Entscheidungsstichwort (Thema)
fahrlässige Körperverletzung
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 16. Oktober 2000 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung und unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Seine auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision hat Erfolg.
1. Die Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers hat keinen Bestand.
a) Das Landgericht hat seinem Urteil folgendes zugrundegelegt: Am 30. August 1997 traf der Angeklagte, der in L. einen Kiosk mit angeschlossener Gaststätte betreibt, in der Nähe seines Lokals auf Yilmaz Y.. Es kam zu Tätlichkeiten, in deren Verlauf Yilmaz Y. nicht unerhebliche Verletzungen im Gesicht erlitt. Wegen dieses Vorfalls wurde der Angeklagte zwischenzeitlich rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt. Am Tag danach suchten die Brüder Abdulhardy und Yavuz Y. gegen Mittag die Gaststätte des – nicht anwesenden – Angeklagten auf und drohten, ihn „platt zu machen” und sein Lokal „abzufackeln”. Nach seiner Rückkehr von dem Vorfall unterrichtet, verständigte der Angeklagte die Polizei und begab sich zu seinem Wohnhaus. Dort traf kurz darauf auch Abdulhardy Y. zusammen mit dem Nebenkläger, einem Bekannten des Y., ein. Als Abdulhardy Y. den Angeklagten auf dem Hof stehen sah, ging er durch die etwa zehn Meter lange, auf beiden Seiten von Hauswänden begrenzte Hofeinfahrt auf ihn zu und blieb an dem geschlossenen, etwa ein Meter hohen Rolltor am Ende der Einfahrt stehen. Unmittelbar darauf erschienen auch seine Brüder Yavuz, Yilmaz und Nihat Y. in der Hofeinfahrt, während der Nebenkläger zusammen mit weiteren Mitgliedern und Bekannten der Familie Y. rechts vor der Hofeinfahrt blieb, etwa 14 Meter vom Rolltor entfernt. Am Rolltor entspann sich nun eine lautstarke verbale Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Brüder Y. erneut drohten, den Angeklagten „fertig” und „platt zu machen”. Yavuz Y. ergriff schließlich eine etwa 20 mal 40 cm große Waschbetonplatte und warf sie in Richtung des einige Meter entfernt stehenden Angeklagten. Dieser wich dem Wurf aus und begab sich in sein Haus, von wo aus er die Polizei erneut verständigte. Aus Sorge um seine Lebensgefährtin, die er mit einem gemeinsamen Kind zurückerwartete, steckte der Angeklagte anschließend seinen geladenen Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 sowie Patronen zum Nachladen ein und ging wieder auf den Hof. Als die Y.-Brüder den Angeklagten kommen sahen, schoben sie das Rolltor ein Stück zur Seite, um auf den Hof zu gelangen. Yavuz Y. ergriff eine zweite Waschbetonplatte und machte Anstalten, diese nach dem Angeklagten zu werfen. In diesem Moment zog der Angeklagte seine Waffe aus der Westentasche, bei deren Anblick die Brüder Y. hinter das Rolltor zurückwichen. Gleichwohl gab der Angeklagte mindestens vier Schüsse in ihre Richtung ab. Die Geschosse prallten an der die Hofeinfahrt begrenzenden Mauer ab, wobei sie Abriebspuren in Höhen zwischen 1,37 Meter und 2,55 Meter hinterließen. Nach Abgabe der Schüsse zog sich der Angeklagte in den hinteren Teil des Hofes zurück, um nachzuladen. Yavuz Y. warf ihm noch die Waschbetonplatte nach, ohne ihn zu treffen. Als sich die Brüder Y. versichert hatten, daß niemand verletzt worden war, zweifelten sie lautstark an, daß es sich um eine echte Waffe handelte, und riefen dem Angeklagten hinterher, daß sie ihm einmal eine echte Waffe zeigen wollten. Nach dem Nachladen kehrte der Angeklagte zurück und stellte sich vor seine Garage dem Rolltor gegenüber. Wie das Landgericht zu seinen Gunsten unterstellt hat, zog Abdulhardy Y. nunmehr eine silberfarbene Pistole und richtete sie auf den Angeklagten. Um der drohenden Schußabgabe zuvorzukommen, schoß der Angeklagte zweimal gezielt auf Abdulhardy Y., den er jedoch trotz der geringen Entfernung von nur wenigen Metern verfehlte. Einer der beiden Schüsse traf den immer noch vor dem Haus im seitlichen Einfahrtsbereich stehenden Nebenkläger, der dadurch lebensgefährlich verletzt wurde.
