Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftanordnung. Sicherung der Abschiebung. Straf- oder Ermittlungsverfahren. Fehlendes Einvernehmen der Staatsanwaltschaft. Pflichtgemäßes Ermessen. Abschiebungshindernis
Leitsatz (amtlich)
Die Anordnung der Haft eines Ausländers, gegen den ein Straf- oder Ermittlungsverfahren anhängig ist, zur Sicherung der Abschiebung scheidet aus, solange die Staatsanwaltschaft der beabsichtigten Abschiebung nicht zugestimmt hat.
Normenkette
AufenthG § 72 Abs. 4; EMRK Art. 5 Abs. 5
Verfahrensgang
LG Kassel (Beschluss vom 02.03.2010; Aktenzeichen 3 T 160/10) |
AG Kassel (Beschluss vom 26.02.2010; Aktenzeichen 700 XIV 7 B/2010) |
Tenor
Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe bewilligt. Ihm wird Rechtsanwalt Dr. Toussaint beigeordnet.
Auf die Rechtsmittel des Betroffenen werden der Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Kassel vom 2.3.2010 und der Beschluss des AG Kassel vom 26.2.2010 aufgehoben.
Der Antrag auf Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen wird zurückgewiesen.
Die Stadt Kassel trägt die gerichtlichen Kosten des Verfahrens und die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene ist marokkanischer Staatsangehöriger. Er reiste seit 1992 mehrfach nach Deutschland ein und wurde wiederholt ab- bzw. zurückgeschoben. Nach seiner letzten Einreise wurde er am 19.3.2006 festgenommen. Das LG Frankfurt verhängte gegen ihn im September 2007 eine Freiheitsstrafe, die er bis zum 4.3.2010 verbüßte. Die von der beteiligten Behörde erstrebte Abschiebung des Betroffenen aus der Strafhaft scheiterte an dem Fehlen des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft.
Rz. 2
Gegen den Betroffenen wird ein weiteres Strafverfahren geführt. Aufgrund eines in diesem Verfahren am 11.1.2010 ergangenen Haftbefehls befindet sich der Betroffene seit der Verbüßung seiner Strafe in Untersuchungshaft. Im Hinblick auf seine weiterhin angestrebte Abschiebung erklärte die Staatsanwaltschaft, bei einer Aufhebung des Untersuchungshaftbefehls in Erwägung zu ziehen, nach § 154b Abs. 3 StPO vorzugehen.
Rz. 3
Daraufhin beantragte die beteiligte Behörde, den Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung zu inhaftieren. Das AG hat dem Antrag stattgegeben und am 26.2.2010 die Haft des Betroffenen für die Dauer von einem Monat, beginnend mit der Beendigung der Strafhaft und der Untersuchungshaft des Betroffenen, längstens jedoch bis zum 25.8.2010, angeordnet. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde hat das LG zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die Aufhebung der Haftanordnung erstrebt.
II.
Rz. 4
Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei aufgrund seiner unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Dass er sich der Abschiebung nicht entziehen werde, habe er nicht glaubhaft gemacht. Die Anordnung der Haft sei auch nicht unverhältnismäßig, weil davon auszugehen sei, dass die Abschiebung des Betroffenen innerhalb eines Monats nach dessen Entlassung aus der Untersuchungshaft durchgeführt werden könne. Das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu der Abschiebung des Betroffenen erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft sei in deren Ankündigung zu sehen, im Falle der Aufhebung des Untersuchungshaftbefehls ein Vorgehen nach § 154b Abs. 3 StPO zu erwägen.
III.
Rz. 5
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist zulässig und begründet.
Rz. 6
Der Erlass eines Haftbefehls zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers, gegen den öffentliche Klage erhoben worden ist oder gegen den ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, scheidet aus, solange die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen hierzu nicht erklärt hat. So liegt es hier.
Rz. 7
1. Ist gegen einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer ein Ermittlungs- oder Strafverfahren eingeleitet, treten das Interesse an der Durchführung des Strafverfahrens und das Interesse an der schleunigen Ausreise bzw. der Abschiebung des Ausländers zueinander in Widerspruch. Nach der in § 72 Abs. 4 AufenthG zum Ausdruck kommenden Wertung gebührt dem Interesse an der Strafverfolgung der Vorrang. Die Abschiebung darf nur im Einvernehmen mit der ermittelnden bzw. der Staatsanwaltschaft erfolgen, die gegen den Ausländer Anklage erhoben hat. Das "Einvernehmen" der Staatsanwaltschaft ist gegeben, wenn diese der Abschiebung des Betroffenen zugestimmt hat (Hk-AuslR/Hofmann, § 72 Rz. 30).
Rz. 8
Der Vorrang des Strafverfolgungsinteresses hat umgekehrt zur Folge, dass die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung des Ausländers ausscheidet, solange die Staatsanwaltschaft der von der Ausländerbehörde beabsichtigten Abschiebung nicht zugestimmt hat (vgl. OLG Düsseldorf FGPrax 2001, 130; OLG Zweibrücken InfAuslR 2003, 157; FGPrax 2006, 188; OLG Hamburg InfAuslR 2006, 27). Weil eine Abschiebung nicht erfolgen darf, ist für ihre Sicherung durch eine Inhaftierung des Betroffenen kein Raum.
Rz. 9
Das zur Abschiebung notwendige Einvernehmen der Staatsanwaltschaft bedeutet kein zeitweiliges Abschiebungshindernis, das ein ausreisepflichtiger Ausländer in den Grenzen von § 62 Abs. 2, 3 AufenthG hinzunehmen hat. Ein derartiges Hindernis bilden nur Umstände, die von den deutschen Behörden nicht beherrscht werden. So liegt es bei dem Ausstehen des zur Abschiebung eines Ausländers, gegen den ein Straf- oder Ermittlungsverfahren anhängig ist, notwendigen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nicht (a.M. OLG Düsseldorf FGPrax 2001, 130; OLG Zweibrücken InfAuslR 2003, 157). Die Erteilung des Einvernehmens bedeutet vielmehr eine Entscheidung, die die Staatanwaltschaft nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen hat. Wird das Einvernehmen erteilt, tritt das Interesse an der Strafverfolgung des Betroffenen hinter das Interesse an dessen Abschiebung zurück. Wird die Zustimmung verweigert, scheidet die Abschiebung des Betroffenen bis zur Beendigung der gegen diesen laufenden Ermittlungen bzw. des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens aus.
Rz. 10
2. Dass die Staatsanwaltschaft im Falle der Aufhebung der Untersuchungshaft des Betroffenen "erwägt, nach § 154 Abs. 3 StPO vorzugehen", bedeutet, wie die Rechtsbeschwerde zutreffend geltend macht, weder, dass die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung zur Abschiebung des Betroffenen erklärt hat, noch ist diese Feststellung mit dem Inhalt des Untersuchungshaftbefehls zu vereinbaren, nach welchem seitens der Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Betroffenen erhoben worden ist.
III.
Rz. 11
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Beteiligte zu 2) zu Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten.
Rz. 12
Die Festsetzung des Gegenstandwerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO.
Fundstellen