Verfahrensgang
LG Braunschweig (Urteil vom 26.02.2008) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 26. Februar 2008 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Jugendschutzkammer des Landgerichts Göttingen zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen unter Einbeziehung von anderweitig rechtskräftig verhängten Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Seine Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.
Rz. 2
1. Das Landgerichts hat folgende Feststellungen getroffen:
Rz. 3
Der Angeklagte lebte von seiner Ehefrau getrennt. Seine gemeinsamen Kinder besuchten ihn „im Wesentlichen” alle zwei Wochen über das Wochenende. Zwischen Ostern 2006 und dem 10. September 2006 missbrauchte der Angeklagte seine im Jahr 1994 geborene Tochter, die Nebenklägerin, indem er ihren äußeren Genitalbereich massierte und mit einem Finger in die Scheide eindrang. Ein solches Geschehen ereignete sich mindestens dreimal auf dem Sofa des Wohnzimmers und mindestens dreimal im Bett des Angeklagten. Bei einer weiteren Tat auf dem Sofa führte der Angeklagte eine Flasche in die Scheide der Nebenklägerin ein. Als diese vor Schmerzen schrie, führte er stattdessen seinen Finger ein.
Rz. 4
Von der Anklage erhobene weitere Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs konnten nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden.
Rz. 5
2. Die Beweiswürdigung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand (vgl. BGH NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht abgedruckt). Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tathergang und der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten allein auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt. Den an diese Beweiskonstellation zu stellenden Anforderungen (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 14; § 267 Abs. 1 Satz 1 Beweisergebnis 8; Indizien 2) werden die Urteilsgründe nicht gerecht.
Rz. 6
Die für die Überzeugung von der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin für das Landgericht maßgebliche Wertung, ihre Angaben wiesen einen „großen Detailreichtum” auf und seien „im wesentlichen konstant”, findet in den Urteilsfeststellungen keine Stütze. Zudem setzen sich die beweiswürdigenden Erwägungen nicht mit allen Umständen, die geeignet sind, die Entscheidung zu beeinflussen, in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise auseinander.
Rz. 7
a) Die Darstellung aller Taten erschöpft sich allein in der Schilderung eines serienhaft wiederholten sexuellen Kerngeschehens. Der vermeintliche Detailreichtum ist jedenfalls für die Sachverhaltsfeststellung oder die Begründung der Beweiswürdigung nicht fruchtbar gemacht worden.
Rz. 8
So bleibt die Bewertung des Landgerichts, die Nebenklägerin habe Details geschildert, die sie ohne reales Erleben nicht habe wissen können, unbelegt und bietet daher kein nachvollziehbares Kriterium für die Glaubhaftigkeit der Angaben. Der allein angeführte Umstand, dass die bei den Taten zwölf Jahre alte Nebenklägerin in der Hauptverhandlung „das Anlegen von Strümpfen und Strumpfhalter minutiös” beschreiben konnte, lässt kaum Rückschlüsse auf die Erlebnisfundiertheit der hiermit nicht unmittelbar verknüpften Schilderungen der Taten zu.
Rz. 9
In diesem Zusammenhang hätte auch die Feststellung der Anzahl der Taten sorgfältiger Erörterung bedurft. Das Landgericht gründet dies auf die Angaben der Geschädigten, es sei „eigentlich an jedem Wochenende” zu einem sexuellen Übergriff gekommen, es habe aber auch Wochenenden gegeben, an denen nichts passiert sei. Insgesamt seien die „Übergriffe oft geschehen”, „mehr als zweimal auf dem Sofa” und „mehr als zweimal im Bett des Angeklagten”; zudem habe es den besonderen Fall mit der Flasche gegeben. Eine Einbettung in zeitliche Gegebenheiten – mit Ausnahme des ersten festgestellten Übergriffs sind keine Tageszeiten genannt – oder eine Verknüpfung mit sonstigen individualisierenden Geschehnissen ist nicht belegt. So erschließt sich weder, anhand welcher Umstände die Nebenklägerin die Anzahl der Taten benennen konnte, noch, worin das Landgericht bei diesen Schilderungen den Detailreichtum gesehen hat.
