Rn. 8, 15 und vom 5. August 2015 – 5 StR 255/15 Rn. 11, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 5).
Rz. 22
(b) Ausgehend von den dienstlichen Stellungnahmen der Vorsitzenden vom 28. Oktober 2020 sowie der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft vom 4. und 5. November 2020 ist auszuschließen, dass die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung an das Vorgespräch vom 5. Februar 2020 anknüpften; sie äußerten sich nur dazu, ob das Geständnis Grundlage einer Verurteilung sein konnte und in welchem Umfang Verfahrenseinstellungen und -beschränkungen in Betracht kamen. Dies waren nur verfahrensfördernde Gespräche, die nicht auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung abzielten.
Rz. 23
(c) Die Rüge wäre auch unbegründet; denn eine gesonderte Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO besteht nicht, wenn die Verständigungsgespräche in der Hauptverhandlung geführt werden (BGH, Beschlüsse vom 19. Juli 2017 – 4 StR 536/16; vom 24. Januar 2017 – 5 StR 607/17 und vom 8. Oktober 2014 – 1 StR 352/14).
Rz. 24
bb) Auch die Inbegriffsrügen (§ 261 StPO), mit denen der Beschwerdeführer den nicht ordnungsgemäßen Abschluss des Selbstleseverfahrens (§ 249 Abs. 2 Satz 3 StPO) und damit die Verwertung von nicht eingeführten Urkunden im Urteil beanstandet, bleiben erfolglos.
Rz. 25
Zwar hat die Vorsitzende das erfolgreiche Durchführen des Selbstleseverfahrens nicht anhand des Wortlauts des § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO festgestellt. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, der Wortlaut der Urkunden sei nicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden. Denn die Protokollierung der Fragen der Vorsitzenden sowie der Antworten der Berufsrichter, der Schöffen und der übrigen Verfahrensbeteiligten vom 22. Mai 2020 ist der Auslegung zugänglich: Sie kann zusammen mit der in den rechtsfehlerfreien Anordnungen zur Einleitung des Selbstleseverfahrens (vgl. § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO) bekundeten Absicht, nach Ablauf der gesetzten Frist die Durchführung des Selbstleseverfahrens gemäß den Äußerungen der Verfahrensbeteiligten zu protokollieren, und mit der ‚Erörterung der Durchführung des Selbstleseverfahrens’ nicht anders verstanden werden, als dass die Vorsitzende damit die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO getroffen hat (vgl. auch BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003 – 1 StR 25/03; vgl. auch BGH, Urteil vom 28. November 2012 – 5 StR 412/12 Rn. 9, BGHSt 58, 59, 61: „festzustellende Erklärung”).
Rz. 26
b) Das Urteil weist auch in sachlichrechtlicher Hinsicht keine weiteren Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
Rz. 27
Im Fall B. II. 1. der Urteilsgründe belegen die Feststellungen bereits deswegen einen Abrechnungsbetrug, weil der Angeklagte den Privatpatienten entgegen § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GOÄ Kosten für Medikamente in Rechnung stellte, die ihn tatsächlich nicht mehr belasteten. Denn diese Kosten hatte er bereits zuvor gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet; er durfte sie daher nicht ein zweites Mal in Rechnung stellen. Die Zahlung auf eine Nichtschuld bewirkt einen Vermögensschaden in entsprechender Höhe (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. August 2020 – 5 StR 558/19 Rn. 46 ff.; vom 4. September 2019 – 1 StR 579/18 Rn. 41 und vom 18. Dezember 2018 – 3 StR 270/18 Rn. 10, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 96; Urteil vom 16. Januar 2020 – 1 StR 113/19 Rn. 34, BGHR § 263 Abs. 1 Täuschung 42; je mwN). Den Umstand, dass der Angeklagte die Privatpatienten mit einer Restmenge aus den Durchstechflaschen behandelte, hat das Landgericht in der Strafzumessung berücksichtigt (UA S. 180). Die für diesen Fall verhängte Einsatzfreiheitsstrafe bleibt ebenso wie die Strafe für die zweite Betrugstat und die Strafen für die Körperverletzungen von der Urteilsaufhebung in den Steuerhinterziehungsfällen und dem dritten Betrugsfall unbeeinflusst.
Unterschriften
Jäger, Fischer, Bär, Hohoff, Leplow
Fundstellen
NStZ-RR 2023, 199 |
NStZ-RR 2023, 200 |
ZWH 2021, 267 |
ZWH 2021, 271 |
ZWH 2022, 71 |
ZWH 2022, 77 |