Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf ein faires Verfahren als „allgemeines Prozessgrundrecht” und sich daraus ergebende Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den Prozessparteien. Begründetheit eines auf ein Verstoß gegen diesen Grundsatz gestützten Wiedereinsetzungsantrags

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Es verstößt gegen den sich aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip ergebenden Anspruch auf ein faires Verfahren, wenn das Gericht die Partei nicht auf einen Formmangel hingewiesen, aber eine Verfahrensweise mitgeteilt hat, die nur bei Einhaltung der Formvorschrift angebracht gewesen wäre.

2. Ein auf diesen Verstoß gestützter Wiedereinsetzungsantrag ist nur begründet, wenn die betroffene Partei darlegt und glaubhaft macht, dass der Verstoß für die Fristversäumnis ursächlich gewesen ist.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1; ZPO §§ 233, 522 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Flensburg (Beschluss vom 28.08.2003)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Flensburg v. 28.8.2003 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 2.500 Euro.

 

Gründe

I.

Gegen das seinem erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten am 30.4.2003 zugestellte Urteil des AG hat der in der zweiten Instanz zunächst für den Beklagten tätig gewordene Rechtsanwalt am 28.5.2003 Berufung eingelegt. Auf seinen Antrag hat das LG die Frist zur Begründung der Berufung bis zum 30.7.2003 verlängert.

Mit Schriftsatz v. 17.7.2003 hat dieser Prozessbevollmächtigte des Beklagten dem LG die Niederlegung des Mandats mitgeteilt; zugleich hat er angekündigt, dass der Beklagte einen anderen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragen und dieser eine weitere Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist beantragen werde.

Der Beklagte hat am 30.7.2003 zu Protokoll der Geschäftsstelle des LG die Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung bis zum 30.8.2003 beantragt. Dazu hat er erklärt, dass er nach der Mandatsniederlegung seines früheren Prozessbevollmächtigten bei einem anderen Rechtsanwalt noch keinen Besprechungstermin bekommen habe, dass für die angesprochenen Rechtsanwälte die Sache zu komplex sei und dass er früher oder später einen Rechtsanwalt finden werde.

Der jetzige zweitinstanzliche Prozessbevollmächtigte des Beklagten hat mit einem am 6.8.2003 bei dem LG eingegangenen Schriftsatz gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und dazu Folgendes ausgeführt: Der Beklagte habe sich nach der Mandatsniederlegung seines früheren Prozessbevollmächtigten am 17.7.2003 vergeblich bemüht, einen anderen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung zu beauftragen. Er habe drei Rechtsanwälte aufgesucht, jedoch keine Vertretung erreichen können. Deshalb habe er bei der Geschäftsstelle des LG die weitere Fristverlängerung beantragt. Vor der Aufnahme des Antrags habe die Geschäftsstellenbeamtin einen Richter gefragt, ob ein solcher Antrag möglich sei. Darauf habe sie dem Beklagten erklärt, dass zu dem Antrag eine Stellungnahme der Gegenseite erforderlich sei, das Gericht aber über den Antrag entscheiden werde. Sodann habe der Beklagte am 5.8.2003 einen Besprechungstermin bei seinem Prozessbevollmächtigten gehabt. Die Richtigkeit dieser Angaben hat der Beklagte an Eides statt versichert.

Die Geschäftsstellenbeamtin hat in ihrer dienstlichen Erklärung angegeben, dass sie zunächst den Fristverlängerungsantrag des Beklagten aufgenommen habe. Danach habe er sie gefragt, ob darüber sogleich entschieden würde; ansonsten habe er noch eine Begründung abgeben wollen. Darauf habe sie den Antrag und die Verfahrensakten einem Richter der zuständigen Zivilkammer vorgelegt. Dieser habe erklärt, dass der Antrag erst der Gegenseite zur Stellungnahme übersandt werden müsse. Das habe sie dem Beklagten mitgeteilt; er habe dann seinen Antrag näher begründet.

Die Berufungsbegründung ist am 19.8.2003 bei dem LG eingegangen.

Das LG hat den Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten zurückgewiesen und seine Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses verlangt und den Wiedereinsetzungsantrag weiterverfolgt.

II.

1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO i. V. m. §§ 238 Abs. 2 S. 1, 522 Abs. 1 S. 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. ZPO).

