Leitsatz (amtlich)
Zur Zumutbarkeit der Benutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs zur Übermittlung der Berufungsbegründung an das Berufungsgericht, wenn am Abend des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist eine Übermittlung per Telefax aus von der Prozessbevollmächtigten des Berufungsklägers nicht zu vertretenden Gründen scheitert (Defekt des gerichtlichen Empfangsgerätes) und diese mit der aktiven Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs nicht vertraut ist.
Normenkette
ZPO §§ 130a, 233 S. 1 Gd
Verfahrensgang
OLG Rostock (Beschluss vom 22.04.2020; Aktenzeichen 5 U 271/19) |
LG Schwerin (Urteil vom 28.05.2019; Aktenzeichen 5a O 56/17) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Nebenintervenientin wird der Beschluss des OLG Rostock - 5. Zivilsenat - vom 22.4.2020 - 5 U 271/19 - aufgehoben.
Dem Kläger wird gegen die Versäumung der Berufungsbegründungfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für die Rechtsbeschwerde wird auf 44.174,54 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Kläger macht gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche aus Prospekthaftung geltend. Mit Urteil vom 28.5.2019 hat das LG die Klage abgewiesen. Gegen das den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 3.6.2019 zugestellte Urteil haben diese für den Kläger mit am selben Tag beim Berufungsgericht eingegangenem Schriftsatz vom 3.7.2019 Berufung eingelegt. Die Frist zur Begründung der Berufung ist antragsgemäß bis zum 5.9.2019 verlängert worden. Am Tag des Fristablaufs hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers zwischen 17:00 und 19:45 Uhr mehrfach versucht, die Berufungsbegründung per Telefax an das Berufungsgericht zu übersenden. Dies gelang nicht, weil das für Schriftsätze in Zivilsachen zur Verfügung stehende Faxgerät des Gerichts seit dem Nachmittag des 5.9.2019 für mehrere Tage defekt war. Nachdem ein Justizwachtmeister des Berufungsgerichts der Prozessbevollmächtigten des Klägers kein anderes empfangsbereites Faxgerät nennen konnte, hat diese die eingescannte Berufungsbegründung per E-Mail am 5.9.2019 um 19:30 Uhr an das Verwaltungspostfach des Berufungsgerichts übersandt. Diese E-Mail ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts am 6.9.2019 vom Gericht ausgedruckt worden. Das Original der Berufungsbegründung ist am 9.9.2019 bei Gericht eingegangen.
Rz. 2
Mit am selben Tag bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom 16.9.2019 haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde der Nebenintervenientin, bei der es sich um die vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers handelt.
II.
Rz. 3
Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist zulässig, weil die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, Alt. 1 ZPO). Der Beitritt der Nebenintervenientin ist gem. § 66 Abs. 1 und 2 ZPO zulässig. Er genügt den Voraussetzungen des § 70 Abs. 1 und 2 ZPO. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
Rz. 4
1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei unbegründet, weil der Kläger nicht ohne sein Verschulden an der Einhaltung der versäumten Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen sei (§ 233 ZPO). Ein Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten, das er sich gem. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse, liege darin, dass diese nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Fristwahrung ergriffen habe. Sie habe zwar einen Großteil der Sorgfaltsanforderungen erfüllt. Dennoch sei ihr vorwerfbar eine frist- und formgerechte Vorlage der Berufungsbegründung beim Gericht nicht gelungen. Sie habe, statt die eingescannte Berufungsbegründung an das für den Empfang formgebundener Schriftsätze in Zivilsachen nicht eröffnete Verwaltungspostfach des Gerichts zu senden, das besondere elektronische Anwaltspostfach verwenden können, um eine frist- und formgerechte Übersendung zu gewährleisten. Der Prozessbevollmächtigten des Klägers sei die Verwendung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs möglich und zumutbar gewesen. Sie sei zu dessen passiver Nutzung gesetzlich verpflichtet. Gemäß § 130a Abs. 3 Variante 2 ZPO hätte eine Einreichung der Berufungsbegründung über das besondere elektronische Anwaltspostfach als sicherem Übermittlungsweg i.S.v. § 130a Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 Nr. 2 ZPO zur Fristwahrung ausgereicht. Es sei von einer Prozessbevollmächtigten, der die Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs grundsätzlich zur Verfügung stehe, zu verlangen, dass sie diesen sicheren Übermittlungsweg nutze.
