Leitsatz (amtlich)
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2000 Nr. L 12/1) dahin auszulegen, dass das später angerufene Gericht, das nach Art. 22 EuGVVO ausschließlich zuständig ist, gleichwohl das Verfahren aussetzen muss, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts, zu dessen Gunsten keine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO besteht, abschließend geklärt ist?
Normenkette
Brüssel I-VO Art. 22; Brüssel I-VO § 27
Verfahrensgang
Tenor
Die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Hanseatischen OLG - 13. Zivilsenat - vom 8.8.2012 wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2000 Nr. L 12/1) dahin auszulegen, dass das später angerufene Gericht, das nach Art. 22 EuGVVO ausschließlich zuständig ist, gleichwohl das Verfahren aussetzen muss, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts, zu dessen Gunsten keine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO besteht, abschließend geklärt ist?
Gründe
I.
Rz. 1
Die Beklagte ist Eigentümerin eines in Hamburg (Deutschland) belegenen Grundstücks, das mit einer Grundschuld belastet ist, aus der die Klägerin vollstrecken möchte. Mit ihrer seit dem 4.5.2011 bei dem LG Hamburg rechtshängigen Klage möchte die Klägerin die Verurteilung der Beklagten erreichen, die Zwangsvollstreckung wegen einer Forderung über 155.000 EUR nebst Zinsen zu dulden.
Rz. 2
Bereits am 2.12.2010 hatte die Beklagte bei dem LG Mailand (Italien) eine Klage sowohl gegen die Klägerin als auch gegen die in Italien ansässige P. I. SRL (im Folgenden: SRL) erhoben mit dem Ziel festzustellen, dass die Grundschuld nicht wirksam an die Klägerin abgetreten worden, die zwischen den Parteien geschlossene Sicherungszweckerklärung unwirksam und die Beklagte daher nicht zur Duldung der Zwangsvollstreckung verpflichtet sei. Mit Blick auf die mitverklagte SRL macht sie geltend, sie wolle sich an diesem Unternehmen beteiligen und die Investition mithilfe italienischer Banken finanzieren; die dafür erforderlichen Sicherheiten könne sie nicht aufbringen, wenn die Stellung der Sicherheit zugunsten der Klägerin wirksam sei. Mit Urteil vom 8.5.2012 verneinte das LG Mailand die Zuständigkeit der italienischen Gerichte. Die gegen die SRL erhobene Klage diene offensichtlich nur dazu, in missbräuchlicher Weise die italienische Gerichtsbarkeit zu beanspruchen. Eine Entscheidung über die gegen das Urteil eingelegte Berufung steht noch aus.
Rz. 3
In dem vorliegenden Rechtstreit möchte die Beklagte zunächst eine Aussetzung des Verfahrens nach Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2000 Nr. L 12/1; im Folgenden: EuGVVO) wegen anderweitiger Rechtshängigkeit erreichen. Ihr dahingehender Antrag ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Beklagte den Aussetzungsantrag weiter.
II.
Rz. 4
Das Beschwerdegericht verneint die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Rechtsstreits mit der Begründung, der Beklagten gehe es mit der in Italien erhobenen Klage ausschließlich darum, rechtsmissbräuchlich einen Gerichtsstand zu erschleichen, um auf diese Weise die Aussetzung des in Deutschland geführten Rechtsstreits nach Art. 27 EuGVVO zu erreichen. Vor diesem Hintergrund sei bei wertender Betrachtung davon auszugehen, dass sich der vorliegende Rechtstreit weder auf denselben Anspruch noch auf dieselben Parteien wie das in Italien angestrengte Verfahren beziehe. Es stünde im klaren und offenkundigen Widerspruch zum Zweck der EuGVVO, wenn eine Partei die Aussetzung durch Erhebung einer willkürlich konstruierten Klage erreichen könnte, die keinerlei materiellen internationalen Bezug aufweise. Derartige Feststellungen zu treffen, seien die deutschen Gerichte nicht gehindert. Entschieden werde nicht über die Zulässigkeit der in Italien anhängigen Klage - wofür keine Prüfungskompetenz bestehe -, sondern allein über das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 27 EuGVVO.
III.
Rz. 5
Die Begründetheit der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaften und nach § 575 ZPO auch im Übrigen zulässigen Rechtsbeschwerde hängt in entscheidungserheblicher Weise von der Beantwortung der im Tenor formulierten Vorlagefrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) ab.
