Leitsatz (amtlich)
Im Fall der Betreuung eines Kindes im paritätischen Wechselmodell sind vom Einkommen eines um Verfahrenskostenhilfe nachsuchenden Elternteils ein hälftiger Unterhaltsfreibetrag i.S.v. § 76 Abs. 1 FamFG iVm § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO und der tatsächlich für das Kind gezahlte Barunterhalt abzusetzen.
Normenkette
FamFG § 76 Abs. 1; ZPO § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 Buchst. b, Abs. 9
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der weiteren Beteiligten zu 4 wird der Beschluss des 13. Zivilsenats - 4. Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 8. Februar 2021 in Ziffer II des Tenors aufgehoben.
Die sofortige Beschwerde des weiteren Beteiligten zu 1 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Meppen vom 19. Januar 2021 in der Fassung des Teilabhilfebeschlusses vom 26. Januar 2021 wird zurückgewiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten findet nicht statt.
Gründe
A.
Rz. 1
Die Rechtsbeschwerde betrifft die Frage, in welcher Höhe im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe ein Unterhaltsfreibetrag für ein Kind zu berücksichtigen ist, wenn es von seinen Eltern im paritätischen Wechselmodell betreut wird.
Rz. 2
Der Antragsteller (Beteiligter zu 1) und die Antragsgegnerin (Beteiligte zu 2) sind die Eltern des im April 2011 geborenen Kindes D. Das Kind wird von den Eltern im paritätischen Wechselmodell betreut. Der Antragsteller zahlt für das Kind einen monatlichen Barunterhalt von 50 €.
Rz. 3
Das Amtsgericht hatte dem Antragsteller für ein Sorgerechtsverfahren Verfahrenskostenhilfe bewilligt, ihm einen Rechtsanwalt beigeordnet und monatliche Ratenzahlungen von 207 € auf die Verfahrenskosten angeordnet. Dabei hat es mit Blick auf das Kind vom Einkommen des Antragstellers nur den von ihm gezahlten Barunterhalt abgesetzt. Einen zusätzlichen Unterhaltsfreibetrag für das Kind hatte es nicht in Abzug gebracht.
Rz. 4
Hiergegen hat der Antragsteller sofortige Beschwerde eingelegt, mit der er unter anderem die Absetzung eines monatlichen Unterhaltsfreibetrags für das Kind in Höhe von 340 € geltend gemacht hat. Das Amtsgericht hat der sofortigen Beschwerde teilweise dahingehend abgeholfen, dass es die zuvor übersehene Sozialversicherung von 149 € vom Einkommen abgezogen und für das Kind einen hälftigen Unterhaltsfreibetrag von 170 € berücksichtigt und die monatliche Ratenzahlung daher auf 47 € reduziert hat.
Rz. 5
Das Oberlandesgericht hat der verbliebenen sofortigen Beschwerde stattgegeben. Dabei hat es seiner Entscheidung neben dem vom Antragsteller gezahlten Barunterhalt von 50 € einen vollen Unterhaltsfreibetrag für das Kind von 340 € zugrunde gelegt. Infolgedessen hat es die Anordnung zur Zahlung von Raten aufgehoben. Hiergegen wendet sich die Staatskasse (Beteiligte zu 4) mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde, mit der sie die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung in der Fassung des Teilabhilfebeschlusses begehrt.
B.
Rz. 6
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, weil das Beschwerdegericht sie zugelassen hat (§§ 76 Abs. 2 FamFG, 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO) und es um Fragen der persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe geht (vgl. Senatsbeschluss vom 28. August 2019 - XII ZB 119/19 - FamRZ 2019, 1944 Rn. 6). Sie ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Staatskasse, die in den vorinstanzlichen Verfahren nicht beteiligt worden ist, rechtsbeschwerdebefugt, weil sie durch die angefochtene Entscheidung, mit der ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt worden ist, materiell beschwert ist (vgl. §§ 76 Abs. 2 FamFG, 127 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ZPO; Senatsbeschluss vom 13. April 2016 - XII ZB 44/14 - FamRZ 2016, 1062 Rn. 8).
Rz. 7
Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
I.
Rz. 8
Das Beschwerdegericht hat seine in FamRZ 2021, 1393 veröffentlichte Entscheidung wie folgt begründet:
Rz. 9
Gemäß § 76 Abs. 1 FamFG iVm § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO sei vom Einkommen des Antragstellers der volle Freibetrag für sein unterhaltsberechtigtes Kind abzusetzen. Diese Regelung sei eindeutig. Dem Gesetzgeber sei auch nicht verborgen geblieben, dass Kinder regelmäßig von beiden erwerbstätigen Elternteilen unterhalten würden, ohne dass er daraus die Konsequenz einer Aufteilung des Freibetrags zwischen den Eltern angeordnet hätte. Deshalb könne bei intakter Ehe der Kinderfreibetrag auch von beiden erwerbstätigen Elternteilen in voller Höhe in Anspruch genommen werden. Nichts anderes könne jedoch gelten, wenn sich die Eltern getrennt und für ein Wechselmodell entschieden hätten. Auch in diesem Fall kämen die Eltern gemeinsam für den Unterhalt in Bar- oder Naturalleistungen auf, lediglich in getrennten Wohnungen.
Rz. 10
Für eine teleologische Reduktion der Regelung des § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO sei im Fall des Wechselmodells kein Raum. Denn es liege keine planwidrige Regelungslücke vor. Der Gesetzgeber habe sich hinsichtlich der Freibeträge bewusst für praktikable Pauschalen entschieden, um das Gericht von weiteren Ermittlungen und Berechnungen freizustellen. Ob in tatsächlicher Hinsicht von einem paritätischen Wechselmodell auszugehen sei, sei häufig nicht ohne Weiteres feststellbar.
