Verfahrensgang

LG Stade (Entscheidung vom 25.03.2022; Aktenzeichen 101 KLs 12/21)

 

Tenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stade vom 25. März 2022, auch soweit es den nichtrevidierenden Mitangeklagten K.       betrifft,

a) dahin geändert, dass die Einstellung des Verfahrens betreffend Ziffer 4 der Anklageschrift vom 22. Juli 2021 entfällt,

b) im Ausspruch über die Einziehung der „sichergestellten Betäubungsmittel und Verkaufsutensilien“ aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.

 

Gründe

Rz. 1

Das Landgericht hat die Angeklagten D.   A., B.    A.     und Ö.    wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier tateinheitlich zusammentreffenden Fällen und den Angeklagten Z.      wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Darüber hinaus hat es Einziehungsentscheidungen getroffen und das Verfahren im Übrigen eingestellt (§ 260 Abs. 3 StPO). Die hiergegen gerichteten, die Verletzung sachlichen Rechts rügenden Revisionen der Angeklagten haben - unter Erstreckung auf den Mitangeklagten K.      gemäß § 357 StPO - den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

Rz. 2

1. Das von den Angeklagten B.    A.    und Ö.    geltend gemachte Verfahrenshindernis einer für das vom Landgericht festgestellte Tatgeschehen fehlenden wirksamen Anklage und demzufolge eines fehlenden wirksamen Eröffnungsbeschlusses besteht nicht.

Rz. 3

a) Mit ihrer unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage vom 22. Juli 2021 hatte die Staatsanwaltschaft den Angeklagten - soweit hier von Belang - zur Last gelegt, in der Zeit vom 22. Januar bis zum 13. April 2021 in mehreren Fällen bandenmäßig mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel betrieben zu haben. Im konkreten Anklagesatz ist dazu ausgeführt, dass die Gruppierung aus einem Gesamtvorrat bis zum 2. April 2021 durch die Angeklagten Ö.    und K.       durch 19 Verkaufsgeschäfte Marihuana in einer Gesamtmenge von etwa 3 Kilogramm an unterschiedliche Konsumenten verkauft habe (Fall 3 der Anklageschrift). Im Zuge einer Durchsuchungsmaßnahme hätten - nach Ausscheiden des N.     und Eintritt des Angeklagten Z.      - im April 2021 in den von der Bande zu dieser Zeit genutzten Wohnungen verschiedene, wiederum aus einem Gesamtvorrat stammende Betäubungsmittel, darunter mehr als 20 Kilogramm Marihuana, sichergestellt werden können (Fall 4 der Anklageschrift). In beiden Fällen war die Anklagebehörde davon ausgegangen, dass die Betäubungsmittel jeweils aus einem einheitlichen Vorrat stammten; sie hatte die einzelnen Taten deshalb zu einer Bewertungseinheit zusammengezogen.

Rz. 4

b) Die abgeurteilte Tat ist Gegenstand der Anklageschrift (§ 264 StPO).

Rz. 5

aa) Gegenstand der Urteilsfindung ist der historische Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Zur Tat im prozessualen Sinn gehört das gesamte Verhalten des Beteiligten, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. November 1995 - 4 StR 608/95, NStZ-RR 1996, 203 mwN). Somit umfasst der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, selbst wenn diese Umstände in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt sind. Verändert sich im Verlaufe des Verfahrens das Bild des Geschehens, wie es in der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss umschrieben ist, so ist die Prüfung der Frage, ob die Identität der prozessualen Tat gleichwohl gewahrt ist, nach dem Kriterium der „Nämlichkeit“ der Tat zu beurteilen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2022 - 3 StR 440/21). Diese ist dann gegeben, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen (vgl. BGH, Urteil vom 29. September 1987 - 4 StR 376/87, BGHSt 35, 60, 64; Beschluss vom 13. Februar 2019 - 4 StR 555/18, NStZ 2019, 428, 429; Trüg, StV 2023, 350, 351). Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalls. Sofern das materielle Recht nicht ausnahmsweise mehrere selbständige Sachverhalte zu einer Handlungseinheit zusammenfasst (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 11. Juni 1980 - 3 StR 9/80, BGHSt 29, 288), ist prozessuale Tatidentität grundsätzlich anzunehmen bei materiell-rechtlicher Tateinheit (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 28. Juni 1955 - 5 StR 646/54, BGHSt 8, 92, 95; Beschlüsse vom 19. Dezember 1995 - KRB 33/95, BGHSt 41, 385, 389; vom 9. Juli 2015 - 3 StR 537/14, BGHSt 60, 308, 316 mwN).