b) Das Landgericht hat die Abgabe der zweiten Schußsalve gegenüber Abdulhardy Y. als durch Notwehr gerechtfertigt angesehen. Dem ihn nicht angreifenden und unbeteiligten Nebenkläger gegenüber habe er allerdings objektiv pflichtwidrig gehandelt. Für ihn sei vorhersehbar gewesen, anstelle des Y. den Nebenkläger zu treffen, weil er um die Zielungenauigkeit seiner Waffe bei Distanzschüssen gewußt habe. Dem Angeklagten stehe insoweit auch nicht der Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB zur Seite, weil die erforderliche Güterabwägung nicht ergebe, daß das geschützte Rechtsgut wesentlich überwiege. Auf entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) könne er sich nicht berufen, weil er die Gefahr für sich selbst durch die Abgabe der ersten vier Schüsse, die er nicht so wie geschehen abgeben durfte, und durch das Nachladen verursacht habe.
c) Die vom Landgericht zur äußeren und inneren Tatseite getroffenen Feststellungen sind lückenhaft. Der Senat kann anhand der Urteilsgründe nicht nachprüfen, ob das Landgericht zu Recht Fahrlässigkeit des Angeklagten angenommen hat.
Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg gezeitigt hat. Die Einzelheiten des durch das pflichtwidrige Verhalten in Gang gesetzten Kausalverlaufs brauchen dagegen nicht vorhersehbar sein. Tritt der Erfolg durch das Zusammenwirken mehrerer Umstände ein, müssen alle diese Umstände dem Täter erkennbar sein, weil nur dann der Erfolg für ihn voraussehbar ist (vgl. BGH NStZ 2001, 143, 145; Jähnke in LK-StGB, 11. Aufl. § 222 Rdn. 3 m.w.Nachw.). Es kommt jedoch stets auf die konkrete Situation an. Die Vorwerfbarkeit entfällt, wenn dem Täter ein anderes Handeln nicht zugemutet werden kann, wobei sich die Zumutbarkeit auch nach der Größe der drohenden Gefahr richtet (vgl. BGHSt 4, 20, 23; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 15 Rdn. 16; Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 15 Rdn. 204). Blieb dem Angeklagten als einzige Abwehrmaßnahme gegen den unmittelbar lebensbedrohenden Angriff von Abdulhardy Y. nur die schnelle Abgabe zweier notwendigerweise unkontrollierter Schüsse, könnte ihm demnach die damit verbundene Gefährdung Unbeteiligter nicht als Verletzung der ihm obliegenden Sorgfaltspflicht angerechnet werden. Diese Frage läßt sich indes aus revisionsrichterlicher Sicht nicht beantworten, zumal unklar bleibt, ob und ggf. aus welchen Gründen für den im Umgang mit Schußwaffen vertrauten Angeklagten durch sorgfältigeres Zielen auf den Angreifer und Wählen einer anderen Schußposition eine Verletzung des Nebenklägers vermeidbar gewesen wäre. Die Urteilsgründe sind insoweit in zweierlei Hinsicht unvollständig:
aa) Den Feststellungen des angefochtenen Urteils lassen sich schon nicht die erforderlichen äußeren Gegebenheiten mit der gebotenen Genauigkeit entnehmen. Bereits für den Zeitpunkt der Abgabe der ersten vier Schüsse fehlt es an der Mitteilung der genauen Entfernungen zwischen den Standorten der Beteiligten. Insbesondere aber fehlen die präzisen Entfernungsangaben bei der Abgabe der zweiten Schußsalve zwischen dem Angeklagten und Y. einerseits und zu dem Nebenkläger andererseits. Lassen sich die Standorte des Nebenklägers und des Y. noch einigermaßen bestimmen, bleibt unklar, wo sich der Angeklagte im Zeitpunkt der Schußabgabe befand. Aufgrund der Angaben, daß er sich „einige Meter” „in den hinteren Hofbereich” zurückzog um nachzuladen, er dann „zurückkehrte” und sich „vor der Garage” aufstellte und zweimal auf Y. schoß, den er „trotz der geringen Entfernung von nur wenigen Metern” verfehlte (UA S. 7, 8), läßt sich schon nicht die genaue Entfernung zwischen dem Angeklagten und Y. nachvollziehen, ebenso vage bleibt die zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger, die möglicherweise zwischen 15 und 20 Meter betrug.
