Verfahrensgang
LG Flensburg (Urteil vom 20.11.2009) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Flensburg vom 20. November 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung und wegen Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten greift mit der Sachrüge durch.
Rz. 2
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Rz. 3
a) Der Angeklagte heiratete im Dezember 1990 in der Türkei eine ältere Schwester der am 1. Juli 1983 geborenen Nebenklägerin. Vom März 1991 bis Ende 1993 und wieder ab 1996 arbeitete der Angeklagte – wie auch dessen von ihm inzwischen geschiedene Ehefrau – in einer vom Schwiegervater des Angeklagten betriebenen Gaststätte auf der Insel Föhr. Auch die Nebenklägerin half dort seit Vollendung ihres 13. Lebensjahres aus. Das von Sympathie zum Angeklagten geprägte Verhältnis änderte sich, nachdem der Angeklagte ab ungefähr Herbst 1996 begonnen hatte, seine Schwägerin an der Brust und im Intimbereich zu berühren. In der Küche des Lokals kam es zu zahlreichen sexuellen Übergriffen des Angeklagten. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf zweier sexueller Missbräuche noch im Kindesalter freigesprochen, weil Zweifel verblieben seien, ob die Handlungen noch während des kindlichen Schutzalters der Nebenklägerin ausgeführt worden seien.
Rz. 4
b) Der Angeklagte drang im Sommer 1997 – nach dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin – anal unter Gewaltanwendung in diese ein und führte den Analverkehr bis zum Samenerguss durch.
Rz. 5
Um sich dem Zugriff des Angeklagten zu entziehen, heiratete die Nebenklägerin am 23. November 2001 in der Türkei einen Cousin. Sie kehrte am 30. November 2001 auf die Insel Föhr zurück. Am folgenden Tag verlangte der Angeklagte drohend, dass sie ihn besuche; er äußerte sich wütend über die Eheschließung der Nebenklägerin und erklärte, dass sie nur ihm gehöre. Unter Anwendung von den Widerstand der Nebenklägerin überwindender Gewalt führte er den für die Nebenklägerin ersten vaginalen Geschlechtsverkehr durch. Solches wurde – ohne Widerstand – in der nächsten Zeit mehrfach in der Woche wiederholt und bis zum Jahr 2006 an verschiedenen Orten – stets unter Drohungen und Druck des Angeklagten – praktiziert.
Rz. 6
c) Der Angeklagte hat bestritten, die ausgeurteilten Taten begangen zu haben, und dargelegt, dass mit seiner Schwägerin nach der im Jahre 2000 erfolgten Annäherung von 2001 bis 2006 ein „normales Liebesverhältnis” bestanden habe. Deshalb habe er sich auch von seiner Ehefrau getrennt. Nach der ersten Heirat der Nebenklägerin habe er das Verhältnis beenden wollen. Sie habe aber den Kontakt zu ihm gesucht.
Rz. 7
d) 2006 lernte die Nebenklägerin ihren jetzigen Ehemann in der Türkei kennen. Während eines gemeinsamen Urlaubs im Juni bedrohte und beschimpfte der Angeklagte sie per SMS. Dies hatte ihr jetziger Ehemann mitbekommen, der den Angeklagten daraufhin angerufen hatte. „Dabei sei alles herausgekommen und sie habe ihren Ehemann über Details informiert” (UA S. 8). Ihre Eltern hätten am 9. Juni 2007 von einer ihrer Schwestern von den Übergriffen erfahren. Die Familie habe ihr dann zur Anzeigeerstattung geraten, was am 15. Juni 2007 – indes noch ohne Schilderung der analen Vergewaltigung, die erst später angegeben worden ist – geschehen sei.
Rz. 8
e) Das Landgericht hat sämtliche Angaben der Nebenklägerin als glaubhaft bewertet und „keine Anhaltspunkte dafür finden können, dass die Nebenklägerin eine einverständliche Beziehung aus Angst vor der Reaktion ihrer Familie oder ihrer Partner verheimlichen wollte und deshalb eine Lügengeschichte erzählt hat. Wie bereits dargelegt, hätte die Nebenklägerin sich dann bereits in jungen Jahren auf eine solche Beziehung eingelassen und die Lügengeschichte über Jahre aufrechterhalten. Die Kammer hält dies nach dem persönlichen Eindruck von der Zeugin für ausgeschlossen” (UA S. 16).
Rz. 9
2. Dieser vom Landgericht gewählte Ansatzpunkt zur Prüfung von Falschbelastungshypothesen der einzigen Belastungszeugin und die damit einhergehenden Erwägungen halten der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand (vgl. BGH StV 2000, 243, 244; Brause NStZ 2007, 505, 507 m.w.N.). Sie beruhen auf einer lückenhaften Würdigung festgestellter Umstände (vgl. BGHSt 44, 153, 158 f.).
