Verfahrensgang
LG Gera (Urteil vom 01.12.2020; Aktenzeichen 1 Ks 120 Js 12229/17) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 1. Dezember 2020, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben
- im Ausspruch über die verhängte Freiheitsstrafe,
- soweit die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und
- der Vorwegvollzug von einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe vor der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und ausgesprochen, dass sechs Monate der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Ferner hat es ihn in einer Entziehungsanstalt untergebracht und angeordnet, dass ein Jahr und drei Monate der Freiheitsstrafe vor der erkannten Maßregel zu vollziehen sind. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Die Verfahrensrügen versagen aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts dargestellten Gründen.
Rz. 3
2. Die Überprüfung des Schuldspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Hingegen halten der Strafausspruch und die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt rechtlicher Prüfung nicht stand.
Rz. 4
a) Der Strafausspruch begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil die Strafkammer eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat.
Rz. 5
aa) Die sachverständig beratene Strafkammer hat festgestellt, eine „am 7.4.2017 um 00:55 Uhr entnommene Blutprobe [habe] einen Wert von 1,87 ‰ aufgewiesen, woraus sich für den Tatzeitpunkt eine minimale Blutalkoholkonzentration von ca. 2,1 ‰ und eine maximale Blutalkoholkonzentration von ca. 2,8 ‰ errechnen lasse”. Feststellungen zu einem Nachtrunk hat sie nicht getroffen. Eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten hat sie im Anschluss an die Ausführungen des Sachverständigen aufgrund folgender Umstände verneint:
Rz. 6
Der Angeklagte habe sich eingelassen, er habe noch gerade laufen können und habe auch alles mitbekommen. Der am Tatort ermittelnde Polizeibeamte habe ausgeführt, der Angeklagte sei zwar ordentlich angetrunken, aber dennoch klar gewesen und habe noch seine Aussage machen können. Er sei noch Herr seiner Sinne gewesen, habe aufrecht stehen, sich ordnungsgemäß artikulieren und Treppen steigen können. Ein Zeuge, der am Tattag mit dem Angeklagten Alkohol konsumiert hatte, habe keinerlei alkoholbedingte Auffälligkeiten bei diesem wahrgenommen. Zwar weise das Protokoll über die Blutentnahme aus, dass der Angeklagte durch eine verwaschene Sprache, stark erweiterte Pupillen, schwankenden Gang, grobschlägigen Drehnystagmus, benommenes Bewusstsein, sprunghaften Denkablauf und redseliges Verhalten aufgefallen sei. Jedoch sei auch vermerkt worden, dass die plötzliche Kehrtwendung (nach vorherigem Gehen) sicher, die Finger-Prüfung sicher, die Finger-Nasen-Prüfung sicher, die Pupillenreaktion prompt und die Stimmung unauffällig gewesen sei. Der Angeklagte habe hinsichtlich des Tatabends keinen Filmriss gehabt. Er sei daher trotz der festgestellten hohen Blutalkoholkonzentration ausreichend entscheidungs- und steuerungsfähig gewesen.
Rz. 7
bb) Diese Erwägungen tragen den Ausschluss einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht.
Rz. 8
(1) (a) Die Urteilsgründe lassen bereits offen, von welchem Tatzeitpunkt die Strafkammer – gegebenenfalls zugunsten des Angeklagten – ausgegangen ist, um unter Zugrundelegung eines maximalen stündlichen Abbauwertes von 0,2 ‰ zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 0,2 ‰ (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 1988 – 1 StR 231/88, BGHSt 35, 308, 314) eine maximale Blutalkoholkonzentration von ca. 2,8 ‰ zu errechnen.
Rz. 9
(b) Ein der Rückrechnung zugrunde gelegter Tatzeitpunkt erschließt sich auch nicht aus der Gesamtheit der Urteilsgründe. Danach war der Tod des Opfers zwischen 20.35 Uhr und 21.20 Uhr am 6. April 2017 eingetreten. Todesursächlich war ein beidseitiger Pneumothorax, dessen Ausbildung sich nach den Urteilsfeststellungen „von 30 bis zu 40 Minuten hinziehen könne”. Dessen vollständige Ausbildung führe „in einem Zeitfenster von 3 bis 10, höchstens 15 Minuten” zum Tode. Der frühestmögliche Tatzeitpunkt wäre damit 19.40 Uhr, so dass bis zur Blutentnahme fünf Stunden und fünfzehn Minuten vergangen wären. Danach läge die rückgerechnete Blutalkoholkonzentration bei 3,12 ‰.
Rz. 10
(c) Die – zutreffend berechnete – Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit ist regelmäßig neben anderen ein gewichtiges Beweisanzeichen für eine mögliche erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (vgl. Senat, Beschluss vom 18. März 1998 – 2 StR 5/98, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 35). Eine Blutalkoholkonzentration von mehr als 3 ‰ legt die Annahme einer erheblichen Herabsetzung des Hemmungsvermögens zur Tatzeit nahe (vgl. Senat, Urteil vom 14. Oktober 2015 – 2 StR 115/15, NStZ-RR 2016, 103, 104).
