Leitsatz (amtlich)
Auch im Rahmen der vorrangigen Verpflichtung zur Wahrheitsermittlung ist auf die Achtung der menschlichen Würde eines Zeugen Bedacht zu nehmen. Beweiserhebungen zu dessen Privat- und Intimleben sind nur nach sorgfältiger Prüfung ihrer Unerläßlichkeit statthaft. Dies ist bei der Leitung eines Sachverständigen ebenso zu berücksichtigen wie bei der Zulassung von Fragen und bei der Entscheidung über den Umfang der Beweisaufnahme.
Normenkette
StPO §§ 68a, 77, 241 Abs. 2, § 244 Abs. 2-4
Verfahrensgang
LG Baden-Baden (Urteil vom 16.02.2004) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 16. Februar 2004 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Tatbestand
I.
1. Der Angeklagte gab der im selben Haus wie er wohnhaften Nebenklägerin im Oktober 2001 einen Zettel, auf den er „Ich liebe Sie von ganzem Herzen, wollen Sie mit mir gehen?” geschrieben hatte. Die gleichgeschlechtlich orientierte Nebenklägerin, die seit Jahren keine sexuellen Kontakte zu einem Mann gehabt hatte, hatte nicht reagiert und auch der Angeklagte war hierauf zunächst nicht zurückgekommen. Am 7. Dezember 2001 ließ ihn die Nebenklägerin in ihre Wohnung, weil er angeblich mit ihr reden wollte und sie glaubte, die ganze Angelegenheit ausräumen zu können. In der Wohnung bedrohte er sie mit einem Messer, schlug sie und vergewaltigte sie.
2. Noch am Tattag wurden Spermaspuren des Angeklagten in der Scheide der Nebenklägerin gesichert. Der Angeklagte wollte zwar „glauben machen”, diese Spur stamme von einem anderen Mann, räumte aber doch Geschlechtsverkehr ein und gab an, er hätte seit Monaten ein Verhältnis mit der Nebenklägerin gehabt. Mit der Anzeige räche sie sich dafür, daß er nicht für sie seine Familie verlasse.
Die Strafkammer hat die Behauptung eines schon länger bestehenden Verhältnisses als Erfindung bewertet, wegen des Zettels ebenso wie deshalb, weil ihm weder ihr Vorname noch die über 20 cm langen Narben unter ihren Brüsten bekannt waren.
3. Sie hat ihn wegen Vergewaltigung zu drei Jahren Freiheitsstrafe und zur Zahlung eines der Höhe nach noch nicht festgesetztes Schmerzensgeldes verurteilt.
Die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Entscheidungsgründe
II.
Über die, durch die Erwiderung der Revision nicht entkräfteten Darlegungen des Generalbundesanwalts hinaus bemerkt der Senat:
1. Da die Nebenklägerin es abgelehnt hat, sich (nochmals) begutachten zu lassen, geht das hierauf bezogene Revisionsvorbringen ins Leere; die beantragte Begutachtung wäre unzulässig gewesen (st. Rspr. vgl. BGHSt 13, 394, 398; 14, 21, 23; w. Nachw. bei Senge in KK 5. Aufl. § 81c Rdn. 9).
2. Die Revision rügt eine Verletzung von „§§ 406e, 337 StPO”, weil die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren dem Rechtsanwalt der Nebenklägerin Akteneinsicht gewährt hat. Später hat sich herausgestellt, daß die Nebenklägerin einigen auch als Zeugen gehörten Mitbewohnern Einsicht zumindest in Teile dieser Akten verschafft hat.
a) Hätte (erst) der Strafkammervorsitzende die Akteneinsicht gewährt (§ 406e Abs. 4 Satz 1, 2. Halbsatz StPO), wäre eine hierauf gestützte Verfahrensrüge unstatthaft, ohne daß es auf weiteres ankäme (§ 406e Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz StPO i. V. m. § 336 Satz 2 StPO; vgl. Hilger in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 406e Rdn. 17; anders wohl Velten in SK-StPO § 406e Rdn. 20).
