Leitsatz (amtlich)
a) Hat das Gericht ein Verfahren unter Verletzung des Anspruchs eines Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör an ein anderes örtlich oder sachlich unzuständiges Gericht verwiesen, so ist diese Verweisung in einem nachfolgenden Gerichtsstandsbestimmungsverfahren gemäß § 36 Nr. 6 ZPO nicht als bindend anzusehen.
b) Das übergeordnete Gericht, das bei einem negativen Kompetenzstreit mehrerer unzuständiger Gerichte gemäß § 36 Nr. 6 ZPO angerufen worden ist, hat bei ausschließlicher Zuständigkeit eines bisher nicht beteiligten Gerichts unmittelbar dieses als das zuständige Gericht zu bestimmen, sofern es hieran nicht durch einen vorherigen anderweitigen bindenden Verweisungsbeschluß gehindert ist. Eine solche Gerichtsstandsbestimmung setzt ferner voraus, daß ein nach § 281 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderlicher Antrag auf Verweisung des Verfahrens an das zu bestimmende Gericht gestellt worden ist; dieser Antrag kann im Verfahren nach § 36 Nr. 6 ZPO auch unmittelbar beim übergeordneten Gericht eingereicht werden.
Normenkette
ZPO § 36 Nr. 6, § 281
Verfahrensgang
AG Nettetal |
AG Kellinghusen |
Tenor
Zuständiges Gericht ist das Amtsgericht – Familiengericht – Kempen.
Gründe
1. Bei Eingang des Antrags auf Hausratsauseinandersetzung am 18. Juni 1977 war das vom Antragsteller angerufene Amtsgericht Nettetal örtlich unzuständig. Bis zum 30. Juni 1977 war nach der damals noch geltenden Fassung des § 11 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Behandlung der Ehewohnung und des Hausrats nach der Scheidung (HausratVO) das Amtsgericht Kellinghusen örtlich zuständig, weil sich die letzte gemeinsame Wohnung der Verfahrensbeteiligten in Kellinghusen befunden hat.
Da der Antragsteller einen Verweisungsantrag erst nach dem 30. Juni 1977, also nach dem Inkrafttreten des 1. EheRG, gestellt hat und das Amtsgericht Nettetal daher eine Verweisung des Verfahrens erst danach – am 13. Juli 1977 – beschlossen hat, hätte es dabei die nunmehr geltenden Verfahrensvorschriften des 1. EheRG zugrunde legen müssen. Denn neues Verfahrensrecht findet grundsätzlich auch in bereits anhängigen Verfahren Anwendung, soweit die Übergangsvorschriften – wie hier – nichts anderes bestimmen (vgl. den zur Veröffentlichung bestimmten Senatsbeschluß vom 25. Januar 1978 – IV ZB 70/77 –). Gemäß den §§ 23 b Abs. 1 Nr. 8 GVG, 11 Abs. 2 HausratVO, 606 Abs. 2 Satz 2 ZPO (jeweils in der durch das 1. EheRG geänderten Fassung) hätte das Amtsgericht Nettetal das Verfahren nicht mehr an das Amtsgericht Kellinghusen abgeben dürfen, sondern – nach Gewährung rechtlichen Gehörs und nach dementsprechend abgeändertem Verweisungsantrag – an das Familiengericht bei dem Amtsgericht Kempen verweisen müssen. Nach den genannten neuen Vorschriften ist nämlich jetzt das Familiengericht für die Hausratsauseinandersetzung zuständig; hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit ist im vorliegenden Fall, in dem eine gemeinsame Wohnung der Parteien (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 1 HausratVO) nicht mehr besteht und auch die Voraussetzungen des § 606 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht gegeben sind, der gewöhnliche Aufenthaltsort der Antragsgegnerin maßgeblich (§§ 1 Abs. 2 Satz 2 HausratVO, 606 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Dieser befindet sich im Bezirk des Familiengerichts Kempen.
Der Grundsatz der Fortdauer der Zuständigkeit (perpetuatio fori) hinderte eine Verweisung des Verfahrens an das nach den neuen Vorschriften zuständige Familiengericht Kempen nicht. Nach diesem in § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO gesetzlich verankerten Grundsatz wird die Zuständigkeit des Prozeßgerichts durch eine Veränderung der sie begründenden Umstände nicht berührt. Die Vorschrift ist nicht nur auf die Fälle einer Veränderung tatsächlicher Umstände, sondern auch auf den Fall einer Rechtsänderung (insbesondere einer Änderung von Gesetzen) anzuwenden (vgl. das zur Veröffentlichung bestimmte Senatsurteil vom 1. Februar 1978 – IV ZR 142/77 – m.w.N.). Zuständiges Prozeßgericht im Sinne des § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO ist jedoch nur das örtlich und sachlich zuständige Gericht einer bestimmten Instanz, bei dem die Streitsache durch Erhebung der Klage rechtshängig geworden ist (vgl. den oben zitierten Senatsbeschluß vom 25. Januar 1978). Entsprechendes gilt für andere Verfahrensarten. Da das Amtsgericht Kellinghusen vor dem 1. Juli 1977 noch nicht mit dem vorliegenden Verfahren befaßt worden war, konnte seine bis dahin gegebene Zuständigkeit nach dem Außerkrafttreten der die Zuständigkeit begründenden Vorschriften nicht fortdauern.