Rz. 11
(2) Zudem hat das Landgericht bei der von ihm im Zuge der gebotenen Gesamtwürdigung der rückgerechneten Blutalkoholkonzentration und der weiteren psychodiagnostischen Beurteilungskriterien zur Beurteilung der Steuerungsfähigkeit (vgl. Senat, Urteil vom 14. Oktober 2015 – 2 StR 115/15, NStZ-RR 2016, 103, 104; Beschlüsse vom 2. Juli 2015 – 2 StR 146/15, NJW 2015, 3525, 3526; vom 30. April 2015 – 2 StR 444/14, NStZ 2015, 634) des an „einer mittleren bis schweren Alkoholkonsumstörung (ICD-10: F 10.2)” leidenden Angeklagten maßgebliche Aspekte außer Acht gelassen. Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Zuschrift zutreffend ausgeführt:
„Das Landgericht hat hierbei weder bedacht, dass der Frage der Alkoholgewöhnung als möglichem Beweisanzeichen erhebliche Bedeutung zukommt. Noch hat es berücksichtigt, dass das äußere Leistungsverhalten und die innere Steuerungsfähigkeit bei hoher Alkoholgewöhnung weit auseinanderfallen können und selbst bei hochgradiger Alkoholisierung grobmotorische Fähigkeiten erhalten geblieben sein können (vgl. Fischer, StGB, 68. Aufl., § 20 Rn. 23a mwN). Denn die vom Landgericht angeführten Umstände belegen nur, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht völlig aufgehoben war; aus ihnen ist indes nicht mit genügender Sicherheit abzuleiten, dass eine Steuerungsfähigkeit nicht erheblich vermindert gewesen ist. Dazu hätte es aussagekräftiger psychodiagnostischer Beweisanzeichen bedurft. Als solche sind nur Umstände in Betracht zu ziehen, die Hinweise darauf geben können, dass die Steuerungsfähigkeit des Täters trotz erheblicher Alkoholisierung nicht in erheblichem Maße beeinträchtigt gewesen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. Mai 2015 – 2 StR 160/05, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 38, und vom 28. April 2009 – 4 StR 95/09, NStZ-RR 2009, 270). Eine alkoholische Beeinflussung mit der Folge erheblich verminderter Schuldfähigkeit ist indes weder zwingend noch regelmäßig von schweren ins Auge fallenden Ausfallerscheinungen begleitet (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 2011 – 5 StR 255/11, juris).”
Rz. 12
(3) Die dargestellte Wertung der Strafkammer steht zudem in einem nicht aufgelösten Widerspruch zu ihren Erwägungen zur Gefährlichkeitsprognose nach § 64 StGB, bei der sie festgestellt hat, „im Falle des Fortbestehens des Alkoholkonsums sei wegen des schnellen Kontrollverlustes bei hohem Alkoholkonsum in Verbindung mit der Persönlichkeitsstörung des Angeklagten eine große Wiederholungsgefahr gegeben im Sinne der Begehung von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter.”
Rz. 13
b) Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hält rechtlicher Prüfung nicht stand:
Rz. 14
aa) Die Begründung, mit der die Strafkammer die Annahme der Gefahr zukünftiger hangbedingt begangener rechtswidriger Taten des Angeklagten angenommen hat, erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.
Rz. 15
(1) Die Gefahr der zukünftigen Begehung erheblicher rechtswidriger und auf den Hang zurückzuführender Straftaten setzt eine naheliegende Wahrscheinlichkeit voraus. Eine bloße Wiederholungsmöglichkeit genügt nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Oktober 2019 – 4 StR 367/19, juris Rn. 6). Für die Frage der Wiederholungsgefahr ist eine umfassende Gesamtabwägung erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2018 – 3 StR 386/18, juris Rn. 11).
Rz. 16
(2) Diesen Maßstäben werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Zuschrift hierzu zutreffend ausgeführt:
„In den tatsächlichen Feststellungen findet die Gefahr, der Angeklagte werde infolge seines Hangs erhebliche rechtswidrige Taten begehen (§ 64 Satz 1 StGB), keine Grundlage. In den Urteilsgründen hat das Gericht hierzu lediglich ausgeführt, es gehe – auch mit Blick auf die einschlägige strafrechtliche Verurteilung – mit dem Sachverständigen davon aus, dass die Gefahr für ein vergleichbares Delikt oder eine Körperverletzung bestehe, wenn der Angeklagte weiterhin trinke, sofern er nicht zu einer stabilen suchtmittelabstinenten Lebensweise befähigt werde. Im Falle des Fortsetzens des Alkoholkonsums sei wegen des schnellen Kontrollverlustes bei hohem Alkoholkonsum in Verbindung mit der Persönlichkeitsstörung des Angeklagten eine große Wiederholungsgefahr im Sinne der Begehung von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter gegeben.
