Verfahrensgang
LG Chemnitz (Urteil vom 23.01.2009) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 23. Januar 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO dahin abgeändert, dass die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird.
Seine weitergehende Revision und die Revision der Nebenklägerin werden nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. Bei dem Angeklagten wird die Gebühr für das Revisionsverfahren jedoch um ein Viertel ermäßigt; die Staatskasse trägt insoweit auch ein Viertel der gerichtlichen und der notwendigen Auslagen des Angeklagten.
Gründe
Rz. 1
1. Nachdem der Senat durch Beschluss vom 21. Mai 2008 sowohl die Verurteilung des Angeklagten wegen Sexualstraftaten zum Nachteil der Nebenklägerin zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten als auch die Anordnung der Sicherungsverwahrung aufgehoben hatte, hat ihn das Landgericht nunmehr wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht in elf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit seinem Rechtsmittel gegen seine Verurteilung, die Nebenklägerin mit ihrer Revision gegen den Freispruch des Angeklagten.
Rz. 2
2. Das Rechtsmittel der Nebenklägerin bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts erfolglos; die Revision des Angeklagten hat nur hinsichtlich der Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung Erfolg und ist im Übrigen nach § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.
Rz. 3
a) Das Landgericht hat eine günstige Prognose (§ 56 Abs. 1 StGB) bejaht, eine Strafaussetzung gemäß § 56 Abs. 2 StGB aber mit der Begründung abgelehnt, es fehlten Milderungsgründe von Gewicht. Diese Wertung erweist sich – auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabs – als rechtsfehlerhaft.
Rz. 4
aa) Es fehlt eine hinreichende Berücksichtigung der gewichtigen für den Angeklagten streitenden Umstände. Das Landgericht begründet seine negative Entscheidung damit, dass die erlittene Untersuchungshaft von über einem Jahr und fünf Monaten nicht als „allein ausschlaggebender Milderungsgrund” heranzuziehen sei. Andere Milderungsgründe, die bei der Strafzumessung angeführt sind, bleiben unerörtert.
Rz. 5
Dies lässt bereits besorgen, dass das Landgericht von einem zu engen Anwendungsbereich des § 56 Abs. 2 StGB ausgegangen ist und sich nicht bewusst war, dass schon ein Zusammentreffen durchschnittlicher und einfacher Milderungsgründe die Bedeutung besonderer Umstände im Sinne dieser Vorschrift haben kann (BGHR StGB § 56 Abs. 2 Gesamtwürdigung, unzureichende 2, 7). Bei der gebotenen Gesamtschau (vgl. hierzu BGH NStZ 1987, 21) sind dabei auch solche Milderungsgründe zu berücksichtigen, die bei der Strafzumessung oder der Prognoseentscheidung herangezogen worden sind (vgl. BGH NStZ 1987, 21; BGHR StGB § 56 Umstände, besondere 3, 8; Fischer, StGB 56. Aufl. § 56 Rdn. 20 m.w.N.), woran es vorliegend mangelt. So bleibt das dem Angeklagten zugute gehaltene umfassende Einräumen des äußeren Tatablaufs und die damit verbundene Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung – nur aufgrund seiner Angaben war eine Konkretisierung der Taten möglich – ebenso unerwähnt wie seine stabilen sozialen Verhältnisse und der enge zeitliche und situative Zusammenhang zwischen den Taten.
Rz. 6
bb) Vor allem werden die Begleit- und Folgeumstände der erlittenen Untersuchungshaft nur unzureichend gewürdigt. Aufgrund des Verfahrensgangs befand sich der Angeklagte zum Zeitpunkt des tatgerichtlichen Erkenntnisses seit fünf Monaten wieder auf freiem Fuße, die Wiedereingliederung ist ihm trotz der erheblichen Länge der Untersuchungshaft nach den Feststellungen gelungen. Ein durch die Vollstreckung des kurzen Strafrestes abermaliges Herausreißen aus den sozialen Bindungen wäre mit einer besonderen, vom Landgericht nicht ersichtlich berücksichtigten Härte verbunden. In diesem Zusammenhang wäre als mildernder Umstand auch von Bedeutung gewesen, dass sich der Angeklagte während der Dauer der Untersuchungshaft schweren, sich letztlich nicht bestätigten Tatvorwürfen und deswegen der Sanktion der Sicherungsverwahrung ausgesetzt sah.
