Leitsatz (amtlich)
a) Kosten für den längerfristigen Besuch von Förderunterricht bei einem privaten Lehrinstitut (hier: Therapie einer Lese-Rechtschreib-Schwäche) können unterhaltsrechtlichen Mehrbedarf begründen.
b) Für berechtigten Mehrbedarf eines minderjährigen Kindes haben grundsätzlich beide Elternteile anteilig nach ihren Einkommensverhältnissen und nach den Maßstäben des § 1603 Abs. 1 BGB aufzukommen, so dass vor der Gegenüberstellung der beiderseitigen unterhaltsrelevanten Einkünfte generell ein Sockelbetrag in Höhe des angemessenen Selbstbehalts abzuziehen ist (im Anschluss an BGH, Urt. v. 26.11.2008 - XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962).
Normenkette
BGB §§ 1610, 1606
Verfahrensgang
OLG Hamburg (Beschluss vom 25.04.2012; Aktenzeichen 2 UF 3/12) |
AG Hamburg-Wandsbek (Entscheidung vom 23.11.2011; Aktenzeichen 733 F 90/11) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des 2. Familiensenats des OLG Hamburg vom 25.4.2012 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an einen anderen Senat des OLG zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Beteiligten streiten im Rahmen des Kindesunterhalts um Mehrbedarf für eine Therapie einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS).
Rz. 2
Der am 25.7.1997 geborene Antragsteller ist der nichtehelich geborene Sohn der Antragsgegnerin, der seit Mai 2010 bei dem Kindesvater lebt. Die Antragsgegnerin arbeitet vollschichtig als Sachbearbeiterin bei einer Versicherung und ist zudem als Rechtsanwältin zugelassen, ohne aus einer solchen Tätigkeit Einkünfte zu erzielen. Der verheiratete Kindesvater ist als Rechtsanwalt in einer größeren Kanzlei tätig.
Rz. 3
Der Antragsteller absolvierte seit März 2011 eine einjährige LRS-Therapie bei einem privaten Anbieter (L.-Institut), durch die Kosten in einer Gesamthöhe von 2.304 EUR entstanden sind. Die Antragsgegnerin lehnt die - erstmals im März 2011 geltend gemachte - Beteiligung an den Kosten der LRS-Therapie bei dem L.-Institut ab.
Rz. 4
Im vorliegenden Verfahren verlangt der durch den Kindesvater vertretene Antragsteller von der Antragsgegnerin Zahlung von anteiligen Therapiekosten i.H.v. 797,04 EUR. Die Beteiligten streiten im Wesentlichen darum, ob genügende Gründe für die Durchführung der LRS-Therapie - zudem bei einem privaten Anbieter - vorgelegen haben; ferner ist streitig, in welcher Höhe die Antragsgegnerin und der Kindesvater unterhaltsrelevante Einkünfte erzielen.
Rz. 5
Das AG hat die Antragsgegnerin antragsgemäß zur Zahlung von Kindesunterhalt verpflichtet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das OLG zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin, mit der sie die vollständige Abweisung des Antrags weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.
Rz. 7
1. Im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend hat das OLG erkannt, dass die während der Dauer des einjährigen Förderunterrichts des Antragstellers anfallenden monatlichen Kosten unterhaltsrechtlichen Mehrbedarf darstellen können. Als Mehrbedarf ist der Teil des Lebensbedarfs (§ 1610 BGB) anzusehen, der regelmäßig während eines längeren Zeitraums anfällt und das Übliche derart übersteigt, dass er beim Kindesunterhalt mit den Tabellensätzen nicht - zumindest nicht vollständig - erfasst werden kann, andererseits aber kalkulierbar ist und deshalb bei der Bemessung des laufenden Unterhalts berücksichtigt werden kann (BGH, Urt. v. 5.3.2008 - XII ZR 150/05, FamRZ 2008, 1152 Rz. 24).
Rz. 8
2. Ohne Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde gegen die Erwägungen, die das Beschwerdegericht im Zusammenhang mit der Notwendigkeit und der Angemessenheit des privaten Förderunterrichts angestellt hat.