Rz. 6

bb) In der Hauptverhandlung hat sich - nach einer Verfahrenseinstellung im Übrigen (§ 154 Abs. 2 StPO) - für die verbliebenen Anklagevorwürfe (Fälle 3 und 4 der Anklageschrift) erweisen lassen, dass die Brüder A., der frühere Mitangeklagte K.      und der Angeklagte Ö.     Anfang Januar 2021 beschlossen, gemeinsam und zeitlich unbegrenzt Betäubungsmittel gewinnbringend zu verkaufen. Dazu beschafften sie sich bei ihrem Lieferanten in der Zeit von Januar bis April 2021 jeweils zum Monatsanfang eine Menge von etwa 23 Kilogramm Marihuana. Im Zeitpunkt der Anlieferungen der Betäubungsmittel im Februar, März und - nunmehr unter Einbindung des Angeklagten Z.      - April 2021 war jeweils der „Rest einer zuvor erhaltenen Lieferung“ in der Bunker- bzw. Verkaufswohnung noch vorhanden; es war „nie dazu gekommen, dass der Vorrat an Betäubungsmitteln einmal vollständig leer gewesen ist“ (UA S. 139). Auf diese Weise wollte die Gruppierung ihre kontinuierliche Lieferfähigkeit aufrechterhalten und sich für ihre Abnehmer als verlässlich erweisen. Die durch die ersten drei Lieferungen erhaltenen Betäubungsmittel veräußerten die Angeklagten im Zuge von jedenfalls 2.380 Verkaufsgeschäften. Ob und in welchem Umfang die Angeklagten auch bereits im Jahr 2020 in „gleichgelagerter Weise“ bandenmäßig mit Betäubungsmitteln Handel getrieben haben, vermochte das Landgericht nicht festzustellen.

Rz. 7

cc) Schon die - vom Landgericht rechtsfehlerfrei vorgenommene - konkurrenzrechtliche Bewertung trägt die Annahme der Nämlichkeit des abgeurteilten Geschehens mit dem von der Anklageschrift zu den Fällen 3 und 4 umgrenzten Lebenssachverhalt. Die festgestellten Betäubungsmittelbestellungen stehen zueinander im Verhältnis der Tateinheit (§ 52 StGB). Zwar hat der bloße gleichzeitige Besitz von Betäubungsmitteln nicht die Kraft, mehrere selbständige Straftaten des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zur Tateinheit zu verklammern (vgl. BGH, Urteil vom 1. Oktober 1997 - 2 StR 520/96, BGHSt 43, 252, 261). Gleichartige Tateinheit ist aber etwa dann anzunehmen, wenn die Art und Weise der Besitzausübung im Einzelfall über bloße Gleichzeitigkeit hinausgeht und die Wertung rechtfertigt, dass die tatsächliche Ausübung des Besitzes über die eine Menge zugleich die tatsächliche Besitzausübung über die andere darstellt, denn dies begründet Identität der jeweiligen Teilakte des Handeltreibens (vgl. BGH, Urteil vom 2. April 2015 - 3 StR 642/14, NStZ-RR 2015, 378; LK/Rissing-van Saan, StGB, 13. Aufl., vor § 52 ff. Rn. 54; BeckOK-BtMG/Becker, 19. Edition, § 29 Rn. 127 ff.; Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., vor §§ 29 ff. Rn. 623). Der hier für die Fälle 3 und 4 der Anklageschrift festgestellte, sukzessiv aufgefüllte und „nie zur Neige“ gehende Verkaufsvorrat weist überschneidende Ausführungshandlungen für sämtliche abgeurteilte Bestellvorgänge der Bande aus und begründet für diese die Annahme gleichartiger Tateinheit (vgl. BGH, Urteile vom 8. April 1997 - 1 StR 65/97, NStZ-RR 1997, 227; vom 2. April 2015 - 3 StR 642/14, aaO Rn. 7; Beschluss vom 23. Oktober 2014 - 4 StR 377/14, NStZ 2015, 226) bei zugleich auf dieses Geschehen erstreckter tatgerichtlicher Kognitionspflicht (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 1994 - 2 StR 169/94, NStZ 1994, 495).