a) Allerdings hat das Berufungsgericht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Zwar verpflichtet das Gebot des rechtlichen Gehörs das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Hierzu gehört auch die Berücksichtigung der Tatsachen, die für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorgetragen werden. Aber Art. 103 Abs. 1 GG ist erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Es ist dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Damit sich ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen lässt, müssen demnach besondere Umstände deutlich gemacht werden, die zweifelsfrei darauf schließen lassen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BGH, Beschl. v. 27.3.2003 - V ZR 291/02, BGHReport 2003, 686 = MDR 2003, 822 = WM 2003, 987 [991], m.umfangr.N.). Solche Umstände werden in der Begründung der Rechtsbeschwerde nicht aufgezeigt. Der Beklagte rügt, das Berufungsgericht habe die entscheidende Begründung für das Wiedereinsetzungsgesuch, dass nämlich die Geschäftsstelle des LG den Fristverlängerungsantrag entgegengenommen hat, ohne den Beklagten auf den Anwaltszwang hinzuweisen, rechtsfehlerhaft übergangen. Zwar hat sich das Berufungsgericht in den Gründen des angefochtenen Beschlusses mit diesem Vortrag des Beklagten nicht ausdrücklich befasst. Dies allein lässt jedoch nicht darauf schließen, es habe den Vortrag nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen. Denkbar - und nahe liegend - ist vielmehr, dass ihn das Berufungsgericht für nicht erheblich gehalten hat, weil der Beklagte in seinem Wiedereinsetzungsgesuch nicht dargelegt und glaubhaft gemacht hat, er habe darauf vertraut, dass die beantragte Fristverlängerung gewährt werde. Es gibt auch keine Anhaltspunkte, die ein solches Vertrauen rechtfertigen könnten. Deshalb kam hier eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter diesem Gesichtspunkt von vornherein nicht in Betracht. Weiter hat der Beklagte in seinem Wiedereinsetzungsgesuch auch nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass er am letzten Tag der Berufungsbegründungsfrist einen zu seiner Vertretung bereiten Rechtsanwalt gefunden hätte, der noch an demselben Tag den Fristverlängerungsantrag gestellt oder die Berufung begründet hätte. Vielmehr konnte das Berufungsgericht dem Vorbringen des Beklagten entnehmen, dass diese Möglichkeit nicht bestand. Unter diesen Umständen brauchte es auf den Vortrag des Beklagten zu dem fehlenden Hinweis der Geschäftsstellenbeamtin auf den Anwaltszwang nicht einzugehen. Es kann ausgeschlossen werden, dass es bei der Berücksichtigung dieses Vortrags anders entschieden und eine schuldhafte Versäumung der Berufungsbegründungsfrist durch den Beklagten verneint hätte (vgl. BGH, Beschl. v. 18.7.2003 - V ZR 187/02, BGHReport 2003, 1231 = MDR 2004, 48 = NJW 2003, 3205 f., m. w. N.).

b) Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt jedoch Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip. Aus diesem Prinzip wird als "allgemeines Prozessgrundrecht" der Anspruch auf ein faires Verfahren abgeleitet (BVerfG v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99 [113]; v. 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00, NJW 2001, 1343). Aus ihm folgt eine Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den Prozessparteien. Ihnen ist es zwar grundsätzlich möglich und zuzumuten, sich rechtzeitig über die gesetzlichen Erfordernisse für die ordnungsgemäße Einlegung eines Rechtsmittels zu erkundigen, auch wenn sie juristisch nicht geschult sind; eine Rechts- oder Fürsorgepflicht des Gerichts, durch Hinweise und andere Maßnahmen zur Heilung von Formmängeln beizutragen, besteht nicht (BGH, Beschl. v. 19.3.1997 - XII ZB 139/96, NJW 1997, 1989). Danach hätte der Beklagte, falls er nicht schon von seinem früheren zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten auf den Anwaltszwang auch für den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hingewiesen worden war, bei diesem oder bei der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts, bei der er seinen Fristverlängerungsantrag gestellt hat, nach den Formerfordernissen und damit auch nach einem Anwaltszwang fragen müssen. Das hat er nicht getan. Aber hier besteht die Besonderheit, dass der Beklagte nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Antrag gefragt hat und ihm darauf eine Verfahrensweise des Gerichts mitgeteilt worden ist, die bei einem durch einen Rechtsanwalt gestellten Verlängerungsantrag, nicht jedoch bei einem von vornherein unwirksamen Antrag der Partei selbst angebracht hätte sein können. Der Beklagte durfte deshalb davon ausgehen, dass das Gericht den Verlängerungsantrag nicht deshalb zurückweisen würde, weil er nicht von einem Rechtsanwalt gestellt worden war. Unter diesen Umständen widerspricht es einem fairen Verfahren, dass das Berufungsgericht den Verlängerungsantrag als unwirksam angesehen hat.

c) Dieser Verstoß gegen das Verfahrensgrundrecht führt unabhängig davon zur Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde, ob er sich auf das Ergebnis auswirkt (BGH, Beschl. v. 23.10.2003 - V ZB 28/03, Umdr. S. 5 f., z.V.b.).