Diese äußerst knappen Ausführungen genügen nicht den an die Darlegung der Gefahrenprognose von Rechts wegen zu stellenden Anforderungen. Sie belegen nicht die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte hangbedingt erneut straffällig werden wird. Zwar kann die von § 64 Satz 1 StGB geforderte Gefahr allein durch die Anlasstat begründet werden und wird durch eine hangbedingte schwere Gewalttat regelmäßig hinreichend belegt (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2006 – 5 StR 31/06, NStZ-RR 2006, 204 mwN). Jedoch hätte es hier im Hinblick auf den indiziell gegen eine Gefährlichkeit sprechenden Umstand, dass der bereits seit seiner Jugend alkoholgewöhnte Angeklagte über 25 Jahre hinweg keine hangbedingte Straftat begangen hat (vgl. MüKo-StGB/van Gemmeren, 4. Aufl., § 64 Rn. 55 mwN), näheren Ausführungen dazu bedurft, warum mit einer Wiederholung zu rechnen ist. Die auf die einzige einschlägige Vorstrafe, der eine am 28. Mai 1991 begangene Tat zugrunde liegt, gestützte Begründung der Gefährlichkeit (UA S. 4, 79), ist zudem für sich nicht tragfähig. Sie lässt besorgen, dass das Gericht das Vorleben des Angeklagten nicht hinreichend in seine umfassende Gesamtabwägung einbezogen hat und deutet insbesondere darauf hin, dass dem Gericht hierbei aus dem Blick geraten ist, dass der Angeklagte im Jahr 1991 noch erheblich größere Mengen Alkohol konsumierte als im Zeitpunkt der Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat (UA S. 7).”
Rz. 17
bb) Auch die Erwägung der Strafkammer, mit der sie die konkrete Erfolgsaussicht der von ihr angeordneten Maßregel nach § 64 StGB begründet hat, erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.
Rz. 18
(1) Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt setzt nach § 64 Satz 2 StGB die hinreichend konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg voraus. Erforderlich ist insoweit, dass sich in Persönlichkeit und Lebensumständen des Verurteilten konkrete Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Verlauf der Therapie finden lassen. Die Aussicht auf einen Behandlungserfolg muss daher positiv festgestellt werden (vgl. st. Rspr. vgl. etwa Senat, Beschlüsse vom 30. Juli 2019 – 2 StR 172/19, NStZ-RR 2020, 71, 73 mwN; vom 13. Januar 2010 – 2 StR 519/09, NStZ-RR 2010, 141, 142; BGH, Urteil vom 28. Mai 2018 – 1 StR 51/18, NStZ-RR 2018, 275, 276; Beschluss vom 4. November 2014 – 4 StR 467/14, juris Rn. 7).
Rz. 19
(2) Diesen Maßstab hat die Strafkammer verfehlt. Sie hat, wiederum dem Sachverständigen folgend, lediglich festgestellt, dass „eine hinreichend konkrete Aussicht, dass der Angeklagte durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt geheilt oder eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten, die auf den Hang zurückgehen, bewahrt werde, nicht völlig verneint werden [könne]. … Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte … im Rahmen der Therapie eine Therapiemotivation entwickle, wobei therapeutisch die Persönlichkeitsstörung ein größeres Problem darstelle als der Alkoholkonsum.” Damit ist die für die Anordnung erforderliche begründete Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs nicht belegt. Auch der Gesamtheit der Urteilsgründe sind bisher keine konkreten Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Therapieverlauf zu entnehmen. Danach konsumierte der 57-jährige Angeklagte seit seiner Jugendweihe Alkohol in erheblichen Mengen. Er leidet an einem langjährigen chronischen Alkoholismus und hat sowohl in kognitiver als auch emotionaler Hinsicht konsumbedingte Einbußen erlitten. Seine Einsicht in sein Alkoholproblem und die Notwendigkeit therapeutischer Hilfe ist gering.
Rz. 20
3. Die Entscheidung über die Kompensation für die festgestellte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bleibt von der Aufhebung des Strafausspruchs unberührt (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Februar 2018 – 2 StR 366/17, juris Rn. 7). Allerdings wird das neue Tatgericht, sollte es wiederum die Maßregel nach § 64 StGB anordnen, zu beachten haben, dass bei der Berechnung der Dauer des Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe der zur Kompensation einer konventionswidrigen (rechtsstaatswidrigen) Verfahrensdauer als vollstreckt geltenden Teil der Strafe nicht abzuziehen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 26. April 2016 – 2 StR 58/16, juris Rn. 2).
Unterschriften
Franke, Appl, Zeng, Grube, Schmidt
Fundstellen
Haufe-Index 14755100 |
NStZ-RR 2021, 303 |
StV 2022, 289 |