Rz. 8

dd) Von dem Grundsatz abzuweichen, dass in Fällen materiell-rechtlicher Idealkonkurrenz regelmäßig nur eine Tat im prozessualen Sinne vorliegt, besteht auch eingedenk des Umstandes, dass die Anklageschrift einzelne der festgestellten Betäubungsmittelbestellungen nicht ausdrücklich erwähnt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Juli 2018 - 3 StR 88/17, NStZ-RR 2018, 351; vom 17. Juni 2003 - 2 StR 94/03, NStZ 2004, 105; vom 18. Mai 1994 - 2 StR 169/94, NStZ 1994, 495), kein Anlass. Der Senat teilt für die vorliegende Fallkonstellation nicht die Besorgnis der Beschwerdeführer, dass durch die der ständigen Rechtsprechung entsprechende Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Handeltreibens im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2005 - GSSt 1/05, BGHSt 50, 252, 256 ff.) und die hieran anknüpfende konkurrenzrechtliche Bewertung verschiedener Ausführungshandlungen als Tateinheit (§ 52 StGB; vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juli 2017 - GSSt 4/17, BGHSt 63, 1, 5; Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG,10. Aufl., § 29 Rn. 454 ff. mwN) der prozessuale Tatbegriff seine verfahrenslenkende Funktion einbüßen könnte (vgl. BGH, Urteil vom 1. Oktober 1997 - 2 StR 520/96, BGHSt 43, 252, 255 f.). Die vier abgeurteilten Betäubungsmittelbestellungen unterfallen dem in der Anklageschrift konkretisierten Tatzeitraum. Nicht zuletzt korrespondieren mit der Anklageschrift ferner die Art und Weise der Tatbegehung und die Einbindung der verschiedenen Bandenmitglieder.

Rz. 9

ee) Es bedarf indessen keiner Entscheidung, ob diese Bewertung in gleicher Weise auch für die vom Landgericht erwogene, im Ergebnis aber aus tatsächlichen Gründen abgelehnte Erstreckung der prozessualen Tat auf einen von der Anklage nicht ausdrücklich erfassten Zeitraum gelten könnte (vgl. BGH, Urteil vom 1. Oktober 1997 - 2 StR 520/96, BGHSt 43, 252, 257; hierzu BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 1999 - 2 BvR 2259/97; vgl. LR-StPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 264 Rn. 69 f.).

Rz. 10

2. Die auf die Sachbeschwerde veranlasste materiell-rechtliche Überprüfung des angefochtenen Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Die Teileinstellung von Fall 4 der Anklageschrift nach § 260 Abs. 3 StPO hat allerdings zu entfallen. Das Landgericht hat diese darauf gestützt, dass dieser Fall der Anklage „schon von der zu Ziff. 3 angeklagten Tat umfasst“ sei. Ist aber - wie hier - der gesamte angeklagte Sachverhalt erwiesen und erfährt er lediglich durch das Tatgericht eine andere konkurrenzrechtliche Bewertung, kommt eine Teileinstellung nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Juni 2002 - 3 StR 176/02, BGHR StPO § 260 Abs. 1 Teilfreispruch 14; vom 8. Mai 2003 - 3 StR 123/03, NStZ 2004, 109). Mit dem Wegfall der teilweisen Verfahrenseinstellung entfällt auch der Anknüpfungspunkt für eine Kostenlast der Staatskasse (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 2002 - 3 StR 176/02). Das Verbot der Schlechterstellung (§ 358 Abs. 2 StPO) steht dieser Entscheidung auf die Revision eines Angeklagten nicht entgegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Juni 2002 - 3 StR 176/02, BGHR StPO § 260 Abs. 1 Teilfreispruch 14; vom 7. August 2014 - 3 StR 17/14, NStZ 2015, 347, 349).

Rz. 11

3. Die Einziehungsentscheidung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand, soweit das Landgericht die Einziehung der „in der Anklage zu Ziffer Vl. Nr. 6. bis 9., 11. bis 13. sowie 15.-17. genannten sichergestellten Betäubungsmittel sowie Verkaufsutensilien“ angeordnet hat.

Rz. 12

a) Bei einer Einziehungsentscheidung müssen die Gegenstände so konkret bezeichnet sein, dass bei sämtlichen Verfahrensbeteiligten und der Vollstreckungsbehörde Klarheit über den Umfang der Einziehung besteht. Betäubungsmittel sind dabei in ihrer Art und Menge exakt anzugeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Januar 2017 - 5 StR 531/16; vom 1. Oktober 2019 - 3 StR 382/19; vom 6. November 2019 - 2 StR 246/19). Diesen Anforderungen wird der Einziehungsausspruch nicht gerecht. Der Senat kann die erforderliche Anordnung auch nicht entsprechend § 354 Abs. 1 StPO nachholen, weil die hierzu erforderlichen Angaben auch zu den sonstigen Einziehungsgegenständen in den Urteilsgründen nicht enthalten sind.

Rz. 13

b) Die Urteilsaufhebung ist gemäß § 357 StPO auf den Mitangeklagten K.       zu erstrecken, da die Einziehungsentscheidung ihm gegenüber auf demselben sachlich-rechtlichen Mangel beruht.

Sander     

     Feilcke     

Wenske

RiBGH Fritsche ist

urlaubsbedingt an der

Unterschrift gehindert.

von Schmettau  

Sander

 

Fundstellen

Haufe-Index 15853039

NStZ-RR 2023, 6

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