Verfahrensgang
LG Erfurt (Urteil vom 20.11.2019; Aktenzeichen 190 Js 1615/19 6 KLs) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 20. November 2019 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen Auslagen, an eine andere für Jugendschutzsachen zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und gegen ihn die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Seine auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision führt zur Aufhebung des Urteils im Rechtsfolgenausspruch. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen verbrachte der 1961 geborene Angeklagte den ganz überwiegenden Teil seines bisherigen Lebens wegen Diebstählen und wegen Sexualdelikten zum Nachteil von Kindern in Haft bzw. im Maßregelvollzug. Unter anderem wurde er 1995 vom Landgericht Erfurt wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung und mit sexuellem Missbrauch von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt; gleichzeitig wurde gegen ihn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, die vom 7. Dezember 1995 bis zum 1. Februar 2017 vollzogen und dann für erledigt erklärt wurde. Mit Entlassung aus der Psychiatrie wurde der Vollzug der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Erfurt zur Bewährung ausgesetzt und Führungsaufsicht angeordnet.
Rz. 3
2. Nach seiner Entlassung lebte der Angeklagte zunächst in einer sozialtherapeutischen Wohneinrichtung, seit März 2018 in einer eigenen Wohnung. Im Rahmen einer Maßnahme des Job-Centers war er in einem Nachbar- schaftszentrum, wo Bedürftige betreut wurden, tätig. Dort lernte er die am 27. Juli 2011 geborene Geschädigte J. H. kennen. Das mit einem Grad von 50 % geistig behinderte Mädchen lebte bei seinen Großeltern und war ein distanzloses, vertrauensseliges Kind ohne Scheu gegenüber anderen Menschen. Obwohl eine Kinderbetreuung im Nachbarschaftszentrum unüblich war, übernahm er die Hausaufgabenbetreuung für J.. Daraus entwickelte sich ein vertrauensvolles Verhältnis, zumal der Angeklagte dem Kind auch immer wieder kleine Geschenke machte. Im Sommer 2018 schaffte er sich eine kleine Katze an und veranlasste J. so, ihn auch zuhause zu besuchen.
Rz. 4
Am Tattag, dem 12. Januar 2019, besuchte der Angeklagte mit Erlaubnis der Großeltern gemeinsam mit J. in E. auf der Messe von 13.00 Uhr bis 17.00 Uhr die Veranstaltung „Ki.”. Nach der Veranstaltung brachte er das Mädchen nicht wie verabredet sofort nach Hause, sondern begab sich mit diesem in seine Wohnung, wo J. zunächst mit der Katze spielen durfte. Anschließend schlug er vor, „Doktorspiele” zu machen, womit das Mädchen nichts anfangen konnte. In Umsetzung seines Vorhabens führte er J. in das Schlafzimmer und forderte sie auf, sich vollständig auszuzie- hen. Die Geschädigte kam dem Verlangen nach und legte sich auf das Bett des Angeklagten, der einen Finger in die Vagina des Kindes einführte, um sich sexuell zu erregen. Da dies für die Geschädigte schmerzhaft war, bat sie den Angeklagten damit aufzuhören. Der Angeklagte kam der Aufforderung nach.
Rz. 5
Gegen 18.30 Uhr brachte er J. zurück zu den Großeltern. Obwohl er ihr eindringlich zu verstehen gegeben hatte, Oma und Opa nichts von den „Doktorspielen” erzählen zu dürfen, offenbarte sich J. umgehend den Großeltern.
Rz. 6
3. Von Dezember 2018 bis zu seiner Verhaftung am 13. Januar 2019 unterhielt der Angeklagte zahlreiche Chat- und Telefonkontakte mit teils sexuellen Inhalten zu einer Vielzahl von minderjährigen Mädchen. Allein mit zwei zwölf- bis dreizehnjährigen Mädchen tauschte er ca. 1.800 Nachrichten aus und führte zahlreiche über 30 Minuten dauernde Videotelefonate- und konferenzen. Eines der Mädchen forderte er mehrfach auf, ihm ein Video „gerne ohne Schlüpfer” zu übersenden und fragte, ob es mit ihm schlafen wolle.