Rz. 7
Insbesondere wäre aber in Bedacht zu nehmen gewesen, dass der Angeklagte durch die gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB auf die Strafe anzurechnende Untersuchungshaft nicht nur den für die Reststrafaussetzung gemäß § 57 Abs. 1 StGB maßgeblichen Zweidrittelzeitpunkt erreicht, sondern vielmehr bereits etwa sechs Siebtel der erkannten Freiheitsstrafe verbüßt hat (vgl. Fischer aaO Rdn. 24). Die so weitgehende Verbüßung ist aber bei der im Rahmen des § 56 Abs. 2 StGB gebotenen Beurteilung, ob die Strafaussetzung als nicht unangebracht und als den vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderlaufend erscheint (vgl. BGHSt 29, 370, 371), von maßgeblicher Bedeutung (BGH StV 1992, 63 und 156). Zudem wäre dem Angeklagten der Weg der Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB bereits seit einigen Monaten eröffnet. Für die Aussetzung nach dieser Vorschrift ist im Wesentlichen eine günstige Prognose (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) sachliche Voraussetzung. Eine solche ist dem Angeklagten rechtsfehlerfrei im Rahmen des § 56 StGB vom Landgericht gestellt worden. Damit liegt eine die Aussetzung anordnende Entscheidung des zwar nicht an die tatgerichtliche Prognose, aber an die dieser zugrunde liegenden Feststellungen gebundenen Gerichts keineswegs fern, für den Fall der (derzeitigen) Zuständigkeit des Tatgerichts (§ 462a Abs. 2 StPO) sogar sehr nahe. In der durch den Verfahrensgang bedingten bisherigen Versagung dieser Aussetzungsmöglichkeit ist deswegen ebenfalls eine Härte für den Angeklagten zu sehen.
Rz. 8
cc) Auch hätte das Landgericht auf die eine Strafaussetzung erleichternde Besonderheit eingehen müssen, dass die in die Gesamtstrafe einbezogenen verhältnismäßig niedrigen Einzelstrafen (Einsatzfreiheitsstrafe sechs Monate) für sich allein genommen wegen der günstigen Prognose sämtlich hätten zur Bewährung ausgesetzt werden können (vgl. BGHR StGB § 56 Abs. 2 Gesamtwürdigung, unzureichende 7 m.w.N.).
Rz. 9
b) Der Senat ändert in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO (vgl. BGHR StGB § 56 Abs. 2 Gesamtwürdigung, unzureichende 5; BGH NJW 1990, 193; BGH, Beschlüsse vom 17. August 2001 – 2 StR 297/01 und vom 5. August 2009 – 5 StR 595/08) das angefochtene Urteil dahin, dass dem Angeklagten Strafaussetzung zur Bewährung gewährt wird. Diese Entscheidung ist zwar grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Hier liegen jedoch die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 StGB erfüllenden Milderungsgründe vor; die Verteidigung der Rechtsordnung gebietet die Vollstreckung der (Rest-)Strafe nicht. Maßgeblich hierfür ist vor allem, dass der Angeklagte durch die erlittene Untersuchungshaft die Strafe bereits fast vollständig – etwas über drei Monate Freiheitsstrafe wären noch zu vollstrecken – verbüßt hat.
Rz. 10
Der Senat schließt im Hinblick auf das Gewicht der Milderungsgründe – die Möglichkeit weitergehender entgegenstehender Feststellungen ist nicht ersichtlich –, vorliegend aus, dass bei erneuter tatrichterlicher Würdigung „besondere Umstände” im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB noch rechtsfehlerfrei verneint werden könnten; zur Vermeidung einer weiteren Verzögerung trifft er daher die allein in Betracht kommende Sachentscheidung selbst.
Rz. 11
3. Die Festsetzung der Bewährungszeit (§ 56a StGB), die Erteilung von Auflagen oder Weisungen (§§ 56b ff. StGB) sowie die Belehrung des Angeklagten nach § 268a Abs. 3 StPO bleiben dem Tatgericht vorbehalten.
Unterschriften
Brause, Raum, Schneider, Dölp, König
Fundstellen
Haufe-Index 2562626 |
NStZ 2010, 147 |
StV 2009, 695 |