Rz. 6
1. Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist eröffnet. Das ergibt sich bereits aus der - sei es auch rechtsmissbräuchlichen - Klageerhebung in zwei Mitgliedstaaten (vgl. EuGH - Rs. C-116/02 - Gasser, Slg. 2003, I-14693 Rz. 41; Jenard-Bericht, ABl. EG 1979 Nr. C 59/1, S. 8; Wagner in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 11).
Rz. 7
2. Die vorliegende Klage und das in Italien geführte Verfahren betreffen denselben Anspruch i.S.v. Art. 27 Abs. 1 EuGVVO. Der Begriff "desselben Anspruchs" ist im Rahmen der EuGVVO autonom und weit auszulegen, um einander widersprechende Urteile i.S.v. Art. 34 Nr. 3 EuGVVO zu vermeiden. Maßgeblich ist, ob der Kernpunkt beider Streitigkeiten derselbe ist. Das ist etwa im Verhältnis zwischen negativer Feststellungs- und entsprechender Leistungsklage der Fall (EuGH, 144/86 - Gubisch, Slg. 1987, 4861 = NJW 1989, 665 Rz. 11, 16, 18 f.; C-406/92 - Tatry, Slg. 1994, I-5439 = ZIP 1995, 943 Rz. 45, 48; BGH, Urt. v. 8.2.1995 - VIII ZR 14/94, NJW 1995, 1758 f.; Urt. v. 11.12.1996 - VIII ZR 154/95, BGHZ 134, 201, 210, jeweils zu Art. 21 EuGVÜ; kritisch Wagner in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 45).
Rz. 8
So liegt es auch hier. Die Klage in Italien richtet sich u.a. auf die Feststellung, dass keine Verpflichtung zur Duldung der Zwangsvollstreckung aus der Grundschuld bestehe. Mit der vorliegenden Klage soll eben diese Duldung erreicht werden. Dass es im italienischen Verfahren noch um weitere Feststellungen geht, ist für die Identität des Streitgegenstands unerheblich. Kernpunkt ist jeweils die Frage, ob die Klägerin aus der Grundschuld vorgehen darf; jedenfalls ist der Streitgegenstand des vorliegenden Rechtsstreits vollständig vom italienischen Verfahren abgedeckt. Im Übrigen beschränkt sich der Gegenstand der Klage in Italien nicht auf die Einbeziehung der SRL.
Rz. 9
3. Beide Verfahren sind zwischen identischen Parteien anhängig. Dabei ist die Identität unabhängig von der jeweiligen Parteistellung. Auch ist unschädlich, wenn in einem Verfahren zusätzlich Dritte beteiligt sind. Das hat lediglich zur Folge, dass sich die Rechtsfolgen des Art. 27 EuGVVO auf diejenigen Parteien beschränken, zwischen denen mehrere Verfahren anhängig sind (vgl. EuGH - Rs. C-406/92 - Tatry, Slg. 1994, I-5439 = ZIP 1995, 943 Rz. 31, 33).
Rz. 10
4. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts kann von einer Aussetzung nach Art. 27 Abs. 1 EuGVVO zumindest grundsätzlich nicht unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs abgesehen werden. Dies ist durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits hinreichend geklärt.
Rz. 11
In der Rechtssache Gasser (C-116/02, Slg. 2003, I-14693) hat der Gerichtshof festgestellt, dass von der Aussetzungspflicht auch dann nicht abgewichen werden darf, wenn die Verfahrensdauer in dem Mitgliedstaat des Erstgerichts allgemein unvertretbar lang ist. Der Anregung in dem dortigen Verfahren, eine Ausnahme für den Fall zuzulassen, dass eine Klage bösgläubig und mit Blockadeabsicht vor einem unzuständigen Gericht erhoben wird, ist der Gerichtshof nicht gefolgt (a.a.O., Rz. 63; vgl. auch BGH, Vorlagebeschluss vom 1.2.2011 - KZR 8/10, ZIP 2011, 975 Rz. 20). In der Rechtsache Turner (C-159/02, Slg. 2004, I-3565 = EWS 2004, 334) hat der Gerichtshof entschieden, einer Partei könne die Betreibung eines Gerichtsverfahrens in einem anderen Vertragsstaat nicht mit der Begründung untersagt werden, mit der Klage werde wider Treu und Glauben der Zweck verfolgt, das Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat zu behindern. Die Beurteilung der Angemessenheit der Klageerhebung sei den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats grundsätzlich entzogen.
Rz. 12
5. Durch den Gerichtshof klärungsbedürftig ist jedoch, ob die formale Betrachtungsweise auch dann anzustellen ist, wenn nur das später angerufene Gericht nach Art. 22 EuGVVO ausschließlich zuständig ist.