Rz. 10
a) Das Landgericht hat es unterlassen, die Besonderheit der Aufdeckungssituation ihres Verhältnisses zum Angeklagten in Erwägung zu ziehen. Diese bestand darin, dass ihr zukünftiger Ehemann, den sie schon vor dem Türkeiurlaub kennen gelernt hatte, in einem Telefongespräch mit dem Angeklagten im Juni 2006 „alles” erfahren hatte (UA S. 8). Dies konnte nur bedeuten, dass sich der Angeklagte einer Partnerschaft mit der Nebenklägerin in einem Zeitraum berühmt haben musste, in dem der spätere Ehemann die Nebenklägerin bereits kennen gelernt hatte. Bei dessen Information über „Details” durch die Nebenklägerin befand sich diese wegen des den gewünschten Aufbau der neuen Partnerschaft stark störenden Umstands einer Beziehung mit einem anderen Mann in einer besonderen Erklärungsnot, die dringenden Anlass hätte geben können, die offenbar gewordene Beziehung zum Angeklagten wahrheitswidrig als von Druck und Drohungen geprägt zu schildern. Auf außerhalb der Aussage der Nebenklägerin liegende Umstände, die solches belegen könnten, vermochte das Landgericht in seiner Würdigung nicht zurückzugreifen.
Rz. 11
b) Gleiches gilt für die Würdigung der Umstände der Anzeigeerstattung. Die Initiative hierfür ging von Familienmitgliedern der Nebenklägerin aus, die sich diesen gegenüber im Fall einer einverständlichen Beziehung in gleicher Erklärungsnot befunden hätte.
Rz. 12
c) Das Landgericht hat zudem Feststellungen und Anhaltspunkte, die für eine einvernehmliche Beziehung der Nebenklägerin mit dem Angeklagten sprechen, unzureichend gewürdigt.
Rz. 13
Die Nebenklägerin sandte dem Angeklagten am 21., 25., 28. und 30. Juni 2006 Kurznachrichten, in denen sie diesen als „Schatz”, „mein Geliebter”, „geliebter Ehemann” und „Liebster” bezeichnet hatte. Das Landgericht hat die hierzu abgegebene Erklärung der Nebenklägerin für glaubhaft erachtet, der Angeklagte habe auf sie Druck ausgeübt, er werde ihren Eltern etwas antun, wenn sie nicht solche Nachrichten versende (UA S. 18). Diese Erwägung hätte indes im Hinblick auf die festgestellte Entwicklung der Beziehung zum Angeklagten einer kritischen Überprüfung bedurft. Sollten die Nachrichten vom Juni 2006 vom Urlaubsland Türkei aus nach dem Telefongespräch zwischen dem zukünftigen Ehemann und dem Angeklagten erfolgt sein, wodurch ein Ende der Beziehung zutage getreten sein musste, entbehrte die Erklärung der Nebenklägerin nahezu jeder Plausibilität, da sich die Nebenklägerin – trotz aller Drohungen – bereits eindeutig gegen den Angeklagten entschieden gehabt hätte. Das – ersichtlich ältere – Drohpotential wäre ab diesem Zeitpunkt wirkungslos geblieben und hätte keinen Anlass für die Versendung solcher Nachrichten mit unzutreffendem Inhalt geboten.
Rz. 14
Das Landgericht hat ferner – nicht unbedenklich (vgl. BGH StV 2003, 542, 543 m.w.N.) – Bekundungen zweier Zeugen, denen gegenüber die Nebenklägerin von einer freiwilligen Beziehung – gegenüber ihrer Freundin K. sogar von einer Falschanzeige auf Grund von Druck durch Vater und Schwester – berichtet hatte, vornehmlich mit besser bewerteten – indes nicht durch andere Umstände belastbar belegten – Aussagen der Nebenklägerin als widerlegt erachtet (UA S. 12 bis 15).
Rz. 15
3. Der Mangel der Beweiswürdigung hinsichtlich des Charakters der Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin erfasst auch die vom Landgericht angenommene Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin zum zeitlich viel früheren Tatgeschehen (vgl. BGH StV 2008, 121, 123). Das Landgericht hat insoweit eine differenzierte Betrachtung nicht vorgenommen.
Rz. 16
4. Die Sache bedarf demnach neuer Aufklärung und Bewertung. Bei Annahme eines plausiblen Grundes für eine teilweise unzutreffende Aussage (vgl. Brause aaO S. 511) – hier etwa Scham über eine freiwillige Beziehung zum älteren Schwager sogar nach einer Vergewaltigung – erscheint eine Beweisführung hinsichtlich der analen Penetration auf Grund der bisher festgestellten Steigerung von dieser Praktik vorausgegangenen Sexualhandlungen auch unter diesen eingeschränkten Voraussetzungen der Beweisführung nicht ausgeschlossen.
Unterschriften
Basdorf, Brause, Schaal, König, Schneider
Fundstellen