Verfahrensgang
LG Dortmund (Entscheidung vom 13.05.2022; Aktenzeichen 31 KLs 29/21) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 13. Mai 2022
a) im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte in Fall II. 2. der Urteilsgründe nur wegen Freiheitsberaubung verurteilt wird,
b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Raub und Freiheitsberaubung in Tateinheit mit „vorsätzlicher“ Körperverletzung unter Einbeziehung eines Urteils des Amtsgerichts Unna vom 27. November 2020 zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, die mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet worden ist. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 2
1. Die Verfahrensrüge ist unausgeführt und daher nicht zulässig im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erhoben worden.
Rz. 3
2. Der Schuldspruch war, wie aus der Beschlussformel ersichtlich, abzuändern.
Rz. 4
a) Die tateinheitliche Verurteilung wegen Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB in Fall II. 2. der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, da insoweit ein Verfahrenshindernis besteht. Der Zeuge S. als Verletzter dieser Tat im Sinne von § 77 Abs. 1 StGB hat weder einen Strafantrag gestellt, noch hat die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht (§ 230 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 StGB). Eine solche Erklärung ist auch nicht konkludent der Anklageschrift oder dem Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft zu entnehmen. Die Anklage umfasste in Fall II. 2. der Urteilsgründe nur den Vorwurf eines erpresserischen Menschenraubs gemäß § 239a Abs. 1 StGB in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB. Da es sich dabei jeweils um Offizialdelikte handelt, kann darin nicht die Bejahung eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung auch wegen einer einfachen Körperverletzung für den Fall gesehen werden, dass das Gericht - wie hier - nicht von einer qualifizierten Tat ausgeht (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2017 - 2 StR 79/17, NStZ-RR 2017, 251, 252 Rn. 25; Beschluss vom 7. Mai 2015 - 2 StR 108/15 Rn. 4; Beschluss vom 30. Juli 2013 - 4 StR 247/13, NStZ-RR 2013, 349; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 230 Rn. 4; Hardtung in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 230 Rn. 39, jew. mwN). Auch der Schlussantrag der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft lässt nicht erkennen, dass er sich auf das Antragsdelikt bezog (vgl. Eschelbach in BeckOK-StGB, 56. Ed., § 230 Rn. 18.3 mwN).
Rz. 5
Zwar kann das besondere öffentliche Interesse auch noch nachträglich im Revisionsverfahren vom Generalbundesanwalt bejaht werden (st. Rspr.; vgl. bereits BGH, Urteil vom 1. Juli 1954 - 3 StR 869/53, BGHSt 6, 282, 284 f.; Urteil vom 3. Juli 1964 - 2 StR 208/64, BGHSt 19, 377, 381; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 230 Rn. 4 mwN), und zwar auch konkludent in der Antragsschrift nach § 349 Abs. 2 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2000 - 4 StR 464/00, NStZ 2001, 313; insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 46, 225). Ausreichende Anhaltspunkte für einen auf die tateinheitliche Verurteilung wegen Körperverletzung in Fall II. 2. der Urteilsgründe gerichteten Verfolgungswillen hat der Senat jedoch der Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 3. Februar 2023 nicht zu entnehmen vermocht.
Rz. 6
b) Der Senat lässt daher die tateinheitliche Verurteilung wegen Körperverletzung in Fall II. 2. der Urteilsgründe entfallen. Dieser Schuldspruchänderung steht die Vorschrift des § 265 Abs. 1 StPO nicht entgegen, da sich der Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.
Rz. 7
3. Der Strafausspruch hat keinen Bestand, da er in mehrfacher Hinsicht Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist.
Rz. 8
a) Das Landgericht hat zur Begründung des Vorliegens schädlicher Neigungen im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 1, § 105 Abs. 2 JGG bei dem Angeklagten unter anderem angeführt, dass er in der Hauptverhandlung „trotz einer gewissen Unrechtseinsicht nach wie vor nicht die volle Verantwortung für sein Handeln übernehmen wollte“ und seine Einlassung „eine deutliche Beschönigung insbesondere des Tatgeschehens zu Ziffer II. 2.“ darstellte. Damit hat es gegen den auch im Jugendstrafecht geltenden Grundsatz verstoßen, dass zulässiges Verteidigungsverhalten nicht zum Nachteil des Angeklagten verwertet werden darf (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2021 - 6 StR 22/21 Rn. 2; Beschluss vom 4. Oktober 2008 - 3 StR 336/08, NStZ-RR 2009, 148; Brögeler in BeckOK-JGG, 28. Ed., § 18 Rn. 18; Kölbel in Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., § 18 Rn. 31, jew. mwN).
Rz. 9
b) Auch die Ausführungen zu einem neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs eines am 30. Dezember 2021 begangenen Raubes sind mangels näherer Feststellungen hierzu nicht nachvollziehbar und daher nicht zur Begründung dafür geeignet, dass die schädlichen Neigungen im maßgeblichen Urteilszeitpunkt noch fortbestanden (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Mai 2016 - 3 StR 78/16, NStZ 2016, 682; Beschluss vom 3. September 1997 - 2 StR 343/97 Rn. 3; Brögeler in BeckOK-JGG, 28. Ed., § 18 Rn. 19 mwN).
Rz. 10
c) Die knappen Ausführungen zur Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Unna vom 27. November 2020 gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1, § 105 Abs. 2 JGG lassen die gebotene neue, selbstständige und am Erziehungsgedanken orientierte Gesamtwürdigung aller der Einbeziehung unterliegenden Delikte vermissen (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 27. Oktober 2022 - 4 StR 184/22 Rn. 3; Beschluss vom 10. Juni 2020 - 4 StR 228/20, StV 2020, 683; Beschluss vom 21. Mai 2008 - 2 StR 162/08, NStZ 2009, 43; Beschluss vom 14. April 1988 - 1 StR 139/88, StV 1989, 308; Kölbel in Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., § 31 Rn. 63b mwN).
Rz. 11
d) Zudem hätte das Landgericht den Vollstreckungsstand der durch das Amtsgericht Unna am 5. April 2019 erteilten Weisung bzw. Auflage zur Erbringung von Arbeitsleistungen mitteilen müssen, um dem Senat die Überprüfung zu ermöglichen, ob die Nichteinbeziehung dieser früheren Verurteilung zu Recht erfolgt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. November 2022 - 3 StR 383/22 Rn. 4; Beschluss vom 13. Juli 2021 - 6 StR 304/21 Rn. 4; Kölbel in Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., § 31 Rn. 63 mwN).
Rz. 12
e) Der Senat hebt daher den Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatgericht eine umfassende und widerspruchsfreie Strafzumessung zu ermöglichen.
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RiBGH Dr. Scheuß ist wegen Urlaubs an der Unterschrifts- leistung gehindert. |
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Fundstellen
Haufe-Index 15705709 |
NStZ-RR 2023, 204 |