Verfahrensgang
LG Hamburg (Urteil vom 23.07.2020; Aktenzeichen 3500 Js 34/19 625 KLs 8/20 2 Ss 110/20) |
Tenor
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 23. Juli 2020 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die äußeren Feststellungen zu den Anlasstaten in den Fällen II.1, 2, 4, 8 und 10 der Urteilsgründe aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen gerichtete und auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Beschuldigten hat mit der Sachrüge – die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt und daher unzulässig – den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Die Maßregelanordnung gemäß § 63 StGB hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB und damit zugleich der Voraussetzungen des § 63 StGB ist in den Fällen II.2 bis II.4, II.6 bis II.9 sowie II.11 der Urteilsgründe nicht tragfähig belegt.
Rz. 3
a) Das Landgericht hat – sachverständig beraten – die Überzeugung gewonnen, dass der Beschuldigte neben einer Polytoxikomanie an einer chronifizierten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis leidet. Davon ausgehend hat es – auch hierin dem psychiatrischen Sachverständigen folgend – angenommen, dass die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten in den Fällen II.1 und II.10 der Urteilsgründe bei erhaltener Einsichtsfähigkeit erheblich im Sinne des § 21 StGB vermindert und der Beschuldigte im Fall II.5 der Urteilsgründe voll schuldfähig war. In den Fällen II.2 bis II.4 sowie II.6 bis II.9 sowie im Fall II.11 der Urteilsgründe hat das Landgericht angenommen, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten jeweils „jedenfalls erheblich vermindert, nicht ausschließbar sogar vollständig aufgehoben” gewesen sei.
Rz. 4
b) Die Ausführungen zur Schuldfähigkeit in den Fällen II.2 bis II.4 und II.6 bis II.9 und II.11 der Urteilsgründe begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Sie lassen besorgen, dass das Landgericht die Auffassung vertritt, mit der Feststellung erheblich verminderter Einsichtsfähigkeit seien die Voraussetzungen des § 21 StGB erfüllt und damit auch die Grundlage für die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB gegeben. Eine verminderte Einsichtsfähigkeit ist indes strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Unrechtseinsicht zur Folge hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 25. Juli 2012 – 1 StR 332/12 und vom 3. April 2007 – 4 StR 64/07; Urteil vom 2. Februar 1966 – 2 StR 529/65, BGHSt 21, 27, 28; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 21 Rn. 3). Derjenige, der trotz erheblich verminderter Einsichtsfähigkeit im konkreten Fall Einsicht in das Unrecht seines Tuns hat, ist – sofern nicht seine Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war – voll schuldfähig. In einem solchen Fall ist auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht zulässig (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. November 2012 – 1 StR 504/12 und vom 10. Dezember 2009 – 4 StR 437/09; Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 40/86, BGHSt 34, 22, 25).
Rz. 5
2. Der aufgezeigte Rechtsfehler zieht die Aufhebung des Maßregelausspruchs nach sich. Der Senat hebt auch die Feststellungen in sämtlichen der Maßregelanordnung zugrundeliegenden Anlasstaten auf, um dem neu zur Entscheidung berufenen Tatgericht insgesamt stimmige Feststellungen zur Schuldfrage zu ermöglichen. Die Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen in den Fällen II.1, 2, 4, 8 und 10 der Urteilsgründe können bestehen bleiben, da sie rechtsfehlerfrei getroffen sind. Die Feststellungen zu den Anlasstaten in den Fällen II.3, II.5 bis 7, II.9 und II. 11 der Urteilsgründe können nicht bestehen bleiben, denn sie begegnen weiteren durchgreifenden rechtlichen Bedenken:
Rz. 6
a) Soweit das Landgericht im Fall II.3 der Urteilsgründe neben dem Vergehen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 StVG) auch den Straftatbestand der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 Abs. 1 und 2 StGB als verwirklicht angesehen hat, weil der Beschuldigte am 5. März 2019 ein Kraftfahrzeug führte und dabei infolge vorangegangener Einnahme von Medikamenten fahruntüchtig war, ist das Tatbestandsmerkmal der Fahruntüchtigkeit bereits objektiv nicht tragfähig belegt.
