Entscheidungsstichwort (Thema)
Erforderlichkeit erneuter Anhörung im Beschwerdeverfahren. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des von der Abschiebung bedrohten Ausländers. Beschwerdevefahren. Ursächlichkeit des Verfahrensfehlers der unterlassenen Anhörung
Leitsatz (amtlich)
a) Das Beschwerdegericht darf von einer erneuten Anhörung des Betroffenen nicht absehen, wenn es auf die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Ausländers, sich einer Abschiebung nicht entziehen zu wollen, und dessen Glaubwürdigkeit ankommt (Fortsetzung von BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153).
b) Eine erneute Anhörung durch das Beschwerdegericht ist auch dann unverzichtbar, wenn die Entscheidung der ersten Instanz auf einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) beruht.
c) Kann eine Verletzung des Grundrechts nach Art. 103 Abs. 1 GG in dem Beschwerdeverfahren infolge der inzwischen erfolgten Abschiebung nicht mehr durch erneute Anhörung behoben werden, ist davon auszugehen, dass die Haftanordnung des AG auf dem Verfahrensfehler beruht.
Normenkette
FamFG § 62 Abs. 1, § 68 Abs. 3 S. 2; AufenthG § 62 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
LG Wiesbaden (Beschluss vom 12.02.2010; Aktenzeichen 4 T 75/10) |
AG Wiesbaden (Beschluss vom 30.01.2010; Aktenzeichen 700 XVI 82/10 B) |
Tenor
Der Betroffenen wird wegen der Versäumung der Fristen für die Einlegung und für die Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Wiesbaden Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Wiesbaden vom 30.1.2010 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Wiesbaden vom 12.2.2010 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen werden der Landeshauptstadt Wiesbaden auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Die am 16.2.1943 geborene Betroffene, eine philippinische Staatsangehörige, hielt sich mehrere Jahre im Bundesgebiet auf. Sie war nicht im Besitz von Ausweispapieren und wurde am 29.1.2010 festgenommen. Auf Antrag der Beteiligten zu 2), der Ausländerbehörde am Aufgriffsort, hat das AG nach Anhörung und Einsichtnahme in die Ausländerakte am 30.1.2010 die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 29.4.2010 und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet.
Rz. 2
Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das LG mit Beschluss vom 12.2.2010 zurückgewiesen. Die Betroffene ist am 12.3.2010 in die Republik der Philippinen abgeschoben worden. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt sie, die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung festzustellen.
II.
Rz. 3
Das Beschwerdegericht ist davon ausgegangen, dass die Betroffene wegen unerlaubter Einreise vollziehbar ausreisepflichtig sei. Die Haft zur Sicherung der Abschiebung sei anzuordnen gewesen, weil die Betroffene nicht glaubhaft gemacht habe, dass sie sich der Abschiebung nicht entziehen werde. Es stehe auch nicht fest, dass die Abschiebung nicht binnen drei Monaten nach der Haftanordnung durchgeführt werden könne. Eine nochmalige Anhörung der Betroffenen sei entbehrlich, da durch sie keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien.
III.
Rz. 4
1. Die Rechtsbeschwerde ist nach Erledigung der Hauptsache durch den Vollzug der Abschiebung der Betroffenen mit dem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG statthaft, wofür es nach § 70 Abs. 3 Nr. 3 FamFG einer Zulassung durch das Beschwerdegericht nicht bedarf (vgl. BGH, Beschlüsse v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 727; v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, FGPrax 2010, 154, 155). Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
Rz. 5
2. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hat die Betroffene in ihren Rechten verletzt.
Rz. 6
a) Die Entscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel. Die Feststellung, die Betroffene habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie sich der Abschiebung nicht entziehen werde (vgl. § 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG), hätte nur nach einer persönlichen Anhörung der Betroffenen durch das Beschwerdegericht ergehen dürfen.