Hier hat gemäß § 406e Abs. 4 Satz 1, 1. Halbsatz StPO die Staatsanwaltschaft entschieden. Der Beschuldigte hat (offenbar), aus welchen Gründen auch immer (etwa zunächst versagtes rechtliches Gehör kann nachgeholt werden, vgl. BGH NStZ 1991, 95), den zulässigen Rechtsbehelf nicht ergriffen. Dieser hätte zu einer nicht anfechtbaren richterlichen Entscheidung geführt, § 406 Abs. 4 Satz 2 StPO i. V. m. § 161a Abs. 3 Sätze 2 bis 4 StPO.
Es kann aber offen bleiben, welchen Einfluß dieser Verfahrensgang auf die Statthaftigkeit der Rüge hat, da sie hier auf keinen Fall Erfolg haben kann.
b) Wenn überhaupt, hätte hier Akteneinsicht gemäß § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO versagt werden können. Hinsichtlich der Frage nach einer etwaigen Gefährdung des Untersuchungszwecks besteht ein weiter Entscheidungsspielraum (Hilger aaO Rdn. 12). Die danach gebotene (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Mitteilung, ob und gegebenenfalls wie der Staatsanwalt seine Entscheidung begründet hat (vgl. § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO) fehlt aber ebenso wie die Mitteilung des konkreten Ermittlungsstands bei Erteilung der Akteneinsicht. Nur dann könnte beurteilt werden, ob eine Gefährdung des Untersuchungszwecks überhaupt in Betracht zu ziehen gewesen wäre. Auch zu der Frage, ob und warum zu diesem Zeitpunkt schon mit einer Weitergabe von Akten zu rechnen war (vgl. LG Bielefeld wistra 1995, 118, 120 m. w. N.), äußert sich die Revision nicht.
c) Unabhängig davon würde selbst ein in diesem Zusammenhang unterlaufener Verfahrensverstoß zu keinem Beweisverwertungsverbot führen (so aber Velten aaO Rdn. 13; offen gelassen bei Hilger aaO Rdn. 18), da ein Beweisverwertungsverbot regelmäßig einen rechtswidrigen Beweiserhebungsakt voraussetzt. Die Gewährung von Akteneinsicht stellt aber keine Beweiserhebung dar (vgl. Stöckel in KMR § 406e Rdn. 18). Aktenkenntnis, im übrigen auch wenn sie auf zu Recht gewährte Akteneinsicht zurückgeht, ist erforderlichenfalls bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen (vgl. Stöckel aaO). Dabei spricht es offensichtlich nicht für die inhaltliche Unrichtigkeit einer Aussage, wenn der Zeuge nach Akteneinsicht seine bereits aktenkundige Aussage wiederholt. Die Aussagen der übrigen in Rede stehenden Zeugen haben für die zentrale Frage nach Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit des Geschlechtsverkehrs ohnehin eine allenfalls sehr untergeordnete Bedeutung. Sie sollten zahlreiche vom Angeklagten behauptete Details zum Zustandekommen seines näheren Kontaktes mit der Nebenklägerin bestätigen, haben aber keine seiner Behauptungen auch nur ansatzweise bestätigt. So hatte er behauptet, die Nebenklägerin habe ihm etwa sieben Monate vor der Tat im April 2001 im Hof angesprochen; sie habe damals im Hof mit ihrem Sohn Federball gespielt, er (der Angeklagte) habe dort zur gleichen Zeit mit dem Hausmeister Holz gehackt. All dies erwies sich als zweifelsfrei falsch, weil der Sohn zu jener Zeit Soldat in M. war und der Hausmeister im ganzen ersten Halbjahr 2001 schwer erkrankt war. Soweit für all dies das genannte Geschehen im Zusammenhang mit der Akteneinsicht überhaupt von Bedeutung sein kann, hat es die Strafkammer in gebotenem Umfang gewürdigt.
d) Soweit die Revision schließlich bemängelt, der Vorsitzende habe in der Hauptverhandlung namens des Gerichts später nicht eingehaltene Zusagen zur Würdigung der genannten Aussagen gemacht, ist diesem Vorbringen schon deshalb nicht näher nachzugehen, weil es ausweislich der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden in tatsächlicher Hinsicht ins Leere geht.
3. Soweit die Revision zur Sachrüge ausführt, die Beweiswürdigung werde den Anforderungen bei „Aussage gegen Aussage” nicht gerecht, ist verkannt, daß diese vom Fehlen sonstiger Erkenntnisse gekennzeichnete Konstellation (st. Rspr., vgl. zuletzt BGH NStZ 2004, 635, 636) nicht vorliegt. Es gibt nämlich, z. B. mit dem Zettel, den Spermaspuren und den Narben eine Reihe von Indizien, die die Strafkammer in die Würdigung der zentralen Aussagen des Angeklagten einbeziehen konnte. Rechtsfehler sind dabei nicht ersichtlich; praktisch jede Behauptung des Angeklagten hat sich als falsch erwiesen.