Rz. 9
a) Das Beschwerdegericht hat - dem AG folgend - seine Überzeugung, dass der Antragsteller an einer förderungsbedürftigen Rechtschreibschwäche leide, insb. aus der Auswertung eines Schreibtests gewonnen, den der Antragsteller auf Anregung seines Deutschlehrers am 24.2.2011 bei dem L.-Institut absolviert hat; das dabei angewendete Testverfahren (sog. Hamburger Schreibprobe) kann dieser Auswertung entnommen werden. Diese tatrichterliche Würdigung lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Soweit die Rechtsbeschwerde demgegenüber insb. geltend macht, dass es sich bei dem L.-Institut um ein auf Gewinnerzielung gerichtetes Unternehmen handele, dessen Kompetenz ungeklärt sei, will sie damit die eigene Würdigung von der Überzeugungskraft des Beweismittels an die Stelle der Würdigung des Beschwerdegerichts setzen, was ihr im Verfahren der Rechtsbeschwerde verwehrt ist.
Rz. 10
b) Es entspricht der Rechtsprechung des Senats, dass der Unterhaltsberechtigte den durch den kostenauslösenden Besuch einer privaten Bildungseinrichtung entstandenen Mehrbedarf nicht unbeschränkt, sondern nur beim Vorliegen von sachlichen Gründen geltend machen kann. Darüber hinaus bedarf es einer besonderen Prüfung der konkreten Umstände des Einzelfalls, wenn die Entscheidung für den Besuch einer privaten Bildungseinrichtung einen nicht unerheblichen Mehrbedarf im Vergleich mit anderen denkbaren Lösungen des zugrunde liegenden schulischen Problems verursacht (vgl. BGH, Urt. v. 3.11.1982 - IVb ZR 324/81, FamRZ 1983, 48, 49 zur Privatschule). Im vorliegenden Fall war daher zu prüfen, ob für die kostenauslösende Inanspruchnahme eines privaten Lehrinstituts im Vergleich zu den schulischen Förderangeboten so gewichtige Gründe vorliegen, dass es gerechtfertigt erscheint, die dadurch verursachten Mehrkosten zu Lasten der Antragsgegnerin als angemessene Kosten der Ausbildung i.S.v. § 1610 Abs. 2 BGB anzuerkennen.
Rz. 11
Auch diese Beurteilung obliegt im Kern der tatrichterlichen Würdigung (vgl. BGH, Urt. v. 3.11.1982 - IVb ZR 324/81, FamRZ 1983, 48, 49). Das Beschwerdegericht hat - auch insoweit dem AG folgend - den Besuch eines privaten Förderunterrichtes insb. deshalb als gerechtfertigt angesehen, weil der Antragsteller bereits zwischen der fünften und siebten Klasse öffentliche Förderungsmaßnahmen durch Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen (REBUS) zur Behebung von Lese- und Rechtschreibschwächen ohne besonderen Erfolg durchlaufen habe. Dies hält sich im Rahmen einer zulässigen tatrichterlichen Überzeugungsbildung und ist daher aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Rz. 12
3. Im Ausgangspunkt richtig ist die Annahme des Beschwerdegerichts, dass für berechtigten Mehrbedarf grundsätzlich beide Elternteile anteilig nach ihren Einkommensverhältnissen (BGH, Urt. v. 5.3.2008 - XII ZR 150/05, FamRZ 2008, 1152 Rz. 28) und nach den Maßstäben des § 1603 Abs. 1 BGB aufzukommen haben, so dass vor der Gegenüberstellung der beiderseitigen unterhaltsrelevanten Einkünfte generell ein Sockelbetrag in Höhe des angemessenen Selbstbehalts abzuziehen ist (BGH, Urt. v. 26.11.2008 - XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962 Rz. 32).
Rz. 13
4. Das Beschwerdegericht hat indessen das unterhaltsrechtlich zu berücksichtigende Einkommen des Kindesvaters nicht rechtsfehlerfrei ermittelt.
Rz. 14
a) Das Beschwerdegericht legt seinen Berechnungen durchgehend das von dem Kindesvater im Jahre 2011 erzielte monatliche Nettoeinkommen i.H.v. 6.921 EUR zugrunde. Dieser Ansatz ist jedenfalls für die Verteilung der im Jahre 2012 entstandenen Kosten der LRS-Therapie des Antragstellers nicht mehr zutreffend, weil sich das Einkommen des Kindesvaters nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts im Jahre 2012 wegen der Zahlung einer Bruttotantieme i.H.v. 12.000 EUR signifikant erhöht hat.
