Normenkette
ZPO §§ 3, 511 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
LG Stralsund (Entscheidung vom 28.01.2021; Aktenzeichen 1 S 68/20) |
AG Greifswald (Entscheidung vom 25.06.2020; Aktenzeichen 45 C 227/18) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landgerichts Stralsund - 1. Zivilkammer - vom 28. Januar 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 1.000 €.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Parteien sind Nachbarn. Das im Eigentum der Klägerin stehende, mit einem Einfamilienhaus bebaute Grundstück liegt an einer öffentlichen Straße. Es ist mit einer Grunddienstbarkeit in Form eines Wege- und Leitungsrechts zugunsten des Eigentümers des dahinterliegenden Grundstücks belastet, das den Beklagten gehört und das ebenfalls mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Am Beginn des über das Grundstück der Klägerin führenden Verbindungsweges befindet sich auf der Grenze zum öffentlichen Straßenraum eine von der Klägerin errichtete Toranlage. Auch die Zufahrt zu dem Grundstück der Beklagten am Ende des Verbindungsweges ist mit einem Tor versehen. Entlang der östlichen Grenze des Verbindungsweges wird das Grundstück der Klägerin durch einen etwa 50 cm hohen Steinwall, einen Zaun und ein zweiflügeliges Tor begrenzt.
Rz. 2
Mit ihrer Klage beantragt die Klägerin, die Beklagten zu verpflichten, nach jeder Benutzung der am Beginn des Verbindungswegs befindlichen Toranlage das Tor wieder zu schließen, ohne dieses abzuschließen, und dafür Sorge zu tragen, dass dritte Personen, insbesondere Postzusteller, für die Beklagten tätige Handwerker, Gäste oder sonstige Besucher das Tor nach jeder Benutzung wieder schließen, ohne es abzuschließen. Das Amtsgericht hat der Klage für den Zeitraum zwischen 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Die Berufung, mit der die Klägerin erreichen möchte, dass das Tor auch in der übrigen Zeit zwischen 6.00 Uhr bis 22.00 Uhr von den Beklagten geschlossen zu halten ist, hat das Landgericht als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 3
Das Berufungsgericht sieht die Berufung gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO als unzulässig an, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 600 € nicht übersteige. Den Wertverlust, den ihr Grundstück durch die Öffnung des Weges zwischen 6.00 Uhr und 22.00 Uhr erführe, habe die Klägerin mit mindestens 4.000 € bemessen und dies damit begründet, wegen ihres Sicherungs- und Schutzinteresses müsse sie bei Bestand des erstinstanzlichen Urteils das Tor mit einer elektrischen Toröffnung nebst Videoüberwachung ausstatten, damit sie eine Kontrolle über die jeweilige Nutzung des Tores sowie die Sicherheit habe, dass es geschlossen sei. Da aber das nicht abgeschlossene Tor auch bei geschlossenem Zustand jederzeit von jedem geöffnet werden könne, sei das Verlangen der Klägerin nach Verschließen des Tores, ohne es abzuschließen, nicht geeignet, ihrem Sicherheitsinteresse nachzukommen. Deshalb komme der begehrten Handlung der Beklagten kein messbarer Wert zu; ein Wertverlust des Grundstücks sei nicht erkennbar. Soweit die Klägerin auf die Errichtung einer neuen Zaunanlage auf ihrem Grundstück im Bereich des Steinwalls zu einem Preis von ca. 1.300 € abstelle, die bei einem Bestand des erstinstanzlichen Urteils zur Einfriedung ihres Grundstücks erforderlich sei, sei auch dieser Betrag nicht als Beschwer maßgebend.
III.
Rz. 4
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO) erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, weil das Berufungsgericht das ihm bei der Bemessung der Beschwer eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt und der Klägerin damit den Zugang zu der an sich gegebenen Berufung unzumutbar erschwert hat (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Januar 2016 - V ZB 66/15, NJW-RR 2016, 509 Rn. 6 mwN).
Rz. 5
2. In der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg. Mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung lässt sich eine 600 € übersteigende Beschwer der Klägerin im Sinne von § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht verneinen.
Rz. 6
a) Bei Abweisung einer Klage auf Unterlassung einer Eigentumsstörung bemisst sich die Beschwer der klagenden Partei nach ihrem Interesse an der Unterlassung der Störung; dieses Interesse ist unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gemäß § 3 ZPO zu bestimmen (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Januar 2016 - V ZR 94/15, juris Rn. 7 mwN). Hierbei ist die Wertminderung, die das Grundstück bzw. die von der Störung betroffene Grundstücksfläche der klägerischen Partei durch die zu unterlassende Störung erleidet, regelmäßig ein geeigneter Anhaltspunkt für die Bemessung der Beschwer (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Juli 2018 - V ZB 218/17, NZM 2019, 349 Rn. 7 mwN; Urteil vom 6. November 1998 - V ZR 48/98, ZfIR 1998, 749). Davon geht auch das Berufungsgericht aus und nimmt jedenfalls vertretbar an, dass sich ein Wertverlust des Grundstücks bei Öffnung des Weges zwischen 6.00 Uhr und 22.00 Uhr nicht feststellen lasse.