2. Das Verfahren könnte jetzt nur dann nicht mehr an das (sachlich und örtlich ausschließlich zuständige) Familiengericht Kempen verwiesen werden, wenn einer der in dieser Sache erlassenen Verweisungsbeschlüsse – des Amtsgerichts Nettetal vom 13. Juli 1977 (Verweisung an das Amtsgericht Kellinghusen), des Amtsgerichts Kellinghusen vom 2. August 1977 (Rückverweisung an das Amtsgericht Nettetal) und des Amtsgerichts Nettetal vom 22. September 1977 (Verweisung an das Familiengericht Itzehoe) – bindend wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Zwar ist § 281 ZPO in den Verfahren über die in § 621 a Abs. 1 Satz 1 ZPO bezeichneten Familiensachen, zu denen auch die Verfahren nach der HausratVO gehören, anwendbar (vgl. den zur Veröffentlichung bestimmten Senatsbeschluß vom 22. Februar 1978 – IV ARZ 10/78 –). Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung kommt jedoch einem Verweisungsbeschluß im Gerichtsstandsbestimmungsverfahren gemäß § 36 Nr. 6 ZPO dann keine Bindungswirkung nach § 276 Abs. 2 Satz 2 a.F. (jetzt § 281 Abs. 2 Satz 2) ZPO zu, wenn er jeglicher Rechtsgrundlage entbehrt und sich daher als willkürlich erweist (BGH NJW 1964, 1416, 1418 m.w.N.; SAG AP § 36 ZPO Nr. 9). Eine weitere Ausnahme von der in § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO angeordneten Bindung muß dann zugelassen werden, wenn die Verweisung des Verfahrens an ein nach den prozessualen Vorschriften unzuständiges Gericht auf der Versagung rechtlichen Gehörs gegenüber einem Verfahrensbeteiligten beruht. Das trifft hier zu, weil weder das Amtsgericht Nettetal noch das Amtsgericht Kellinghusen die Antragsgegnerin vor den Verweisungsbeschlüssen angehört hat. Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, eines elementaren, in der Verfassung (Art. 103 Abs. 1 GG) verankerten Gebots für das Gerichtsverfahren, stellt einen so schwerwiegenden Mangel des ein unzuständiges Gericht bestimmenden Verweisungsbeschlusses dar, daß dieser Verfahrensfehler einem willkürlichen Rechtsverstoß gleichzuachten ist. Folglich muß einem solchen Verweisungsbeschluß die Bindungswirkung im Gerichtsstandsbestimmungsverfahren nach § 36 Nr. 6 ZPO aberkannt werden (ebenso: BAG a.a.O.; OLG Frankfurt NJW 1962, 449, 450; OLG Düsseldorf OLGZ 1973, 243, 245; 1976, 475, 476; Rechtspfleger 1975, 102; OLG Nürnberg Rechtspfleger 1974, 406; Baumbach/Lauterbach/Hartmann ZPO 36. Aufl. § 36 Anm. 3 E; Rosenberg/Schwab Zivilprozeßrecht 12. Aufl. § 39 II 2 e und § 38 I 1; a.A.: Henckel ZZP 77, 321, 322; Mes, Anm. zu BAG a.a.O.; Stein/Jonas/Schumann/Leipold ZPO 19. Aufl. § 276 Anm. IV 2 Fußn. 41). Das vor allem im letztgenannten Kommentar angeführte Gegenargument, der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG führe auch sonst nicht zur Anfechtbarkeit bzw. Unverbindlichkeit sonst unanfechtbarer bzw. bindender Entscheidungen innerhalb des Zivilprozesses, die Verletzung könne vielmehr in solchen Fällen durch Verfassungsbeschwerde – hier gegen den Verweisungsbeschluß – geltend gemacht werden, überzeugt nicht. § 36 Nr. 6 ZPO ordnet gerade an, daß mehrere einander widersprechende, rechtskräftige (also unanfechtbare) Zuständigkeitsleugnungen einer Kontrolle durch das übergeordnete Gericht unterzogen werden. Ob in diesem Zusammenhang ein auf der Versagung rechtlichen Gehörs beruhender Verweisungsbeschluß als bindend zu beachten ist, ob also nach Sinn und Zweck der §§ 36 Nr. 6, 281 ZPO die Bindungswirkung gemäß § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO oder die Kontroll- und Bestimmungsfunktion des § 36 Nr. 6 ZPO den Vorrang hat, ist eine auf diesen besonderen Verfahrensmangel bezogene Auslegungsfrage zu beiden Vorschriften, die nicht einfach unter Hinweis auf die Unanfechtbarkeit der Verweisungsbeschlüsse beantwortet werden kann. Da letztlich das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen und einen solchen Verweisungsbeschluß aufheben könnte, gebietet es der Grundsatz der Prozeßökonomie, daß bereits das übergeordnete Gericht der Fachgerichtsbarkeit selbst das Fehlen der Bindung feststellen kann, da § 36 Nr. 6 ZPO die Anrufung dieses Gerichts in einer derartigen Verfahrenslage gestattet (vgl. auch BVerfGE 42, 243, 248 f und BVerfG Beschluß vom 1. Februar 1978 – 1 BvR 426/77 – S. 11).