Rz. 7
4. Sachverständig beraten geht das Landgericht davon aus, der Angeklagte sei bei Begehung der Tat am 12. Januar 2019 voll schuldfähig gewesen. Zwar weise er eine dissoziale Persönlichkeitsstörung und eine heterosexuelle Kernpädophilie auf, die ihn jedoch nicht in seiner Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit eingeschränkt hätten.
Rz. 8
Die dissoziale Persönlichkeitsstörung erreiche bereits nicht den Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung. Die Pädophilie hingegen liege bei ihm im Sinne einer Kernpädophilie vor. Sein sexuelles Interesse beziehe sich langjährig und maßgeblich auf Kinder. Es habe seit 20 Jahren keinerlei sexuelle Kontakte zu erwachsenen Frauen gegeben. Der Angeklagte habe über verschiedenste Wege, wie das Internet und auch im realen Leben, aktiven Kontakt zu jungen Mädchen gesucht. Die Pädophilie sei – wie der umfangreiche tägliche Chat-Verkehr rund um die Uhr mit Minderjährigen belege – für ihn beherrschend, präge sein Leben maßgeblich und belaste ihn mit ähnlichen Folgen wie eine krankhafte seelische Störung. Dem Angeklagten sei eine hiervon unabhängige Lebensführung unmöglich. Es handele sich damit um eine „schwere andere seelische Abartigkeit” im Sinne der §§ 20, 21 StGB. Allerdings habe das nicht zu einer Minderung der Einsichtsfähigkeit in das Unrecht seines Tuns oder zur Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit geführt. Aufgrund seiner einschlägigen Vorverurteilungen habe er die Einsicht in die Strafbarkeit seines Tuns gehabt. Auch seine Steuerungsfähigkeit sei nicht beeinträchtigt gewesen, da er die Tat genau geplant und zielgerichtet begangen habe. Während der Tatbegehung habe er Entscheidungen treffen und auf äußere Umstände reagieren können. Der langgestreckte, sehr zielgerichtet durchgeführte Tatablauf belege, dass weder eine Einschränkung noch die Aufhebung der Steuerungsfähigkeit vorgelegen habe.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 9
1. Die Verfahrensrügen bleiben aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts ohne Erfolg.
Rz. 10
2. Die auf die Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgezeigt. Hingegen hat der Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand, weil das Landgericht das Vorliegen einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB aufgrund der diagnostizierten Kernpädophilie nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat. Der Generalbundesanwalt hat dazu ausgeführt:
„Indem das Landgericht im Einvernehmen mit der gehörten Sachverständigen eine Störung angenommen hat, deren Schweregrad ausreichend ist, um sie unter das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Abartigkeit des § 20 StGB zu fassen, musste es davon ausgehen, dass die Störung in ihrer Gesamtheit Symptome aufweist die in ihrer Gesamtheit das Leben des Angeklagten vergleichsweise schwer und mit ähnlichen Folgen belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (BGH, Beschluss vom 27. Januar 2017 – 1 StR 532/16). Wird aber eine schwere andere seelische Abartigkeit als Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB bejaht, so liegt wegen der Schwere der Abartigkeit auch eine erhebliche Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens nahe (BGH, Urteil vom 25. März 2015 – 2 StR 409/14, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 43, BGH, Beschluss vom 23. Februar 2017 – 1 StR 362/16, StraFo 2017, 247 ff.; BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 – 1 StR 574/18, NStZ-RR 2019, 168, 169). Dies gilt auch dann, wenn der Angeklagte planvoll und zielgerichtet gehandelt hat. Denn aus dem planvollen und gezielten Tatverhalten eines Angeklagten sind keine hinreichenden Anzeichen für eine bloß unerhebliche Beeinträchtigung seines Hemmungsvermögens bei Tatplanung und -begehung zu ersehen (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 – 1 StR 574/18, NStZ-RR 2019, 168, 169; BGH, Beschluss vom 14. Mai 2002 – 5 StR 138/02, NStZ-RR 2002, 230).