Rz. 7
b) Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Klägerin durch das Urteil überhaupt nicht beschwert ist, wie das Berufungsgericht meint. Nach der Rechtsprechung des Senats kann in den Fällen, in denen sich die Wertminderung des Grundstücks - etwa wegen des Bagatellcharakters der Störung - nur schwer (oder überhaupt nicht) ermitteln lässt, während gleichzeitig feststeht, dass der Kläger die Beeinträchtigung mit verhältnismäßig geringem Aufwand abwehren kann, sein Interesse an dem Erfolg der Unterlassungsklage nach diesen Kosten bemessen werden (vgl. Senat, Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 45/10, WuM 2011, 296 Rn. 8). Wie hoch diese Kosten sind, hat das Berufungsgericht unabhängig von einer Glaubhaftmachung des Werts der Beschwer durch den Berufungsführer (§ 511 Abs. 3 ZPO) bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung auf Grund eigener Lebenserfahrung und Sachkenntnis nach freiem Ermessen gemäß § 3 ZPO zu schätzen (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Juni 2018 - V ZB 254/17, NJW-RR 2018, 1421 Rn. 6 mwN). Dass das Berufungsgericht das ihm unter diesem Aspekt eingeräumte Ermessen erkannt und durch eine eigene Schätzung ausgeübt hat, lässt sich der Entscheidung nicht entnehmen.
Rz. 8
3. Hat das Berufungsgericht die erforderliche Schätzung nicht vorgenommen, kann diese durch das Rechtsbeschwerdegericht nachgeholt werden, wenn die Feststellungen des Berufungsgerichts für eine solche Schätzung ausreichen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2012 - LwZB 3/11, NJW-RR 2012, 1103 Rn. 17; Senat, Beschluss vom 21. Juni 2018 - V ZB 254/17, NJW-RR 2018, 1421 Rn. 8). So liegt es hier. Der Wert der Beschwer der Klägerin beträgt jedenfalls mehr als 600 €.
Rz. 9
a) Da die Beklagten bei dem Einbau einer elektrischen Toranlage zu dem Schließen des Tors bereit wären, bieten zunächst die hierfür erforderlichen Kosten einen tauglichen Anhaltspunkt für eine Schätzung des (Sicherungs-)Interesses der Klägerin an einer stattgebenden Entscheidung. Auch wenn nicht von einem Kostenaufwand in Höhe von 4.000 € ausgegangen werden kann, den die Klägerin in Ansatz bringt, da hierin auch die Kosten für eine - über das bloße Schließen des Tors hinausgehende - Videoanlage enthalten sind, fallen nach der Lebenserfahrung für eine elektrische Toranlage jedenfalls mehr als 600 € an. Dem steht nicht entgegen, dass der Senat in einem Fall, in dem ebenfalls das Schließen eines Tors nach dem Passieren beansprucht wurde, die Annahme des Berufungsgerichts nicht beanstandet hat, die von dem Verhalten des Beklagten ausgehende Störung lasse sich mit einem Kostenaufwand von höchstens 150 € durch Anbringen einer Vorrichtung abwehren, die das Tor, etwa durch Federkraft, nach dem Öffnen automatisch schließe (vgl. Senat, Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 45/10, WuM 2011, 296 Rn. 4, 9). In dieser Entscheidung ging es nämlich um das Schließen eines Tors durch einen Fußgänger, während hier auch das Passieren des Tors mit einem Kraftfahrzeug in Rede steht, bei dem eine solche Vorrichtung nicht funktioniert.
Rz. 10
b) Unabhängig davon bieten die Kosten, die die Klägerin bei einem Bestand des erstinstanzlichen Urteils für die (weitere) Einfriedung ihres Grundstücks aufzuwenden beabsichtigt, einen Anhaltspunkt für die Bemessung des Sicherungsinteresses, das die Klägerin mit der von ihr beanspruchten Schließung des Tors verfolgt. Hierzu hat sie einen Kostenvoranschlag vorgelegt für die Errichtung einer neuen Zaunanlage im Bereich des Steinwalls, um auf diese Weise auch ohne Schließen des Tors am Beginn des Verbindungswegs eine - mit Ausnahme der von diesem Weg in Anspruch genommenen Fläche - vollständige Einfriedung ihres Grundstücks zu erreichen. Auch wenn insoweit nicht die vollen Kosten von rund 1.300 € in Ansatz gebracht werden können, weil der Zaun einen höheren Schutz bietet als ein zwar geschlossenes, aber nicht abgeschlossenes Tor, kann jedenfalls ein Teil der Kosten als Schätzgrundlage für die Bemessung der Beschwer der Klägerin herangezogen werden. Dieser Teil liegt nach der Einschätzung des Senats jedenfalls über 600 €.
IV.
Rz. 11
1. Danach durfte die Berufung nicht als unzulässig verworfen werden, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 600 € übersteigt. Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
Rz. 12
2. Den Gegenstandswert hat der Senat anhand der Festsetzung des Berufungsgerichts bemessen.
Stresemann |
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Brückner |
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Göbel |
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Malik |
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Laube |
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Fundstellen