Rz. 15
b) Soweit das Beschwerdegericht das Nettoeinkommen des Kindesvaters um den steuerlichen Splittingvorteil (richtig: um etwa die Hälfte des steuerlichen Splittingvorteils) i.H.v. 325 EUR bereinigt hat, weil dieser Vorteil seiner Ehe vorzubehalten sei, entspricht dies nicht der ständigen Rechtsprechung des Senats. Ein vom Beschwerdegericht angenommenes Verbot der Teilhabe am steuerlichen Splittingvorteil besteht beim Kindesunterhalt - um den es hier geht - nicht. Vielmehr gilt insofern der allgemeine Grundsatz, dass alle Einkommensbestandteile und somit auch der Splittingvorteil für den Kindesunterhalt herangezogen werden können, und zwar sowohl bei der Ermittlung des Bedarfs nach § 1610 BGB als auch bei der Leistungsfähigkeit nach § 1603 BGB (vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 2.6.2010 - XII ZR 160/08, FamRZ 2010, 1318 Rz. 18 ff. und BGHZ 178, 79 = FamRZ 2008, 2189 Rz. 16 ff.). Der aus der Ehe resultierende Splittingvorteil ist beim Kindesunterhalt immer dann uneingeschränkt einkommenserhöhend zu berücksichtigen, wenn er auf dem alleinigen Einkommen des Unterhaltspflichtigen beruht. Nur dann, wenn der Ehegatte des Unterhaltspflichtigen eigene steuerpflichtige Einkünfte bezieht, ist der Splittingvorteil - insoweit zum Nachteil des Kindes - auf den Unterhaltspflichtigen und seinen Ehegatten zu verteilen (vgl. BGH BGHZ 178, 79 = FamRZ 2008, 2189 Rz. 31), allerdings nicht nach einem Halbteilungsmaßstab, sondern nach dem Maßstab einer fiktiven Einzelveranlagung beider Ehegatten (vgl. Wendl/Kemper 8. Aufl., § 1 Rz. 977; Graba FamRZ 2008, 2192; Pauling FamFR 2010, 363, 364).
Rz. 16
c) Mit Recht rügt die Rechtsbeschwerde ferner die Behandlung der von dem Kindesvater geltend gemachten Verbindlichkeiten für die Finanzierung des in seinem Eigentum stehenden Hauses. Das Beschwerdegericht hat vom Einkommen des Kindesvaters Hausschulden in Gesamthöhe von 2.199 EUR abgesetzt, ohne dabei zu berücksichtigen, dass den Belastungen ein Gegenwert durch den Vorteil mietfreien Wohnens gegenübersteht. Die Antragsgegnerin hat ausdrücklich bestritten, dass die von dem Kindesvater getragenen Hausverbindlichkeiten die Höhe des durch die Immobilie geschaffenen Wohnwerts übersteigen. Zur Höhe dieses Wohnwertes, der beim Kindesunterhalt grundsätzlich mit der bei einer Fremdvermietung erzielbaren objektiven Marktmiete zu bemessen ist (BGH, Urt. v. 17.5.2006 - XII ZR 54/04, FamRZ 2006, 1100 [1104]; vgl. allerdings auch BGH BGHZ 154, 247, 252 ff. = FamRZ 2003, 1179, 1180 f.), hat der für die Einkommensverhältnisse seines Vaters darlegungs- und beweisbelastete Antragsteller bislang keinen Vortrag gehalten.
Rz. 17
5. Auch die Berechnung des unterhaltsrelevanten Einkommens aufseiten der Kindesmutter ist nicht frei von Rechtsfehlern. Insoweit sieht der Senat gem. § 74 Abs. 7 FamFG mit Blick auf den Senatsbeschluss vom heutigen Tage in der Parallelsache XII ZB 297/12 von einer weitergehenden Begründung der Entscheidung ab.
Rz. 18
Der Senat macht von der Möglichkeit des § 74 Abs. 6 Satz 3 FamFG Gebrauch. Bei der erneuten Behandlung wird das Beschwerdegericht auch zu beachten haben, dass das Einkommen des barunterhaltspflichtigen Elternteils bei der Ermittlung der vergleichbaren Einkünfte im Rahmen der Haftungsanteilsberechnung um den geschuldeten Barunterhalt zu bereinigen ist (vgl. Wendl/Klinkhammer 8. Aufl., § 2 Rz. 435).
Fundstellen