Rz. 5
Die Berufung sei gem. § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen, da die Berufungsbegründung erst nach Ablauf der (verlängerten) Frist des § 520 Abs. 2 ZPO eingegangen sei. Die als Anhang an eine E-Mail noch am Tag des Fristablaufs übersandte Datei mit der unterzeichneten und eingescannten Berufungsbegründung habe die Frist nicht wahren können, da die angehängte Bilddatei erst nach Fristablauf ausgedruckt worden sei. Zur Rechtzeitigkeit des Eingangs komme es auf den Ausdruck an.
Rz. 6
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 7
a) Das Berufungsgericht hat allerdings zutreffend angenommen, dass die Berufungsbegründung erst nach Ablauf der bis zum 5.9.2019 verlängerten Berufungsbegründungsfrist eingegangen ist. Die als Anhang zur E-Mail der Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 5.9.2019 übersandte Berufungsbegründung ist erst am 6.9.2019 - wie erforderlich (§ 520 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 ZPO i.V.m. § 130 ZPO) - in schriftlicher Form eingegangen. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist sie an diesem Tag vom Gericht ausgedruckt worden.
Rz. 8
aa) In der Rechtsprechung des BGH ist geklärt, dass eine im Original unterzeichnete Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsschrift, die eingescannt und im Anhang einer elektronischen Nachricht als PDF-Datei übermittelt wird, in schriftlicher Form erst bei Gericht eingereicht ist, sobald dem Gericht ein Ausdruck der den vollständigen Schriftsatz enthaltenden PDF-Datei vorliegt. Denn erst der Ausdruck erfüllt die Schriftform, weil durch ihn die Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsschrift in einem Schriftstück verkörpert wird und dieses mit der Unterschrift des Verfahrens- oder Prozessbevollmächtigten abgeschlossen wird. Dass die Unterschrift nur in Kopie wiedergegeben ist, ist entsprechend § 130 Nr. 6 Alt. 2 ZPO unschädlich, weil der im Original unterzeichnete Schriftsatz elektronisch übermittelt und von der Geschäftsstelle entgegengenommen worden ist (vgl. BGH, Beschl. v. 8.5.2019 - XII ZB 8/19 NJW 2019, 2096 Rz. 12; v. 4.11.2014 - II ZB 25/13, NJW 2015, 1027 Rz. 17; v. 4.12.2008 - IX ZB 41/08 NJW-RR 2009, 357 Rz. 9 f; v. 15.7.2008 - X ZB 8/08, NJW 2008, 2649 Rz. 12 f.; BAG NZA 2013, 983 Rz. 12).
Rz. 9
Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde lässt sich ein anderes Ergebnis auch nicht unter Heranziehung der Rechtsprechung des BGH zur Übermittlung einer Rechtsmittelschrift per Telefax herleiten. Danach kommt es für die Beurteilung der Rechtzeitigkeit des Eingangs eines per Telefax übersandten Schriftsatzes zwar allein darauf an, ob die gesendeten Signale noch vor Ablauf des letzten Tages der Frist vom Telefaxgerät des Gerichts vollständig empfangen (gespeichert) worden sind (BGH, Beschlüsse vom 25.4.2006 - IV ZB 20/05, BGHZ 167, 214 Rz. 16 ff. und vom 15.7.2008, a.a.O., Rz. 11 m.w.N.). Diese Rechtsprechung kann jedoch auf die Übermittlung einer E-Mail mit einem eingescannten Schriftsatz, die die Voraussetzungen für ein elektronisches Dokument nach § 130a ZPO nicht erfüllt, nicht übertragen werden. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die ausführliche Begründung des Beschlusses des BGH vom 8.5.2019 Bezug genommen (a.a.O. Rz. 14 ff.; zustimmend Bacher, MDR 2019, 851, 852; Degen, LMK 2009, 276151; Heßler in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 519 Rz. 18a; MünchKomm/ZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl., § 519 Rz. 29).
Rz. 10
bb) Vorliegend kann nicht davon ausgegangen werden, dass der zur Fristwahrung somit erforderliche Ausdruck der - als Anhang zur E-Mail vom 5.9.2019 übersandten - Berufungsbegründung dem Berufungsgericht bereits an diesem Tag vorgelegen hat.