2. Die Rechtsbeschwerde ist jedoch nicht begründet. Das Berufungsgericht hat die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Ergebnis zu Recht versagt (§ 233 ZPO) und die Berufung infolgedessen zutreffend als unzulässig verworfen (§ 522 Abs. 1 ZPO). Der Beklagte hat nämlich nicht dargelegt, dass er ohne Verschulden gehindert war, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten.

a) Nach seinem Vorbringen hat der Beklagte in vorwerfbarer Weise zu der Fristversäumung beigetragen, indem er erst am 5.8.2003 seinen neuen Prozessbevollmächtigten aufgesucht und mit seiner Vertretung in dem Berufungsverfahren beauftragt hat. An diesem Tag war die Berufungsbegründungsfrist bereits abgelaufen. Das war dem Beklagten bekannt. Wie er in seiner Rechtsbeschwerdebegründung vorträgt, haben ihn seine früheren Prozessbevollmächtigten über die Erfordernisse der Berufungseinlegung informiert; deshalb hat er am Tag des Fristablaufs die Geschäftsstelle des Berufungsgerichts aufgesucht und einen Fristverlängerungsantrag gestellt. Das entlastet den Beklagten jedoch nicht. Der Antrag war unwirksam, weil er wirksam nur von einem Rechtsanwalt gestellt werden konnte (BGH v. 23.1.1985 - VII ZR 18/84, BGHZ 93, 300 [303 f.]). Allerdings durfte der Beklagte auf Grund der besonderen Umstände davon ausgehen, dass der Erfolg seines Antrags nicht an dem Formmangel scheitern würde. Indes entlastet das den Beklagten ebenfalls nicht; denn er hat in seinem Wiedereinsetzungsgesuch nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass dies für die Fristversäumung ursächlich war, dass er nämlich bei einem Hinweis der Geschäftsstellenbeamtin auf den Anwaltszwang die erstrebte Fristverlängerung erreicht oder die Berufungsbegründung rechtzeitig eingereicht hätte. Dafür gibt es auch keine Anhaltspunkte. Zum einen ist nicht davon auszugehen, dass der Beklagte noch an dem Tag des Fristablaufs einen zu seiner Vertretung bereiten Rechtsanwalt gefunden hätte; nach dem Vorbringen des Beklagten in der Begründung seines Verlängerungsantrags und in dem Wiedereinsetzungsgesuch liegt das Gegenteil nahe. Zum anderen ist nicht ersichtlich, dass der Gegner seine Einwilligung zu der Fristverlängerung erteilt hätte, was sich aus dem Schriftsatz der Klägerin v. 7.8.2003 ergibt, in welchem sie die Zurückweisung des von dem Beklagten gestellten Verlängerungsantrags beantragt hat; die Einwilligung wäre jedoch nach § 520 Abs. 2 S. 2 ZPO erforderlich gewesen, weil die Berufungsbegründungsfrist bereits einmal nach § 520 Abs. 2 S. 3 ZPO verlängert worden war. Desgleichen ist nicht ersichtlich, dass eine Verweigerung der Einwilligung rechtsmissbräuchlich gewesen wäre. Auch die Bestellung eines Notanwalts (§ 78 Abs. 1 ZPO) kam nach dem Vorbringen des Beklagten nicht in Betracht. Somit hätte die Berufungsbegründung noch am 30.7.2003 bei dem Berufungsgericht eingehen müssen. Das wäre nach dem Vorbringen des Beklagten aber selbst dann nicht möglich gewesen, wenn er an diesem Tag noch einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragt hätte. Im Übrigen hat sich der Beklagte in seinem Wiedereinsetzungsgesuch noch nicht einmal darauf berufen, dass er auf eine Fristverlängerung vertraut habe. Deshalb kann offen bleiben, ob ein solches Vertrauen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gerechtfertigt hätte (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 21.9.2000 - III ZB 36/00, BGHR ZPO § 233 Mandatsniederlegung 4; Beschl. v. 6.11.2001 - XI ZB 14/01, BGHR ZPO § 233 Fristverlängerung 22).

Lässt somit der Vortrag des Beklagten die Möglichkeit offen, dass die Fristversäumung deshalb verschuldet war, weil der Beklagte nicht rechtzeitig innerhalb der - verlängerten - Berufungsbegründungsfrist einen neuen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragt hat, konnte das Berufungsgericht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewähren (vgl. BGH, Beschl. v. 18.10.1995 - I ZB 15/95, MDR 1996, 315 = BGHR ZPO § 233 Fristversäumung 1).

c) Nach alledem kommt es - entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde - nicht darauf an, ob hier zu Gunsten des Beklagten bei der Beseitigung der Folgen eines "Verlautbarungsfehlers" des Gerichts ähnliche Erwägungen durchgreifen müssen, wie sie ihren Niederschlag in dem Grundsatz der Meistbegünstigung, der auf dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes beruht, gefunden haben (vgl. BGH v. 10.12.1998 - III ZR 2/98, BGHZ 140, 208 [217 f.]). Das Vertrauen des Beklagten auf die Wirksamkeit seines Fristverlängerungsantrags war für den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung nicht ursächlich. Ebenfalls kommt es auf die weitere Begründung, mit der das Berufungsgericht das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewiesen hat, und auf die dagegen gerichteten Angriffe der Rechtsbeschwerde nicht an.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Fundstellen

BGHR 2004, 764

FamRZ 2004, 788

NJOZ 2004, 673

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