Rz. 10
b) Auch die Bewertung der Angaben als konstant findet in den Urteilsfeststellungen keine Stütze. Vielmehr hat das Landgericht „Abweichungen” im Aussageverhalten der Nebenklägerin ausgemacht, die „einige Details” vergessen, aber „einige wichtige Details” erstmals in der Hauptverhandlung bekundet habe. Die im Hinblick auf diese Besonderheiten erforderliche geschlossene Darstellung ihrer damaligen und ihrer Angaben in der Hauptverhandlung lässt das Landgericht dennoch vermissen und legt auch nicht alle selbst als solche erkannten Abweichungen dar. Insbesondere hätte die gewichtige Aussageerweiterung, der Angeklagte habe zunächst eine Flasche eingeführt – wobei für dieses einzig beträchtlich markante Detail offensichtlich zugrunde gelegt wird, dass dies nur einen ergänzenden Handlungsteil bei einer von der Anklage erfassten Tat darstellt –, sorgfältiger in den Blick genommen werden müssen. Auf dieser Grundlage lässt sich die Wertung, die Angaben erfüllten das Glaubhaftigkeitskriterium der Konstanz, revisionsrechtlich nicht überprüfen.
Rz. 11
Die Feststellungen in Bezug auf die Aussageentstehung sind zudem lückenhaft. Den Urteilsgründen lässt sich hierzu lediglich entnehmen, dass die Nebenklägerin ihrer Mutter am 10. September 2006 erzählt habe, dass der Angeklagte an ihre Scheide gefasst habe. Unter welchen Umständen sie diese Vorwürfe im Sinne der festgestellten Taten erweitert hat, teilt das Landgericht nicht mit. Auch die Gründe für ein solches divergierendes Offenbarungsverhalten bleiben unerörtert.
Rz. 12
c) Eine nähere Auseinandersetzung mit den beträchtlichen psychischen Auffälligkeiten der Nebenklägerin lässt das Landgericht bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ebenfalls vermissen.
Rz. 13
d) Die Sicht des Landgerichts, es gebe keine Anhaltspunkte für eine unzutreffende Belastung des Angeklagten durch die Nebenklägerin, lässt unbeachtet, dass sie Vorwürfe für einen weitergehenden Tatzeitraum gegen ihn erhoben hat, diesbezüglich aber ein Freispruch erfolgt ist. Ob dieses Rückschlüsse auf ein Belastungsmotiv zulässt – wozu indes die Mitteilung der den Freispruch tragenden Gründe erforderlich gewesen wäre –, bleibt unerörtert.
Rz. 14
3. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alternative StPO Gebrauch.
Rz. 15
Sollte sich das neue Tatgericht abermals von der Schuld des Angeklagten überzeugen, so wird es bei der Prüfung der Voraussetzungen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung Folgendes zu beachten haben: Die den bisher einbezogenen Strafen zugrunde liegenden Taten sind sämtlich vor dem Strafbefehl des Amtsgerichts Bad Gandersheim vom 2. März 2005 begangen worden. Wäre dieser noch nicht vollstreckt – wobei auf die bislang ungeklärte Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten tatrichterlichen Verhandlung abzustellen ist (BGH NStZ-RR 2006, 232; Fischer, StGB 55. Aufl. § 55 Rdn. 37a) – so würde diese Vorverurteilung Zäsurwirkung entfalten. Dann käme eine Gesamtstrafenbildung mit den bisher einbezogenen Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Duisburg vom 17. April 2007 nicht in Betracht.
Unterschriften
Basdorf, Brause, Schaal, Schneider, Dölp
Fundstellen
Haufe-Index 2565242 |
NStZ 2009, 107 |