Rz. 11
(1) Der Berufungskläger trägt die Beweislast dafür, dass seine Berufungsbegründungsschrift rechtzeitig bei Gericht eingegangen ist (Althammer in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 520 Rz. 4 m.w.N.; vgl. zur Beweislast betreffend die Einhaltung der Berufungsfrist BGH, Beschl. v. 28.1.2020 - VIII ZB 39/19 NJW-RR 2020, 499 Rz. 13). Dabei erbringt gem. § 418 Abs. 1 ZPO der gerichtliche Eingangsstempel den vollen Beweis für einen an diesem Tag erfolgten Eingang der Berufungsbegründung (vgl. BGH, Beschl. v. 28.1.2020, a.a.O., zum Eingang der Berufungsschrift).
Rz. 12
(2) Der Kläger hat den Beweis dafür, dass seine Berufungsbegründung am 5.9.2019 bei Gericht eingegangen ist, nicht erbracht.
Rz. 13
(a) Der auf den Ausdrucken der E-Mail vom 5.9.2019 und der Berufungsbegründung als deren Anhang angebrachte Eingangsstempel mit dem Vermerk "- per E-Mail -" und dem Datum "05.SEP.2019" beweist entgegen der Auffassung der Nebenintervenientin nicht gem. § 418 Abs. 1 ZPO, dass - wie erforderlich - die Berufungsbegründung dem Berufungsgericht am 5.9.2019 in ausgedruckter Form zugegangen ist. Der Stempel beweist vielmehr lediglich einen Eingang der Dokumente am 5.9.2019 "- per E-Mail ―". Zum Zeitpunkt ihres Ausdrucks verhält er sich dagegen nicht (vgl. zu einer ähnlichen Fallkonstellation BAG NZA 2013, 983 [Eingangstempel vom 29.11.2012; Ausdruck der E-Mail am 30.11.2012]).
Rz. 14
(b) Aus dem vom Berufungsgericht eingeholten Bericht der dortigen stellvertretenden Geschäftsleiterin vom 13.9.2019 ergibt sich vielmehr - wie vom Berufungsgericht festgestellt -, dass die am 5.9.2019 um 19:30 Uhr von der Prozessbevollmächtigten des Klägers an das Verwaltungspostfach des Gerichts übersandte E-Mail und die in ihrem Anhang befindliche Berufungsbegründung erst am 6.9.2019 und mithin nach Fristablauf ausgedruckt worden sind. Die von der Rechtsbeschwerde - erstmals - angeführte Variante, dass ein Bediensteter zur Zeit des Eingangs der E-Mail noch Überstunden geleistet und den Ausdruck noch am 5.9.2019 vollzogen haben könnte, musste das Berufungsgericht angesichts ihrer geringen Wahrscheinlichkeit im Rahmen der von Amts wegen erfolgenden Prüfung (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 28.1.2020, a.a.O.) des fristgerechten Eingangs der Berufungsbegründung nicht in Betracht ziehen. Dies gilt umso mehr, als den Prozessbevollmächtigten des Klägers der 6.9.2019 als Datum des Ausdrucks der E-Mail bereits mit Hinweis des Berufungsgerichts vom 30.9.2019 mitgeteilt worden war und sie hierauf weder das Datum des Ausdrucks in Frage gestellt noch Akteneinsicht genommen hatten, um dieses Datum zu überprüfen.
Rz. 15
b) Das Berufungsgericht hat jedoch zu Unrecht den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist abgelehnt. Ein dem Kläger zuzurechnendes (§ 85 Abs. 2 ZPO) Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten liegt nicht vor.
Rz. 16
aa) Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Die Gerichte dürfen daher bei Auslegung der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen. Allerdings sind die nach der jeweiligen prozessualen Lage gegebenen und zumutbaren Anstrengungen zur Wahrung des rechtlichen Gehörs zu verlangen. Etwaige Fristversäumnisse, die auf der Verzögerung der Entgegennahme von Schriftsätzen durch das Gericht beruhen, dürfen dem Bürger aber nicht angelastet werden (BVerfG NJW 2001, 3473; NZA 2000, 789, 790; NJW 1996, 2857 m.w.N.).