Rz. 13
a) Vorliegend besteht zugunsten der deutschen Gerichte der ausschließliche Gerichtsstand der belegenen Sache nach Art. 22 Nr. 1 EuGVVO; für eine ebenfalls bestehende ausschließliche Zuständigkeit (dazu Art. 29 EuGVVO) auch der italienischen Gerichte ist nichts ersichtlich.
Rz. 14
aa) Unter die - autonom und eng auszulegende - Vorschrift des Art. 22 Nr. 1 EuGVVO fallen u.a. Klagen, die darauf abzielen, Umfang oder Bestand eines dinglichen Rechts an einer unbeweglichen Sache zu bestimmen und den Inhabern dieser Rechte den Schutz der mit ihrer Rechtsstellung verbundenen Vorrechte zu sichern (vgl. BGH, Urt. v. 18.7.2008 - V ZR 11/08, NJW 2008, 3502 Rz. 8 ff.; EuGH - Rs. C-115/88 - Reichert, Slg. 1990, I-27, Rz. 11; C-343/04 - Land Oberösterreich, Slg. 2006, I-4557 = EWS 2006, 383 Rz. 30).
Rz. 15
bb) Diese Voraussetzungen sind bei einer Klage, die auf die Verurteilung zur Duldung der Zwangsvollstreckung aus einer Grundschuld gerichtet ist, nach allgemeiner Meinung erfüllt (Geimer/Schütze, EuZVR, 3. Aufl., Art. 22 EuGVVO Rz. 90; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 22 EuGVO Rz. 15; Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, S. 114; Lehmann/Sánchez Lorenzo, IPRax 2007, 190, 194; vgl. auch Thiel/Tschauner in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Stand: Oktober 2011, Art. 22 EuGVVO Rz. 17; Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 22 Brüssel I-VO Rz. 7; Wagner in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Art. 22 EuGVVO Rz. 14 f.; Borrás/Hausmann, unalex Kommentar Brüssel I-VO, Art. 22 Rz. 11. - Zur Pfandklage nach § 466 des österreichischen ABGB ebenso: OGH, Beschl. v. 23.11.1999 - 7 Ob 286/99 f, veröffentl. unter www.ris.bka.gv.at, S. 3 u., und ZfRV 2008, 77m. zust. Anm. Pröbsting; Tiefenthaler in Czernich/Tiefenthaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht, 2. Aufl., Art. 22 EuGVO Rz. 14; Mayr, EuZPR, Rz. II/129; Simotta in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze, 2. Aufl., Art. 22 Rz. 32, 37, auch für die umgekehrte Klage auf Feststellung des Nichtbestehens eines Grundpfandrechts).
Rz. 16
Bei der Grundschuld handelt es sich um ein Grundpfandrecht, also ein beschränktes dingliches Recht an einem Grundstück, aufgrund dessen an denjenigen, zu dessen Gunsten die Belastung erfolgt, eine Geldsumme zu zahlen ist (§ 1191 BGB). Die Grundschuld berechtigt den Gläubiger, sich im Wege der Zwangsvollstreckung aus dem Grundstück zu befriedigen (§§ 1192 Abs. 1, 1147 BGB). Dieser Duldungsanspruch gegen den Grundstückseigentümer stützt sich allein auf das dingliche Recht, nicht hingegen auf eine persönliche Forderung. Mit der Duldungsklage will sich die Klägerin den Schutz der Vorrechte sichern, die mit der Rechtsstellung als Inhaberin der Grundschuld verbunden sind.
Rz. 17
b) Damit kommt es auf die Frage an, ob die Aussetzungspflicht nach Art. 27 Abs. 1 EuGVVO auch dann gilt, wenn (nur) zugunsten des Zweitgerichts eine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO besteht. Ist die Frage zu bejahen, so ist die Rechtsbeschwerde begründet und das Verfahren in der Hauptsache auszusetzen; ist sie zu verneinen, so ist die Rechtsbeschwerde unbegründet und das Verfahren in der Hauptsache fortzuführen.