Rz. 7
Die Feststellungen und die sie tragenden Beweiserwägungen sind auf die Mitteilung beschränkt, dass der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Fahrt „aufgrund des Konsums des Schlaf- und Beruhigungsmittels Clonazepam sowie des Antidepressivums Trimipramin und Fluoxetin” nicht in der Lage gewesen sei, ein Kraftfahrzeug sicher zu führen. Abgesehen davon, dass Feststellungen zu den Blutwirkstoffkonzentrationen fehlen, die nach ständiger Rechtsprechung des Senats allerdings für sich genommen zum Nachweis rauschmittelbedingter Fahrunsicherheit ohnehin nicht ausreichend gewesen wären (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. Juni 2015 – 4 StR 111/15; vom 21. Dezember 2011 – 4 StR 477/11, NStZ 2012, 324, 325 und vom 3. November 1998 – 4 StR 395/98, BGHSt 44, 219, 222), hätte es der Feststellung und näheren Erörterung aussagekräftiger Beweisanzeichen bedurft, die im konkreten Einzelfall belegten, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des Beschuldigten so weit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig war, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern (vgl. BGH, Urteil vom 15. April 2008 – 4 StR 639/07, NZV 2008, 528). Hieran fehlt es.
Rz. 8
b) Im Fall II.5 der Urteilsgründe ist weder festgestellt noch tragfähig belegt, dass der Beschuldigte das nicht näher beschriebene „Schweizertaschenmesser” bei dem von ihm begangenen Diebstahl von Waren aus einem Lebensmittelmarkt bewusst gebrauchsbereit (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2005 – 4 StR 170/05, NStZ-RR 2005, 340; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. November 2001 – 3 StR 407/01, StV 2002, 191) mit sich führte und damit vorsätzlich im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB handelte. Dies versteht sich nicht von selbst und hätte daher der Feststellung und näherer Erörterung bedurft, zumal dem Urteil Hinweise zu Größe und Beschaffenheit des verfahrensgegenständlichen Messers nicht zu entnehmen sind.
Rz. 9
c) In den vom Landgericht jeweils als rechtswidrige Tat des versuchten Diebstahls gewerteten Fällen II.6, 7 und 9 der Urteilsgründe ist die Zueignungsabsicht des Beschuldigten nicht tragfähig belegt. Denn angesicht der Feststellungen im Fall II.3 der Urteilsgründe – der Beschuldigte hatte in jedem Fall das Fahrzeug, wie er glaubhaft angegeben hatte, nur vorübergehend genutzt und war mit ihm auf den Parkplatz, auf dem der Berechtigte es abgestellt hatte, zurückgekehrt – versteht sich ein auf eine Zueignungsabsicht gerichteter Tatentschluss in den Fällen II.6, 7 und 9 nicht von selbst und hätte daher näherer Erörterung bedurft. Auch die Annahme eines Fehlschlags ist jedenfalls im Fall II.9 der Urteilsgründe nicht tragfähig belegt. Es fehlt an Feststellungen zum Vorstellungsbild des Beschuldigten nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung (Rücktrittshorizont; st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 27. März 2018 – 4 StR 593/17).
Rz. 10
d) Schließlich begegnet auch die rechtliche Würdigung im Fall II.11 der Urteilsgründe rechtlichen Bedenken. Im Hinblick auf die Annahme eines Diebstahls fehlt es – wie in den Fällen II.6, 7 und 9 der Urteilsgründe – an tragfähigen Beweiserwägungen zur Zueignungsabsicht des Beschuldigten hinsichtlich des in Gebrauch genommenen Kraftfahrzeugs. Auch die Annahme einer tateinheitlichen Verwirklichung des Tatbestands der fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 3 Nr. 2 StGB begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Es fehlt an Feststellungen und tragfähigen Beweiserwägungen für die Annahme der Fahruntüchtigkeit des Beschuldigten; der bloße Hinweis, der Beschuldigte habe zur Tatzeit unter dem Einfluss der berauschenden Mittel „Methadon sowie Benzodiazepine und Z-Substanzen” gestanden und ein durchgeführter standardisierter Fahrtüchtigkeitstest sei negativ ausgefallen, genügt – wie zu Fall II.3 der Urteilsgründe dargelegt – insoweit nicht. Schließlich ist weder festgestellt noch tragfähig belegt, dass zwischen Fahrunsicherheit und konkreter Gefahr auch der erforderliche Ursachenzusammenhang bestand (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2019 – 4 StR 560/19, NStZ-RR 2020, 121) noch dass eine fremde Sache von bedeutendem Wert gefährdet wurde.
Rz. 11
3. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird Gelegenheit haben, sich eingehender als bisher geschehen mit der Frage der Verhältnismäßigkeit der Maßregelanordnung nach § 63 StGB auseinanderzusetzen.
Unterschriften
Sost-Scheible, Quentin, Bartel, Lutz, Maatsch
Fundstellen
Haufe-Index 14509484 |
NStZ 2022, 34 |
NStZ-RR 2021, 6 |
StV 2022, 290 |
RPsych 2021, 446 |