3. Bisher haben sich nur die Amtsgerichte Nettetal und Kellinghusen durch unanfechtbare Verweisungsbeschlüsse „rechtskräftig” (§ 36 Nr. 6 ZPO) für unzuständig erklärt, während das zuständige Familiengericht Kempen auf Antrage des Amtsgerichts Nettetal hin lediglich formlos mitgeteilt hat, es halte sich für dieses vor dem 1. Juli 1977 anhängig gewordene Verfahren nicht für zuständig. Nach dem Wortlaut des § 36 Nr. 6 (i.V.m. § 621 a Abs. 1 Satz 2) ZPO, wonach gerade auch das in Wahrheit zuständige Gericht sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben muß, könnte daher der Senat das Familiengericht Kempen im vorliegenden Verfahren nicht unmittelbar als das zuständige Gericht bestimmen. Die Konsequenz einer solchen bloßen Wortinterpretation wäre, daß der Senat die Bestimmung des zuständigen Gerichts ablehnen und die Sache an das Amtsgericht Nettetal zurückgeben, dabei aber – um sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung auszusetzen – ausführen müßte, daß das Familiengericht Kempen ausschließlich zuständig sei. Das Amtsgericht Nettetal wäre dann gehalten, das Verfahren – nach entsprechendem Antrag – an das Familiengericht Kempen zu verweisen, das daran gemäß § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO gebunden wäre. Diesen Umweg über das Amtsgericht Nettetal erachtet der Senat als einen sinnlosen Formalismus, der durch den Zweck des § 36 Nr. 6 ZPO nicht gedeckt wird. Sinn und Zweck des § 36 ZPO ist in erster Linie, im Interesse der Parteien und der Rechtssicherheit den mißlichen Streit darüber, welches Gericht für die Sachentscheidung zuständig ist, schnell zu beenden, damit das als zuständig bestimmte Gericht sich möglichst bald mit der Sache selbst befaßt (vgl. BGH NJW 1964, 1416, 1417). Dieser Grundgedanke zeigt, daß § 36 Nr. 6 ZPO bei negativem Kompetenzkonflikt mehrerer unzuständiger Gerichte und ausschließlicher Zuständigkeit eines dritten Gerichts, das seine Zuständigkeit bisher nicht rechtskräftig geleugnet hat, eine dem Normzweck zuwiderlaufende Lücke aufweist. Diese Lücke ist im Hinblick auf den Normzweck und den Grundsatz der Prozeßökonomie in der Weise zu schließen, daß das gemäß § 36 Nr. 6 ZPO zulässigerweise angerufene übergeordnete Gericht das ausschließlich zuständige Gericht, selbst wenn dieses sich noch nicht rechtskräftig für unzuständig erklärt hat, bestimmen kann, sofern den Verfahrensbeteiligten hierzu rechtliches Gehör gewährt und ein nach § 281 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderlicher Verweisungsantrag gestellt worden ist (im Ergebnis ebenso: Stein/Jonas/Pohle a.a.O. § 36 Anm. II; Baumbach/Lauterbach/Hartmann a.a.O. § 36 Anm. 3 E.) Auch die letztgenannten Voraussetzungen sind hier erfüllt: Der Senat hat die Verfahrensbeteiligten darauf hingewiesen, daß das Familiengericht Kempen als zuständiges Gericht bestimmt werden könne. Darauf hat der Antragsteller (beim Senat) einen entsprechenden Verweisungsantrag eingereicht; auch die Antragsgegnerin hat dem in ihrer Stellungnahme zugestimmt.
Unterschriften
Dr. Grell, Knüfer, Rottmüller, Dr. Hoegen, Dr. Seidl
Fundstellen
Haufe-Index 1502445 |
BGHZ |
BGHZ, 69 |
NJW 1978, 1163 |
JR 1978, 291 |
Nachschlagewerk BGH |