Rz. 18
aa) Die Frage der Aussetzungspflicht bei Bestehen einer ausschließlichen Zuständigkeit nur des Zweitgerichts ist in Rechtsprechung und Literatur ernsthaft umstritten (die Frage verneinend Juzgado de Primera Instancia Madrid, unalex ES-61; Court of Appeal [Civil Division] England and Wales, unalex UK-70; Cour de cassation [Frankreich], unalex FR-92; Schlussantrag GA Léger, C-116/02 - Gasser, Slg. 2003, I-14693, Rz. 51 ff. [ebenso die Auffassung der Kommission, wiedergegeben in EuGH, a.a.O., Rz. 36, 40]; Magnus/Mankowski/Fentiman, Brussels I Regulation, 2. Aufl., Introduction to Arts. 27-30 Rz. 57; Simons, unalex Kommentar Brüssel I-VO, Art. 27 Rz. 9 f.; Försterling in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Stand: Oktober 2011, Art. 27 EuGVVO Rz. 33; Tiefenthaler in Czernich/Tiefenthaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht, 2. Aufl., Art. 27 EuGVO Rz. 14; Dohm, Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, S. 168 ff., 174; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution des jugements en Europe, 4. Aufl., Rz. 338-1; Bernheim, SJZ 1994, 133, 140; Rauscher/Gutknecht, IPRax 1993, 21, 24; zu Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ in der Fassung des Übereinkommens vom 27.9.1968 [ABl. EG 1972 Nr. L 299/32, S. 36], nach dem sich das Zweitgericht grundsätzlich für unzuständig erklären musste, auch: OLG Köln NJW 1991, 1427, 1428 [obiter dictum]; Kaye, Civil Jurisdiction and Enforcement of Foreign Judgments, S. 1221 f., 1232; O'Malley/Layton, European Civil Practice, Rz. 23.08; eingeschränkt Droz, Pratique de la Convention des Bruxelles du 27 Septembre 1968, Rz. 115; eine Aussetzungspflicht bejahend OLG München, Beschl. v. 16.2.2012 - 21 W 1098/11, juris Rz. 18 (14); Geimer/Schütze, EuZVR, 3. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 18; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 27 Rz. 19; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 27 Brüssel I-VO Rz. 16b; Musielak/Stadler, ZPO, 9. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 7; Mayr in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze, 2. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 24 a.E.; Weller in Hess/Pfeiffer/Schlosser, The Brussels I-Regulation (EC) No 44/2001 (Heidelberg Report), Rz. 356, 403; Carl, Torpedoklagen, S. 193 ff.; McGuire, Verfahrenskoordination, S. 122 ff.; Schmehl, Parallelverfahren, S. 385 ff.; zum EuGVÜ bzw. LugÜ vgl. auch Gothot/Holleaux, La Convention de Bruxelles du 27 Septembre 1968, Rz. 219 ff.; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit nach dem EuGVÜ, S. 87, 89; BaslerKommentar-LugÜ/Mabillard, Art. 27 Rz. 52, 54; Dasser/Oberhammer - Dasser, LugÜ, Art. 21 Rz. 35).
Rz. 19
bb) Der Gerichtshof hat ausdrücklich offen gelassen, ob auch in solchen Fällen nach Art. 16 EuGVÜ (jetzt Art. 22 EuGVVO) der formalen Betrachtungsweise der Vorzug zu geben ist (C-116/02 - Gasser, Slg. 2003, I-14693 Rz. 44 f., 52; C-351/89 - Overseas Union Insurance, Slg. 1991, I-3317 = NJW 1992, 3221 Rz. 20 f.; ebenso BGH, Urt. v. 8.2.1995 - VIII ZR 14/94, NJW 1995, 1758, 1759).
Rz. 20
cc) Davon abgesehen lassen sich für beide Auffassungen gute Argumente ins Feld führen.
Rz. 21
(1) In Übereinstimmung mit dem Wortlaut von Art. 27 EuGVVO, der auch bei Bestehen einer ausschließlichen Zuständigkeit keinen Anhaltspunkt für eine einschränkende Auslegung bietet, neigt der Senat zur Bejahung einer Aussetzungspflicht auch in Konstellationen der vorliegenden Art. Hinzu kommt, dass den Prozessparteien durch eine Aussetzung des Zweitprozesses in aller Regel kein unzumutbarer Nachteil entsteht. Durch die Klärung der Zuständigkeitsfrage wird die Erlangung effektiven Rechtsschutzes in der Regel allenfalls verzögert, nicht aber endgültig verhindert (vgl. auch EuGH - Rs. C-163/95 - von Horn, Slg. 1997, I-5451 = IPRax 1999, 100 Rz. 22 zu intertemporalen Zuständigkeitskonflikten). Bei paralleler Prozessführung besteht demgegenüber die Gefahr eines positiven Kompetenzkonflikts und damit auch die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen. Dies gilt umso mehr, als die Prüfung, ob eine ausschließliche Zuständigkeit vorliegt, ihrerseits nicht stets eindeutig zu beantworten ist, und damit auch mit guten Gründen über die Frage gestritten werden kann, ob ein Rechtsmissbrauch gegeben ist, wenn eine Klage in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen erhoben wird, für den eine ausschließliche Zuständigkeit in Betracht kommt.