Rz. 7
aa) Dieser Verfahrensmangel ist nach § 74 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 71 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FamFG im Rechtsbeschwerdeverfahren zu prüfen, da die Rechtsbeschwerde zu Recht die unterlassene Anhörung der Betroffenen moniert und beanstandet, dass die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffende Entscheidung auf unzureichender richterlicher Sachaufklärung beruht und nicht eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage hat, welche der Bedeutung der Freiheitsgarantie gerecht wird (vgl. BVerfGE 58, 208, 222; 70, 297, 308; NJW 1998, 1774, 1775; InfAuslR 2008, 358, 360; NJW 2009, 2659, 2662).
Rz. 8
bb) Die Verfahrensrüge ist begründet. Das Beschwerdegericht durfte von der auch in einem Beschwerdeverfahren grundsätzlich erforderlichen Anhörung (vgl. BGH, Beschlüsse v. 28.1.2010 - V ZB 2/10, FGPrax 2010, 163; v. 4.3.2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153 und V ZB 222/09, FGPrax 2010, 154, 155) nicht absehen.
Rz. 9
(1) Nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG ist dies zwar ausnahmsweise - auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 EMRK - zulässig, wenn eine persönliche Anhörung in erster Instanz bereits erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (BGH, Beschlüsse v. 4.3.2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153 und V ZB 222/09, FGPrax 2010, 154, 155). Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Sachverhalt sich für eine Entscheidung nach Aktenlage eignet (EuGHMR 1992, 1813, 1814 - Helmers gegen Schweden; BGH, Beschl. v. 28.1.2010 - V ZB 2/10, FGPrax 2010, 163), woran es fehlt, wenn es um die Würdigung solcher Umstände geht, die nur aufgrund einer durch unmittelbare Anhörung des Betroffenen gewonnenen Überzeugung angemessen beurteilt werden können (vgl. EuGHMR, a.a.O.). So ist es hier.
Rz. 10
Das Beschwerdegericht durfte nicht allein aus der Vermutung in § 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG, dass der unerlaubt eingereiste und deshalb vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer sich einer Abschiebung entziehen wolle (dazu Senat, Beschl. v. 17.6.2010 - V ZB 13/10, juris Rz. 15), den von der Betroffenen vor dem AG bekundeten Willen zur Rückkehr in ihr Heimatland und zur Kooperationsbereitschaft mit der Ausländerbehörde ohne erneute Anhörung als nicht glaubhaft gemacht ansehen. Das Beschwerdegericht hätte sich vielmehr durch eine persönliche Vernehmung und Befragung der Betroffenen selbst davon überzeugen müssen, ob ihre Behauptungen zur ihrer Ausreise- und Kooperationsbereitschaft glaubhaft sind oder nicht.
Rz. 11
Der Senat hat in einem - allerdings erst nach der angegriffenen Entscheidung - gefassten Beschluss vom 4.3.2010 (V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153) ausgeführt, dass die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Ausländers (sich der Abschiebung nicht entziehen zu wollen) und dessen persönliche Glaubwürdigkeit nur aufgrund einer Anhörung und des dabei gewonnenen persönlichen Eindrucks hinreichend sicher beantwortet werden können. Diesen Anforderungen wird der angefochtene Beschluss nicht gerecht.
Rz. 12
Die Erklärungen der Betroffenen über ihren Willen zur Rückkehr auf die Philippinen konnten auch nicht - wie das Beschwerdegericht meint - deshalb von vornherein als nicht glaubhaft angesehen werden, weil die Betroffene für ihren Ausreisewillen keinen Nachweis (wie etwa ein Flugticket) habe vorlegen können. Ein nahe liegender Grund dafür könnten die geringen Barmittel der Betroffenen bei ihrem Aufgreifen (von weniger als zehn Euro) gewesen sein, mit denen sich ein solches Ticket nicht beschaffen lässt. Der von ihr bekundeten Bereitschaft, sich abschieben zu lassen, stünde das nicht entgegen.