bb) Lückenhaft sind insbesondere die Feststellungen zur inneren Tatseite. So teilt das Urteil nur mit, daß der Angeklagte, nachdem die Brüder Y. angesichts der Waffe des Angeklagten hinter das Rolltor zurückwichen, „gleichwohl” mindestens vier Schüsse in ihre Richtung abgab. Einen Grund dafür hat die Kammer nicht angegeben, sondern – widersprüchlich – einerseits angenommen, daß es sich nicht um Warnschüsse gehandelt habe, der Angeklagte aber andererseits mit seinen Schüssen die Gebrüder Y. verfehlen wollte.
Auch die Wahrnehmungen und Vorstellungen des Angeklagten vor Abgabe der zweiten Schußsalve teilt das Urteil nicht mit. So fehlen hinlängliche Feststellungen dazu, warum der Angeklagte nach dem Nachladen – als der möglicherweise gefährdete Zeuge K. ins Haus geflüchtet war, die Lebensgefährtin des Angeklagten und das Kind noch nicht in der Nähe des Hauses aufgetaucht waren und der Angeklagte selbst nicht mehr unmittelbar angegriffen wurde – „zurückkehrte”, also mit der Waffe in der Hand auf die Brüder Y. zuging. Nicht nachvollziehbar ist deshalb, „daß sich der Angeklagte in diesem Augenblick berechtigterweise Sorgen um seine Lebensgefährtin und deren Bruder” (UA S. 18), den Zeugen K., machte.
Da dieses der Schußabgabe unmittelbar vorausgehende Verhalten des Angeklagten – möglicherweise – der Grund dafür war, daß – so zugunsten des Angeklagten vom Landgericht unterstellt – Y. „nunmehr” eine Pistole zog und auf den Angeklagten richtete, mußte sich das Landgericht damit auseinandersetzen, was in diesem Zeitpunkt in dem Angeklagten vorging. Daran fehlt es.
2. Die Verurteilung wegen unerlaubten Waffenbesitzes kann ebenfalls nicht bestehen blieben, weil das Landgericht nicht geprüft hat, ob sich der Angeklagte auf einen Ausnahmetatbestand des § 28 Abs. 4 Nr. 3 WaffG berufen kann. Zugunsten des Angeklagten geht es davon aus, daß ihm die Pistole mit dem eingeschlagenen Wort „Latonita” erst am Tage zuvor von der Zeugin M., die die Waffe bei Durchsicht der Sachen ihres verstorbenen Ehemannes gefunden hatte, mit der Bitte übergeben wurde, diese ordnungsgemäß zu verwahren bzw. zu entsorgen. Bei diesem Sachverhalt kommt eine vorübergehende Verwahrung der Waffe für einen Berechtigten gemäß § 28 Abs. 4 Nr. 3 WaffG in Betracht. Die Zeugin M. hatte die Pistole von Todes wegen erworben und war deshalb zum Besitz der Waffe berechtigt (§ 28 Abs. 4 Nr. 1 WaffG). Daß die Zeugin die Pistole loswerden wollte, steht einer vorübergehenden Verwahrung durch den Angeklagten in ihrem Interesse dann nicht entgegen, wenn damit nur der Zeitraum überbrückt werden sollte, bis der Angeklagte die rechtlichen Voraussetzungen für deren endgültigen Erwerb geschaffen hatte. Wenn der Angeklagte die Pistole dagegen am nächsten Werktag bei der zuständigen Waffenbehörde abliefern wollte, läge eine nicht gewerbsmäßige Beförderung zu einem Berechtigten vor, welche nach § 28 Abs. 4 Nr. 3 WaffG ebenfalls keiner vorherigen Erlaubnis bedarf. Diese Vorschrift stellt nicht nur die eigentliche Verwahrung oder Beförderung für einen Berechtigten frei, sondern auch die Entgegennahme, also den Erwerb einer Waffe zu solchen Zwecken (Hinze, Waffenrecht, § 28 WaffG Anm. 19). Ob der Angeklagte wegen unerlaubten Waffenbesitzes bestraft werden kann, hängt deshalb davon ab, was er mit der übergebenen Waffe zu tun beabsichtigte. Hierzu hat das Landgericht keine Feststellungen getroffen.
Unterschriften
Kutzer, Rissing-van Saan, Miebach, Winkler, Becker
Fundstellen