Rz. 17
Die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax ist in allen Gerichtszweigen uneingeschränkt zulässig. Wird dieser Übermittlungsweg durch ein Gericht eröffnet, so dürfen die aus den technischen Gegebenheiten des Kommunikationsmittels herrührenden besonderen Risiken nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Das gilt im Besonderen für Störungen des Empfangsgeräts im Gericht. In diesem Fall liegt die entscheidende Ursache für die Fristsäumnis in der Sphäre des Gerichts (BVerfG NJW 2001, 3473; NZA 2000, 789, 790; NJW 1996, 2857; BGH, Beschl. v. 27.6.2017 - II ZB 22/16 NJW-RR 2017, 1084 Rz. 12; vom 4.11.2014, a.a.O., Rz. 19; v. 5.9.2012 - VII ZB 25/12 NJW 2012, 3516 Rz. 10).
Rz. 18
Von einem Rechtsanwalt, der sich und seine organisatorischen Vorkehrungen darauf eingerichtet hat, einen Schriftsatz weder selbst noch durch Boten oder per Post, sondern durch Telefax zu übermitteln, kann daher beim Scheitern der gewählten Übermittlung infolge eines Defekts des Empfangsgeräts oder wegen Leitungsstörungen nicht verlangt werden, dass er innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte, vom Gericht offiziell eröffnete Zugangsart sicherstellt (BVerfG NJW 2001, 3473; NZA 2000, 789, 790; NJW 1996, 2857, 2858; BGH, Beschl. v. 28.4.2020 - X ZR 60/19 NJW 2020, 2194 Rz. 15; vom 4.11.2014, a.a.O., und vom 5.9.2012, a.a.O.; jew. m.w.N.). Wenn er feststellt, dass das Empfangsgerät gestört ist, ist es aber zumutbar, jedenfalls im gewählten Übermittlungsweg nach Alternativen zu suchen, die sich aufdrängen (BGH, Beschl. v. 27.6.2017, a.a.O., Rz. 14 m.w.N.; vgl. auch BGH, Beschl. v. 5.9.2012, a.a.O.).
Rz. 19
bb) Nach Maßgabe dieser Grundsätze liegt ein dem Kläger zuzurechnendes Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten nicht vor. Es ist insb. nicht darin zu sehen, dass sie die Berufungsbegründung am 5.9.2019 nicht über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) an das Berufungsgericht gesandt hat, nachdem dies mittels Telefax nicht möglich war.
Rz. 20
(1) Die Frage, ob ein Rechtsanwalt, der sich für den Versand eines fristwahrenden Schriftsatzes per Telefax entschieden hat, bei technischen Problemen kurz vor Fristablauf einen Übermittlungsversuch über das besondere elektronische Anwaltspostfach unternehmen muss, ist in der Instanzrechtsprechung und der Literatur umstritten.
Rz. 21
(a) Teilweise wird vertreten, in den vorgenannten Fällen stelle es eine dem Rechtsanwalt mögliche und zumutbare Maßnahme dar, den Schriftsatz über das besondere elektronische Anwaltspostfach zu versenden. Zu dessen passiver Nutzung seien Rechtsanwälte gem. § 31a Abs. 6 BRAO verpflichtet, so dass davon auszugehen sei, dass in allen Anwaltskanzleien auch ein entsprechender Zugang existiere. Zwar sehe das Gesetz eine aktive Nutzungspflicht derzeit noch nicht vor. Mit erfolgreicher Anmeldung zum besonderen elektronischen Anwaltspostfach bestehe jedoch grundsätzlich die Möglichkeit, aus ihm heraus auch Nachrichten zu versenden (OLG Dresden MDR 2020, 306, 307; NJW 2019, 3312 Rz. 8; LG Krefeld NJW 2019, 3658 Rz. 7; BeckOKFamFG/Burschel, § 17 Rz. 19a [Stand: 1.10.2020]; Elzer, FD-ZVR 2019, 422420). Ein Rechtsanwalt könne daher nur dann nach einem gescheiterten Faxversuch eines fristgebundenen Schriftsatzes die Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs verweigern, wenn er glaubhaft mache, dass eine solche Übermittlung aufgrund technischer oder zwingender organisatorischer Einschränkungen ebenfalls nicht möglich sei (OLG Dresden, a.a.O.).