4. Die Strafkammer ist von einem minder schweren Fall i. S. d. § 177 Abs. 5 StGB ausgegangen. Diese Annahme, die sich zumindest nicht aufdrängt, ist nicht fallbezogen konkret begründet. Es wäre auch zulässig gewesen, bei der Strafzumessung die ebenso ehrenrührige wie haltlose Behauptung des Angeklagten zu berücksichtigen, die Nebenklägerin sei eine Gelegenheitsprostituierte, (vgl. nur BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 14, 19 jew. m. w. N.), zumal sie mit seinem Verteidigungsvorbringen – Geschlechtsverkehr im Rahmen einer Beziehung; Anzeige weil er seine Familie nicht verlassen wollte – in keinem erkennbaren Zusammenhang steht. Zumindest wäre dies zu erörtern gewesen. All dies hat den Angeklagten aber nur begünstigt.
5. Das Vorbringen, der Adhäsionsantrag sei wegen Pfandlosigkeit des Angeklagten eine i. S. d. § 114 ZPO mutwillige Rechtsverfolgung, Prozeßkostenhilfe hätte daher (gemäß § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO) nicht gewährt werden dürfen, geht ins Leere. Die gemäß § 404 Abs. 5 Satz 3, 2. Halbsatz StPO unanfechtbare Entscheidung hierüber ist gemäß § 406a Abs. 2 Satz 1 StPO i. V. m. § 336 Satz 2 StPO im Revisionsverfahren nicht zu überprüfen. So wäre es im Ergebnis auch in einem Zivilprozess, § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO.
6. Die Revision bemängelt die Kostenentscheidung, (wohl nur) hinsichtlich der Adhäsionsentscheidung. Diese erstmals in der Revisionsbegründung vom 7. Mai 2004 (dort S. 87) enthaltenen, wenig spezifizierten Ausführungen können auf sich beruhen, weil sie verspätet sind. Einwände gegen die Kostenentscheidung wären im Rahmen einer zusätzlich zur Revision einzulegenden sofortigen Beschwerde (§ 464 Abs. 3 StPO, hier i. V. m. § 472a Abs. 1 StPO) innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist (§ 311 Abs. 2 StPO) anzubringen gewesen (vgl. BGH, Urteil vom 14. Januar 2003 – 1 StR 357/02 m. w. N.).
III.
Der Senat sieht Anlaß zu folgendem Hinweis:
Angesichts der Bedeutung der Aussage der Nebenklägerin für die Erweislichkeit eines schweren Verbrechens hat sich die Strafkammer zu Recht eingehend mit dieser Aussage auseinandergesetzt. Auch im Rahmen seiner vorrangigen Verpflichtung zur Wahrheitsermittlung hat das Gericht (ebenso wie auch die Ermittlungsbehörden) jedoch auf die Achtung der menschlichen Würde eines Zeugen, wie sie sich letztlich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt, Bedacht zu nehmen (vgl. nur BGHSt 48, 372 m. w. N.). „Aufgabe eines sozialen Rechtsstaates ist es nicht allein, darauf zu achten, daß die Straftat aufgeklärt und Schuld oder Unschuld in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt werden, sondern auch, daß die Belange des Opfers gewahrt werden” (so die Materialien zum OpferRRG vom 24. Juni 2004, BGBl. I 1354 ff., BTDrucks. 15/1976 S. 7 Abschnitt A II vor 1.). Die besondere Bedeutung dieser Grundsätze wird auch in dem Rahmenbeschluß der Europäischen Union über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. März 2001 (vgl. ABl. der Europäischen Gemeinschaft vom 22. März 2001, L 82/1 ff.) hervorgehoben, auf den die Materialien zum OpferRRG hinweisen (vgl. BTDrucks. 