Rz. 22
(2) Allerdings spricht für die Gegenauffassung, dass die Aussetzungspflicht nach Art. 27 EuGVVO nach ihrem Sinn und Zweck zwar vermeiden soll, dass Gerichtsentscheidungen nach Art. 34 Nr. 3 bzw. 4 EuGVVO wegen widersprechender Entscheidungen zur selben Sache nicht anerkannt werden können (vgl. insoweit EuGH, 144/86 - Gubisch, Slg. 1987, 4861 = NJW 1989, 665 Rz. 8; C-116/02 - Gasser, Slg. 2003, I-14693 Rz. 41), dieser Zweck aber im Fall einer ausschließlichen Zuständigkeit des Zweitgerichts nach Art. 22 EuGVVO nicht einschlägig ist. Denn eine unter Verkennung dieser ausschließlichen Zuständigkeit ergehende Sachentscheidung des Erstgerichts wäre nach Art. 35 Abs. 1 EuGVVO ohnehin nicht anerkennungsfähig; anders verhält es sich nur bei einer Sachentscheidung unter Verkennung einer Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 23 EuGVVO. Zudem muss sich das Erstgericht nach Art. 25 EuGVVO von Amts wegen für unzuständig erklären, wenn eine ausschließliche Zuständigkeit des Zweitgerichts nach Art. 22 EuGVVO besteht. Davon kann weder aufgrund Gerichtsstandsvereinbarung noch aufgrund rügeloser Einlassung des Beklagten abgewichen werden (Art. 23 Abs. 5, Art. 24 Satz 2 EuGVVO; vgl. insoweit auch EuGH - Rs. C-616/10 - Solvay, EWS 2012, 347 Rz. 44; C-4/03 - GAT, Slg. 2006, I-6509 = EWS 2006, 382, Rz. 24). Zwar ist die EuGVVO von dem Anliegen getragen, grundsätzlich eine wechselseitige Überprüfung der Zuständigkeit zwischen Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten zu vermeiden (vgl. dazu EuGH - Rs. C-351/89 - Overseas Union Insurance, Slg. 1991, I-3317 = NJW 1992, 3221 Rz. 24). Indessen setzt die Anwendung der Regelung des Art. 29 EuGVVO, nach der sich das Zweitgericht bei doppelter ausschließlicher Zuständigkeit für unzuständig erklären muss, eine solche Prüfung durch das Zweitgericht ohnehin voraus. Dasselbe gilt im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung (Art. 35 Abs. 1, Art. 45 Abs. 1 EuGVVO).
Rz. 23
6. Auch wenn die Vorlagefrage bereits Teil eines beim Gerichtshof anhängigen Vorabentscheidungsersuchens ist (C-438/12; vgl. OLG München, Beschl. v. 16.2.2012 - 21 W 1098/11, juris), erscheint eine erneute Vorlage sachdienlich. Zwar kommt in solchen Fällen eine Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit entsprechend § 148 ZPO in Betracht (vgl. BGH, Beschl. v. 17.7.2012 - VIII ZR 13/12, juris Rz. 11 f.; Beschl. v. 30.3.2005 - X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 378; OLG Düsseldorf NJW 1993, 1661; für eine uneingeschränkte Vorlagepflicht dagegen: Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 148 Rz. 3b).
Rz. 24
Dagegen spricht hier aber, dass sich die maßgebliche Rechtsfrage in dem beim Gerichtshof bereits anhängigen Verfahren nur unter Bedingungen stellt. Dort ist nämlich zunächst zu klären, ob überhaupt ein Fall doppelter Rechtshängigkeit i.S.v. Art. 27 EuGVVO vorliegt und ob eine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 22 EuGVVO besteht. Sollte der Gerichtshof auch nur eine dieser Vorfragen verneinen, käme es auf die hier maßgebende Frage nicht mehr an. Bei einer Aussetzung entsprechend § 148 ZPO müsste das vorliegende Verfahren erst wieder aufgenommen und sodann zur Vorlage gebracht werden, was die Beantwortung der Frage nur verzögerte.
Fundstellen
EBE/BGH 2013 |
EWiR 2014, 131 |
WM 2013, 2160 |
ZIP 2014, 342 |
EuZW 2014, 120 |
JZ 2014, 11 |
MDR 2013, 1480 |
RIW 2014, 78 |
ZInsO 2013, 2339 |