Rz. 22
(b) Nach anderer Auffassung kann einem Rechtsanwalt nicht vorgehalten werden, dass er anstelle der Übermittlung per Telefax eine solche im elektronischen Rechtsverkehr hätte wählen müssen. Derzeit sei es Rechtsanwälten nicht zumutbar, sich im Falle einer Störung der Faxübermittlung innerhalb kurzer Zeit vor Fristablauf mit den Voraussetzungen einer anderen Zugangsart vertraut zu machen und eine Versendung per besonderem elektronischem Anwaltspostfach vorzunehmen (LG Mannheim NJW 2020, 940 Rz. 12 ff.; Siegmund, NJW 2020, 941 f.; Günther, NJW 2020, 1785, 1786; Windau, NZFam 2020, 71, 72; zweifelnd auch BGH, Beschl. v. 28.4.2020, a.a.O., Rz. 16). Zwar sei jeder Rechtsanwalt gem. § 31a Abs. 6 BRAO verpflichtet, die für die Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs erforderlichen technischen Einrichtungen vorzuhalten sowie Zustellungen und den Zugang von Mitteilungen über das besondere elektronische Anwaltspostfach zur Kenntnis zu nehmen. Es könne aber - wie der Austausch mit der Anwaltschaft zum elektronischen Rechtsverkehr zeige - nicht davon ausgegangen werden, dass jeder Rechtsanwalt bereits in der Lage sei, unter Beachtung der technischen Rahmenbedingungen des § 130a ZPO elektronische Dokumente zu erstellen und diese in seiner Anwendung für das besondere elektronische Anwaltspostfach an das Gericht zu versenden bzw. - mit qualifizierter elektronischer Signatur versehen - versenden zu lassen. Bis zum Eintritt der aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs für Rechtsanwälte bestehe keine allgemeine Pflicht, sich mit den Anforderungen und der Funktionsweise der jeweiligen Softwareanwendung für die Erstellung und den Versand elektronischer Dokumente auseinanderzusetzen. Habe sich ein Rechtsanwalt bislang noch nicht mit dem elektronischen Versand in einem allgemeinen Zivilverfahren befasst, könne hieraus kein Verschuldensvorwurf abgeleitet werden (LG Mannheim, a.a.O.; Günther, a.a.O.; Windau, a.a.O.).
Rz. 23
(2) Der Senat schließt sich für den vorliegenden Fall eines bisher nicht aktiv genutzten besonderen elektronischen Anwaltspostfachs der zuletzt genannten Auffassung an.
Rz. 24
Ausgangspunkt der Beurteilung, ob die Versäumung einer Frist auf dem Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) i.S.v. § 233 Satz 1 ZPO beruht, ist die Frage, ob die Partei mit den nach der jeweiligen prozessualen Lage gegebenen und zumutbaren Anstrengungen die Wahrung ihres rechtlichen Gehörs zu erlangen vermocht hätte. Auf diesem Grundsatz beruht die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH, dass von einem Rechtsanwalt, der sich und seine organisatorischen Vorkehrungen darauf eingerichtet hat, einen Schriftsatz weder selbst noch durch Boten oder per Post, sondern durch Fax zu übermitteln, beim Scheitern der gewählten Übermittlung infolge eines Defekts des Empfangsgeräts nicht verlangt werden kann, dass er innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte, vom Gericht offiziell eröffnete Zugangsart sicherstellt (s.o. zu aa).
Rz. 25
Entscheidend ist somit neben der Möglichkeit einer bestimmten Übermittlungsart ihre Zumutbarkeit. Daher ist in der Rechtsprechung des BGH ebenfalls anerkannt, dass es dem Rechtsanwalt, wenn er feststellt, dass das Empfangsgerät gestört ist, zumutbar ist, jedenfalls im gewählten Übermittlungsweg nach Alternativen zu suchen, die sich aufdrängen. Maßgeblich ist hier der geringfügige Aufwand, der zur Nutzung der Übermittlungsalternative erforderlich gewesen wäre (BGH, Beschl. v. 27.6.2017 - II ZB 22/16 NJW-RR 2017, 1084 Rz. 14 m.w.N.; vgl. auch BGH, Beschl. v. 5.9.2012 - VII ZB 25/12 NJW 2012, 3516 Rz. 11).