15/1976 und 15/2536 jeweils S. 1 Abschnitt A). In diesem Rahmenbeschluß wird unter anderem „das Recht auf eine Behandlung unter Achtung der Würde des Opfers” und dessen Recht „in den verschiedenen Phasen des Verfahrens geschützt zu werden” (vor Artikel 1, Abschnitt 8) betont. Dementsprechend heißt es in dem genannten Rahmenbeschluß weiter, daß sich die Mitgliedsstaaten „weiterhin nach Kräften (bemühen), um zu gewährleisten, daß das Opfer während des Verfahrens mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandelt wird” (Art. 2 Abs. 1 Satz 2) und daß die Mitgliedsstaaten „die gebotenen Maßnahmen (ergreifen), damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen” (Art. 3 Abs. 2). Aus alledem folgt etwa, daß Erörterungen und Beweiserhebungen zu Privat- und insbesondere auch Intimleben eines Zeugen, die zu dem Verfahrensgegenstand in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen, nur nach sorgfältiger Prüfung ihrer Unerläßlichkeit statthaft sind. Dies ist bei der Leitung der Tätigkeit eines Sachverständigen (§ 77 StPO) ebenso zu berücksichtigen, wie bei der Zulassung von Fragen (§§ 68a, 241 Abs. 2 StPO) und vor allem bei der Entscheidung über den Umfang der Beweisaufnahme (§ 244 Abs. 2 bis 4 StPO). Der Grundsatz, daß eine ausufernde Aufklärung nicht geboten ist (vgl. hierzu Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 244 Rdn. 13 m. w. N.), hat in dem in Rede stehenden Zusammenhang besonderes Gewicht.
1. Die Strafkammer hat sich zur Aussagetüchtigkeit und zur Glaubhaftigkeit der Aussagen der Nebenklägerin psychiatrisch beraten lassen.
a) „Aussagetüchtigkeit” bedeutet die Fähigkeit eines Menschen zu einer richtigen und vollständigen Aussage (vgl. nur Schumacher in StV 2003, 641). Der Richter, der glaubt, hierüber ohne sachverständige Hilfe nicht befinden zu können, ist freilich in seiner Entscheidung frei, ob er einen Psychiater oder einen Psychologen beauftragt (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 4 m. w. N.). Psychiatrische Beratung wird aber nur dann angezeigt sein, wenn die Zeugentüchtigkeit dadurch in Frage gestellt ist, daß der Zeuge an einer geistigen Erkrankung leidet oder sonst Hinweise darauf vorliegen, daß die Zeugentüchtigkeit durch aktuelle psychopathologische Ursachen beschränkt sein kann (vgl. BGH StV 2002, 293 m. w. N.). Ob für eine entsprechende Überprüfung überhaupt Anhaltspunkte bestehen, hat der Richter (im Ermittlungsverfahren der Staatsanwalt) zu entscheiden, der dem Sachverständigen die konkreten Gründe für die Notwendigkeit einer Begutachtung verdeutlichen sollte. Nur so kann vermieden werden, daß, wie hier, der Sachverständige zwar zum Ergebnis kommt, es gebe keinen psychisch auffälligen Befund, er aber gleichwohl eingehend untersucht und erörtert, ob die Nebenklägerin psychotisch, schwachsinnig oder sonst ernsthaft gestört sein könnte. Ebenso wenig ist angezeigt, im Hinblick auf eine mögliche Einschränkung der Aussagetüchtigkeit durch Alkoholismus, über Jahre zurück den nicht immer unproblematischen Umgang der Nebenklägerin mit Alkohol in allen Details und auch allen Peinlichkeiten – bis hin zur Frage eines Zusammenhangs zwischen Alkoholismus und dem zwar unaufgeräumten aber doch hygienisch einwandfreien Zustand ihrer Wohnung – zu ermitteln und auch sachverständig bewerten zu lassen, nur um dann zu dem Ergebnis zu kommen, jeder Zusammenhang zwischen Alkohol und der Aussage sei ausgeschlossen.
b) Bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage im übrigen ist letztlich nicht zwischen allgemeiner Glaubwürdigkeit und spezieller Glaubwürdigkeit unterschieden (vgl. schon BGH StV 1994, 64 m. w. N.; eingehend Boetticher in NJW Sonderheft für G. Schäfer 8, 12 m. w. N.); dementsprechend steht weniger die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Zeugen im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft (sein „Leumund”) im Vordergrund, sondern vorrangig um die Analyse des Aussageinhalts, d. h. um eine methodische Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben einem tatsächlichen Erleben des Zeugen entsprechen (vgl. BGHSt 45, 164; StV 2002, 639, 640). Scharfe Abgrenzungen sind nicht immer möglich, sondern richten sich nach den Umständen des Einzelfalles. So kann früheres Verhalten vor allem dann durchaus Schlußfolgerungen zulassen, wenn die entsprechenden Lebenssituationen mit der jetzigen vergleichbar sind. Fehlverhalten der Nebenklägerin bei oder nach der Beendigung privater Beziehungen könnte dann also etwa hier von Bedeutung sein, wenn auch hier die Beendigung einer privaten Beziehung im Raum stünde (vgl. etwa Maiwald in AK-StPO § 261 Rdn. 24). Dies ist jedoch, wie die Erheblichkeit jeder anderen Hilfstatsache, vorab zu klären. Es erscheint nicht angezeigt, vergleichbar der Frage nach dem Alkoholismus, mit Hilfe zahlreicher Zeugen die Beendigung einer Reihe von privater Beziehungen genauestens nachzuzeichnen, Fehlreaktionen und Fehlverhalten der Nebenklägerin dabei in allen Einzelheiten zum Gegenstand der Beweisaufnahme (und teilweise auch Begutachtung) zu machen, nur um dann zu dem Ergebnis zu kommen, all dies sei gleichgültig, weil es keinerlei Anhaltspunkte dafür gebe, daß zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin je irgendeine Beziehung bestanden hätte.
2. Noch weniger zu erkennen ist die Notwendigkeit, so, wie geschehen, eingehend – ohne daß sich im übrigen irgend ein Anhaltspunkt ergeben hätte – etwa darüber Beweis zu erheben, ob die Nebenklägerin mit den für das Haus zuständigen Briefträgern und (oder) Kaminkehrern Geschlechtsverkehr gehabt hat. Selbst wenn dies, sei es auch gegen Geld, so gewesen wäre und sie nicht bereit gewesen wäre, dies zuzugeben, hätte es vor solchen Beweisaufnahmen eingehender Überlegung bedurft, ob sich dies überhaupt auf die Entscheidung auswirken könnte. Von selbst versteht sich dies hier nicht. Für die ähnlich intensiv (und mit vergleichbarem Ergebnis) geprüfte Frage, ob die vor Jahren gegen die Nebenklägerin anonym vorgebrachte Beschuldigung einer Frau, die Nebenklägerin habe mit ihr eine zunehmend von Gewalt geprägte sexuelle Beziehung gehabt und der damals minderjährige Sohn der Nebenklägerin sei einbezogen gewesen, entgegen den damaligen polizeilichen Ermittlungen nicht doch einen wahren Kern haben könne, gilt nichts anderes.
3. Die Nebenklägerin war nicht bereit, sich nochmals begutachten zu lassen (vgl. oben II. 1.). Die – unbeschadet aller rechtlichen Einzelheiten jedenfalls nicht wünschenswerte – Weitergabe der Akten durch die Nebenklägerin an ihr Umfeld (vgl. oben II. 2. vor a)) nach den eingehenden Ermittlungen in diesem Umfeld zu ihrem Privatleben deutet in ähnliche Richtung. Es liegt nahe, daß es sich bei alledem um Gegenreaktionen der Nebenklägerin darauf handelt, daß bei ihr der Eindruck erweckt wurde, nicht die Frage, ob sie Opfer einer Straftat wurde, stehe im Mittelpunkt des Verfahrens, sondern Ausforschung und Bewertung ihres Lebens („erste lesbische Erfahrungen ca. 1985”) mit all seinen Stärken („Übersiedlung aus der DDR bewältigt”) und Schwächen („episodischer Alkoholmißbrauch”). Auch wenn vorliegend weder ein Nutzen weiterer Begutachtung noch eine Beeinträchtigung des Werts wesentlicher Aussagen erkennbar ist, wird durch das aufgezeigte Verhalten der Nebenklägerin im Verfahren doch deutlich, daß durch Art und Umfang der sie betreffenden Überprüfungen in der Tendenz selbst das Ziel der Wahrheitsermittlung eher gefährdet als gefördert wurde.
Unterschriften
Nack, Wahl, Hebenstreit, Elf, Graf
Fundstellen
Haufe-Index 2556134 |
NJW 2005, 1519 |
DSB 2005, 18 |
JuS 2005, 759 |
Kriminalistik 2006, 45 |