Rz. 13
(2) Die erneute Anhörung war im vorliegenden Fall überdies wegen der Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf rechtliches Gehör durch die erste Instanz (Art. 103 Abs. 1 GG) unverzichtbar.
Rz. 14
(a) Der Verstoß gegen das Verfahrensgrundrecht ergibt sich hier daraus, dass das AG sich mit der einzigen Erklärung der Betroffenen in ihrer Anhörung überhaupt nicht auseinandergesetzt hat. Es hat nur den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG festgestellt und im Übrigen angemerkt, dass Gründe, welche ausnahmsweise ein Absehen von der Haft rechtfertigten, nicht ersichtlich seien. Bleibt - wie hier - das einzige (und damit zentrale) Vorbringen zu einer nach § 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG gebotenen Prüfung vollkommen unberücksichtigt, ist davon auszugehen, dass das Gericht seiner Pflicht nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht nachgekommen ist, das Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägung einzubeziehen (BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153).
Rz. 15
(b) Unter Berücksichtigung dieses - auch in der Beschwerdebegründung angesprochenen - Verfahrensmangels, hätte das Beschwerdegericht die Betroffene selbst dann erneut anhören müssen, wenn es davon keine zusätzlichen Erkenntnisse erwartete. Das Beschwerdegericht darf nämlich von der Ermächtigung in § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG keinen Gebrauch machen, wenn die Anhörung in erster Instanz bereits auf einem Verfahrensfehler beruht (vgl. Schulte-Bunert/Weinreich, FamFG, 2. Aufl., § 68 Rz. 40; zum FGG: BayObLGZ 1999, 12, 13; OLG Rostock FGPrax 2006, 187, 188; OLG Schleswig SchlHA 2007, 386, 387). Beruht die erstinstanzliche Entscheidung auf einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf rechtliches Gehör, sind die Ermittlungen des Gerichts erster Instanz keine geeignete Grundlage für das weitere Verfahren. Die Anhörung muss dann in der Beschwerdeinstanz - unter Beachtung der Verfahrensgrundrechte des Betroffenen - durchgeführt werden.
Rz. 16
b) Die Betroffene ist durch den Verfahrensmangel auch in ihrem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verletzt worden. Ob der auf der Verletzung des Verfahrensgrundrechts nach Art. 103 Abs. 1 GG beruhende Verfahrensfehler im Beschwerdeverfahren noch geheilt werden kann, bedarf hier keiner Entscheidung, weil das Beschwerdegericht die gebotene Anhörung der Betroffenen unterlassen hat und diese aufgrund der Abschiebung auch nicht mehr durchgeführt werden kann. Es ist deshalb zugunsten der Betroffenen davon auszugehen, dass die Beschwerdeentscheidung auf dem Verfahrensfehler beruht, und die Rechtswidrigkeit der Beschwerdeentscheidung festzustellen (OLG Hamburg, InfAuslR 2007, 74, 76; OLG München, InfAuslR 2008, 87, 88), weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Beschwerdegericht nach einer Anhörung zu einer für die Betroffene günstigeren Entscheidung gelangt wäre (vgl. BVerfGE 62, 392, 396; 89, 381, 392 f.).
Rz. 17
3. Der - nach der Erledigung der Hauptsache im Rechtsbeschwerdeverfahren zulässige - Antrag auf Feststellung, dass die Betroffene bereits durch die Haftanordnung in ihren Rechten verletzt wurde (dazu: BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 154 m.w.N.), ist nach dem vorstehend Ausgeführten ebenfalls begründet, weil der Beschluss des AG auf einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts der Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs beruht hat.
V.
Rz. 18
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 81 Abs. 1 Sätze 1 und 2, 83 Abs. 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, der Stadt, der die beteiligte Behörde angehört (vgl. § 430 FamFG), zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen zu verpflichten. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach §§ 128c Abs. 2, 30 Abs. 2 KostO.
Fundstellen
EBE/BGH 2010 |
FGPrax 2011, 290 |
MDR 2010, 1342 |