Rz. 26
Es erscheint erwägenswert, auch einen anderen als den gewählten Übermittlungsweg als zumutbar im vorgenannten Sinne zu erachten, wenn dieser Weg sich aufdrängt und der hierfür erforderliche Aufwand geringfügig ist. In diesem Rahmen kommt bei einer gescheiterten Übermittlung mittels Telefax eine Versendung über das besondere elektronische Anwaltspostfach in Betracht, wenn dieses von dem Prozessbevollmächtigten in der Vergangenheit bereits aktiv zum Versand von Schriftsätzen genutzt wurde, er also mit seiner Nutzung vertraut ist (so im Fall des OLG Dresden MDR 2020, 306).
Rz. 27
Diese Frage bedarf indes vorliegend keiner Entscheidung. Denn die Benutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs nach gescheiterter Übermittlung per Telefax ist jedenfalls dann kein zumutbarer, nur geringfügigen Aufwand verursachender alternativer Übermittlungsweg in vorstehendem Sinne, wenn der Prozessbevollmächtigte der Partei das besondere elektronische Anwaltspostfach bisher nicht aktiv zum Versand von Schriftsätzen genutzt hat und mit seiner Nutzung nicht vertraut ist. Davon ist vorliegend auszugehen.
Rz. 28
(a) Rechtsanwälte sind derzeit nur zur passiven Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs verpflichtet (§ 31a Abs. 6 BRAO). Bis zum Eintritt der aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs für Rechtsanwälte spätestens ab dem 1.1.2022 (vgl. § 130d ZPO in der ab dem 1.1.2022 geltenden Fassung) besteht für die Rechtsanwaltschaft keine allgemeine Pflicht, sich mit den Anforderungen und der Funktionsweise der Erstellung und des Versands elektronischer Dokumente auseinanderzusetzen. Dieser Übermittlungsweg stellt daher für einen Rechtsanwalt, der das besondere elektronische Anwaltspostfach bisher nicht aktiv genutzt und hierüber keine Dokumente versandt hat, keine sich aufdrängende, mit geringfügigem Aufwand nutzbare Alternative dar, wenn am Tag des Fristablaufs die von ihm gewählte Übermittlung mittels Telefax aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen scheitert. Es ist ihm nicht zuzumuten, sich innerhalb kurzer Zeit vor Fristablauf erstmals mit den Voraussetzungen dieser für ihn neuen Zugangsart vertraut zu machen.
Rz. 29
(b) Vorliegend hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers glaubhaft gemacht (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), dass sie mit der aktiven Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs nicht vertraut ist und dieses bisher nicht zum Versand von Schriftsätzen verwendet hat.
Rz. 30
(aa) Sie hat während des Rechtsstreits keine Schriftsätze über das besondere elektronische Anwaltspostfach eingereicht. Im Wiedereinsetzungsverfahren vor dem Berufungsgericht hat sie mit Schriftsätzen vom 10.12.2019 und 26.2.2020 vorgetragen, bei Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs sei eine aktive Übermittlung mit Signatur mangels Vorliegen der dazu erforderlichen Voraussetzungen in ihrer Kanzlei nicht möglich gewesen. Die Kanzlei halte keine Signaturkarte vor, welche überhaupt erst die aktive Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs ermögliche. Ohne qualifizierte Signatur komme die Einreichung eines Schriftsatzes jedoch der Einreichung eines nicht unterschriebenen Schriftsatzes bei Gericht gleich, der die Frist nicht wahre. Wegen des Fehlens der zur aktiven Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs erforderlichen Signaturkarte sei bei dem Versuch der Übermittlung der Berufungsbegründungsschrift nicht auf das besondere elektronische Anwaltspostfach zurückgegriffen worden.
Rz. 31
Aus diesen - sachlich unzutreffenden - Ausführungen der Prozessbevollmächtigten des Klägers ergibt sich glaubhaft ihre mangelnde Vertrautheit und Erfahrung mit einer aktiven Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs. Hierzu ist, soweit das Postfach von dem Rechtsanwalt selbst genutzt wird, weder eine qualifizierte elektronische Signatur noch - zu ihrer Herstellung - eine besondere Signaturkarte erforderlich. Es genügt eine einfache Signatur (vgl. § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2. i.V.m. Abs. 4 Nr. 2 ZPO; vgl. hierzu Greger in Zöller, a.a.O., § 130a Rz. 9, 11). Die Wiedergabe des Namens am Ende des Textes ist ausreichend (vgl. Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten, BT-Drucks. 17/12634, 25).