Dass der Angeklagte die Tat ausführlich und von langer Hand plante, eine passende Gelegenheit für die Tatbegehung initiierte und auch zielgerichtet in der Lage war, die Handlungen zu beenden, als die Geschädigte ihn hierzu aufforderte, belegen nicht ohne Weiteres die Fähigkeit des Angeklagten zum Bedürfnisaufschub bei Umsetzung seiner Vorstellungen in die Realität. Dagegen spricht bereits die hohe Rückfallgeschwindigkeit des Angeklagten und der Umstand, dass auch die Verbüßung mehrjähriger Haftstrafen nicht dazu geführt haben, dass der Angeklagte auf die Durchführung weiterer ähnlicher Taten verzichtete (UA S. 50). (…) So hatte der Angeklagte nach seiner Entlassung aus der Maßregel vielfachen Kontakt zu minderjährigen Mädchen aufgenommen. Um die Umsetzung des Sexualdelikts zu ermöglichen, traf er sehr umfangreiche Bemühungen, um den Kontakt zu Kindern herzustellen und deren Vertrauen zu gewinnen. Die Beziehung zu Kindern stellte sich für ihn nicht als „Notlösung” dar, wenn andere Kontakte gescheitert waren, sondern waren für ihn beherrschend. Einen erheblichen Teil des Tages investierte er für die Beziehungspflege zu minderjährigen Mädchen. Auf dieser Grundlage hat die Sachverständige bei dem Angeklagten eine „überdauernde Affinität mit sexuellem Charakter zu jüngeren Mädchen” festgestellt (UA S. 47). Wenn das Landgericht für die Zeit nach der Entlassung im Februar 2017 bei dem Angeklagten „ein eingeschliffenes Verhaltensmuster im Sinne des § 66 StGB mit Aktivinitiierung” sieht (UA S. 48), liegt es indes nahe, dass die Tat zum Nachteil der Geschädigten H. Teil seiner eingeschliffenen Verhal- tensschablone war und der Angeklagte insoweit nicht die für eine Vermeidung dieses Verhaltens erforderlichen Hemmungen aufzubringen vermochte. Vorliegend können eine gedankliche Einengung des Angeklagten auf sexuelle Handlungen mit Kindern, ein Ausbau des Raffinements was die konkrete Tatdurchführung angeht und eine Progredienz der lange andauernden Fehlentwicklung festzustellen sein, die zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB geführt haben. Der Strafausspruch kann daher keinen Bestand haben. Eine gänzlich aufgehobene Schuldfähigkeit des Angeklagten (§ 20 StGB) ist demgegenüber auszuschließen.
Die Aufhebung des Strafausspruchs zieht die Aufhebung der Anordnung der Maßregel der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 StGB nach sich (BGH Beschluss vom 23. Februar 2017 – 1 StR 362/16, StraFo 2017, 247 ff.; BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 – 1 StR 574/18, NStZ-RR 2019, 168, 169). Der neue Tatrichter wird auch zu erwägen haben, ob der Angeklagte bei Vorliegen von § 21 StGB gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2010 – 5 StR 104/10, NStZ-RR 2011, 170). Die Sache bedarf – unter Heranziehung eines Sachverständigen – zur Schuldfähigkeit des Angeklagten neuer tatrichterlicher Verhandlung und Entscheidung.”
Rz. 11
Dem schließt sich der Senat an.
Unterschriften
Franke, Appl, Zeng, Grube, Schmidt
Fundstellen
Haufe-Index 14045034 |
StV 2021, 292 |
RPsych 2020, 625 |