Leitsatz (amtlich)
Eine ausdrückliche Entscheidung, einen Zeugen nicht zu vereidigen, ist nach der Änderung des gesetzlichen Regel-/Ausnahme-Verhältnisses in § 59 Abs. 1 Satz 1 StPO nur dann zu treffen und in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen, wenn ein Verfahrensbeteiligter einen Antrag auf Vereidigung gestellt hat.
Normenkette
StPO § 59 Abs. 1 S. 1 F.: 24. August 2004
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 22. April 2005 werden als unbegründet verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
1. Die Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 59 Abs. 1 Satz 1 StPO ist nicht begründet.
Das Landgericht hat, wie durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen ist, jedenfalls in acht Fällen in der Hauptverhandlung vernommene Zeugen entlassen, ohne ausdrücklich über eine Vereidigung gemäß § 59 Abs. 1 StPO zu entscheiden. Entgegen der Ansicht der Revision war dies aber nicht rechtsfehlerhaft. § 59 Abs. 1 StPO in der Fassung durch das Erste Justizmodernisierungsgesetz vom 28. August 2004 (BGBl. I 2198) hat das frühere gesetzliche Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt und schreibt eine ausdrückliche Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen nur noch in den dort genannten Ausnahmefällen vor.
Soweit in Entscheidungen des 1. Strafsenats (Beschl. vom 15. Februar 2005 – 1 StR 584/04, StraFo 2005, 244) und des 3. Strafsenats (Beschl. vom 20. Januar 2005 – 3 StR 455/04, NStZ 2005, 340; ebenso Schuster StV 2005, 628, 629) die – die jeweilige Entscheidung nicht tragende – Ansicht vertreten wurde, § 59 Abs. 1 StPO verlange auch dann regelmäßig eine ausdrückliche Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen, wenn diese nicht für notwendig gehalten wird, und diese – positive oder negative – Entscheidung sei stets als wesentliche Förmlichkeit in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen, teilt der Senat diese Rechtsansicht nicht (vgl. schon Senatsbeschluss vom 17. August 2005 – 2 StR 284/05). Nach dem im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck gekommenen Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 59 Abs. 1 Satz 1 StPO und nach dem Sinn der Gesetzesänderung ist vielmehr, wenn ein Antrag eines Verfahrensbeteiligten auf Vereidigung des Zeugen nicht gestellt ist, nur eine positive Entscheidung, ein Zeuge sei aus den in § 59 Abs. 1 Satz 1 aufgeführten Ausnahme-Gründen zu vereidigen, ausdrücklich zu treffen und daher zu protokollieren. Die Feststellung, dass eine solche Ausnahme nicht vorliegt, bedarf nach allgemeinen Grundsätzen ebenso wenig einer ausdrücklichen Entscheidung wie die Feststellung, dass andere Abweichungen vom gesetzlich regelmäßigen Verfahrensgang nicht vorliegen.
Dem anders lautenden Hinweis in der Begründung des Gesetzentwurfs des Ersten Justizmodernisierungsgesetzes (BT-Drucks. 15/1508, S. 23), auf welchen sich die gegenteilige Ansicht stützt (vgl. BGH StraFo 2005, 244), will der Senat nicht folgen. Nach dem klaren Wortlaut des § 59 Abs. 1 StPO ist die Nichtvereidigung von Zeugen die Regel. Einer ausdrücklichen gerichtlichen Entscheidung bedarf nach allgemeinen Grundsätzen nicht die Absicht, einer gesetzlichen Regel zu folgen, sondern allein die Absicht, von ihr abzuweichen. Daher ist einer im Hauptverhandlungsprotokoll vermerkten Entlassungsverfügung zu entnehmen, das Gericht (bzw. der Vorsitzende) habe die Voraussetzungen, vom regelmäßigen Verfahrensgang abzuweichen, nicht als gegeben angesehen. Dies bedarf keiner förmlichen Entscheidung und ist deshalb auch keine wesentliche Förmlichkeit im Sinne von §§ 273 Abs. 1, 274 Satz 1 StPO. Eine negative Entscheidung über die Vereidigung ist vielmehr nur dann zu treffen und zu protokollieren, wenn ein Verfahrensbeteiligter einen Antrag auf Vereidigung des Zeugen gestellt hat.
2. § 48 OWiG und die dazu ergangene Rechtsprechung stehen dem nicht entgegen. Nach § 48 OWiG müssen die Gründe für ein Absehen von der Vereidigung nicht in das Protokoll der Hauptverhandlung aufgenommen werden. Diese Regelung, aus welcher geschlossen werden könnte, jedenfalls die Tatsache der Nichtvereidigung sei zu protokollieren, ist in § 59 Abs. 1 Satz 2 StPO gerade nicht übernommen worden.
Dem stehen auch Anforderungen des Revisionsverfahrens hinsichtlich der Zulässigkeit einer auf die Nichtbeachtung des § 59 StPO gestützten Verfahrensrüge nicht entgegen. Zwar hat der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Rüge, die Vereidigung eines Zeugen sei rechtsfehlerhaft unterlassen worden, auch ohne vorherige Anrufung des Gerichts (§ 238 Abs. 2 StPO) zulässig ist, wenn der Vorsitzende eine Entscheidung über die Vereidigung nicht getroffen hat (BGHSt 1, 269, 273; BGH NJW 1986, 1999, 2000; BGH NStZ 1984, 371; 1987, 374; vgl. Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 59 Rdn. 13 m.w.N.). Diese Rechtsprechung kann jedoch nicht ohne weiteres fortgeschrieben werden, nachdem das Gesetz geändert und das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 59 StPO gegenüber der früheren Rechtslage gerade umgekehrt wurde. Die Zulässigkeit der Rüge, der Vorsitzende habe rechtsfehlerhaft einen Ausnahmefall im Sinne des § 59 Satz 1 StPO nicht erkannt und eine Vereidigungsentscheidung nicht getroffen, wird daher nunmehr regelmäßig voraussetzen, dass in der Hauptverhandlung ein entsprechender Antrag gestellt wurde.
3. Auch im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung einen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten nicht ergeben.
Unterschriften
Rissing-van Saan, Otten, Fischer, Roggenbuck, Appl
Fundstellen
Haufe-Index 2556641 |
BGHSt 2006, 282 |
BGHSt |
NJW 2006, 388 |
EBE/BGH 2006, 12 |
NStZ 2006, 234 |
Nachschlagewerk BGH |
wistra 2006, 147 |
JA 2006, 494 |
NZV 2006, 274 |
NJW-Spezial 2006, 260 |
NJW-Spezial 2006, 90 |
StraFo 2006, 106 |