Rz. 32
Angesichts ihrer Unkenntnis der Funktionsweise einer aktiven Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs hätte sich die Prozessbevollmächtigte des Klägers am Tag des Fristablaufs, nachdem am Abend dieses Tages die Übermittlung der Berufungsbegründung mittels Telefax gescheitert war, innerhalb kürzester Zeit erstmals mit einer aktiven Nutzung des Postfachs vertraut machen müssen. Ein solcher alternativer Übermittlungsweg musste sich ihr in Anbetracht ihrer mangelnden diesbezüglichen Erfahrung weder aufdrängen noch konnte sie ihn mit geringfügigem Aufwand beschreiten.
Rz. 33
(bb) Der Kläger hat auch rechtzeitig glaubhaft gemacht, dass seiner Prozessbevollmächtigten die Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs nicht zumutbar war. Zwar sind nach §§ 234 Abs. 1 Satz 2, 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO alle Tatsachen, die für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Bedeutung sein können, innerhalb der einmonatigen Antragsfrist vorzutragen. Jedoch dürfen lediglich ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, noch nach Fristablauf vervollständigt werden (BGH, Beschl. v. 27.7.2017 - III ZB 76/16, NJW 2017, 3309 Rz. 9 m.w.N.). Nichts anderes gilt für Tatsachenvortrag, dessen Notwendigkeit zur Erlangung der beantragten Wiedereinsetzung auf der Grundlage der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht erkennbar war.
Rz. 34
So liegt der Fall hier. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers durfte in ihrem rechtzeitig bei Gericht eingereichten Wiedereinsetzungsantrag vom 16.9.2019 davon ausgehen, dass sie auf der Grundlage der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung mit dem mehrfachen Versuch der Übermittlung der Berufungsbegründung mittels Telefax an das Empfangsgerät des Gerichts alles ihr Mögliche und Zumutbare unternommen hatte, so dass ein Verschulden ihrerseits ausgeschlossen und ein Wiedereinsetzungsgrund i.S.v. § 233 Abs. 1 Satz 1 ZPO gegeben war. Dies zeigt sich auch daran, dass selbst das Berufungsgericht in seinem Hinweis vom 30.9.2019 zunächst davon ausgegangen ist, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war. Erst auf die Schriftsätze des Beklagten vom 10.10.2019 und 5.11.2019 sowie den weiteren ausführlichen Hinweis des Berufungsgerichts vom 20.1.2020 war für die Prozessbevollmächtigte des Klägers hinreichend erkennbar, dass seitens des Berufungsgerichts eine Pflicht zur Einreichung der Berufungsbegründung im Wege der aktiven Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs in Erwägung gezogen wurde und hierzu vorzutragen war. Dies ist rechtzeitig mit Schriftsatz vom 10.12.2019 und - innerhalb der vom Berufungsgericht eingeräumten Stellungnahmefrist - mit Schriftsatz vom 26.2.2020 geschehen. Durch diese Schriftsätze hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers - wie ausgeführt - ihre mangelnde Vertrautheit und bisher fehlende aktive Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs und damit zugleich deren fehlende Zumutbarkeit glaubhaft gemacht.
Fundstellen
Haufe-Index 14306902 |
NWB 2021, 1299 |
EWiR 2021, 285 |
FA 2021, 88 |
IBR 2021, 159 |
JurBüro 2021, 502 |
WM 2021, 508 |
WuB 2021, 236 |
ZAP 2021, 171 |
AnwBl 2021, 173 |
JZ 2021, 147 |
MDR 2021, 314 |
MDR 2021, 405 |
MDR 2021, 59 |
VersR 2021, 1063 |
ZfBR 2021, 248 |
BerlAnwBl 2021, 78 |
ErbR 2021, 365 |
ITRB 2021, 79 |
K&R 2021, 197 |
NJW-Spezial 2021, 127 |
RENOpraxis 2021, 90 |
VRR 2021, 2 |
r+s 2021, 605 |
BRAK-Mitt. 2021, 245 |
JM 2021, 144 |
NZFam 2021, 7 |
RDi 2021, 214 |