II.
Rz. 11
Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 12
Die Rechtsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Beschwerdegericht vom Einkommen des Antragstellers für dessen unterhaltsberechtigtes Kind rechtsfehlerhaft den vollen Unterhaltsfreibetrag nach § 76 Abs. 1 FamFG iVm § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO (im Folgenden: Kinderfreibetrag) abgesetzt hat. Richtigerweise hätte lediglich der hälftige Kinderfreibetrag in Abzug gebracht werden dürfen.
Rz. 13
1. Allerdings ist streitig, in welcher Höhe ein Kinderfreibetrag zu berücksichtigen ist, wenn ein Kind - wie hier - jeweils zur Hälfte in den Haushalten beider Elternteile im sogenannten paritätischen Wechselmodell betreut wird.
Rz. 14
Teilweise wird auch in diesem Fall mit den vom Beschwerdegericht angeführten Argumenten ein voller Abzug des Kinderfreibetrags befürwortet (vgl. OLG Dresden FamRZ 2016, 253 Rn. 3; MünchKommZPO/Wache 6. Aufl. § 115 Rn. 42; Zöller/Schultzky ZPO 34. Aufl. § 115 Rn. 36; BeckOK ZPO/Reichling [Stand: 1. September 2021] § 115 Rn. 33; Gottschalk in Gottschalk/Schneider Prozess- und Verfahrenskostenhilfe 10. Aufl. Rn. 308; Musielak/Voit/Fischer ZPO 18. Aufl. § 115 Rn. 18; Jokisch FuR 2018, 13, 14; wohl auch Nickel FamRB 2020, 444, 445; Bahrenfuss/Wittenstein FamFG 3. Aufl. § 115 ZPO Rn. 32).
Rz. 15
Demgegenüber spricht sich die Gegenmeinung dafür aus, im Fall des paritätischen Wechselmodells nur den hälftigen Kinderfreibetrag zu berücksichtigen. Sie verweist auf eine Kostenentlastung der Eltern während des Zeitraums, in dem sich das Kind jeweils beim anderen Elternteil aufhält, sowie darauf, dass eine Gleichstellung mit Eltern, die in einem intakten Familienverband leben würden, nicht geboten sei, weil bei getrenntlebenden Eltern ein solcher gerade nicht mehr bestehe (vgl. OLG Frankfurt FamRZ 2020, 1746 Rn. 7 ff.; OLG Brandenburg [1. Senat für Familiensachen] Beschluss vom 10. Dezember 2020 - 9 WF 266/20 - nicht veröffentlicht; OLG Brandenburg [4. Senat für Familiensachen] Beschluss vom 1. Februar 2019 - 13 WF 13/19 - juris Rn. 5; Staudinger/Dürbeck BGB [2019] § 1684 Rn. 270; ders. in Prütting/Helms FamFG 5. Aufl. § 76 Rn. 30; Zimmermann Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe 6. Aufl. Rn. 97 [Fn. 50]; Götsche jurisPR-FamR 25/2020 Anm. 5; Bartels in Dutta/Jacoby/Schwab FamFG 4. Aufl. § 76 Rn. 82 [Fn. 354]; Christl FamRZ 2016, 959, 961 f.; ders. in Rpfleger 2018, 241, 245 f.; ders. in JurBüro 2021, 340, 344; offenlassend OLG Stuttgart OLGR 2007, 1039).
Rz. 16
2. Die letztgenannte Auffassung ist im Ergebnis zutreffend.
Rz. 17
Im Fall des paritätischen Wechselmodells ist vom Einkommen eines um Verfahrenskostenhilfe nachsuchenden Elternteils (im Folgenden: Bedürftiger), der für sein unterhaltsberechtigtes Kind - wie hier - Barunterhalt leistet, neben dem tatsächlich gezahlten Barunterhalt ein hälftiger Kinderfreibetrag abzusetzen. Der Wortlaut der Regelungen in § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b und Satz 9 ZPO stehen dem nicht entgegen, weil er dem Fall des paritätischen Wechselmodells nicht gerecht wird. § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO ist vielmehr dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift im Fall des paritätischen Wechselmodells neben der Berücksichtigung einer tatsächlich gezahlten Geldrente einen zusätzlichen Abzug des Freibetrags gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO nicht ausschließt und die Freibetragsregelung ist dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass der Freibetrag nur in hälftiger Höhe vom Einkommen des Bedürftigen abzuziehen ist.
Rz. 18
a) § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO steht im Fall des paritätischen Wechselmodells auch bei tatsächlicher Zahlung einer Geldrente einem Abzug des Freibetrags gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO nicht entgegen.
Rz. 19
aa) Nach § 76 Abs. 1 FamFG iVm § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO ist vom Einkommen eines Bedürftigen bei Unterhaltsleistungen auf Grund gesetzlicher Unterhaltspflicht für jede unterhaltsberechtigte Person jeweils ein Betrag in Höhe des um 10 vom Hundert erhöhten Regelsatzes, der für eine Person ihres Alters vom Bund gemäß den Regelbedarfsstufen 3 bis 6 nach der Anlage zu § 28 SGB XII festgesetzt oder fortgeschrieben worden ist, abzusetzen.
Rz. 20
Wird vom Bedürftigen jedoch für die unterhaltsberechtigte Person eine Geldrente gezahlt, so ist sie gemäß § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO anstelle des Freibetrags vom Einkommen des Bedürftigen abzusetzen, soweit dies angemessen ist. Die Vorschrift des § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO verdrängt somit für den Fall der Zahlung von Barunterhalt die Regelung des § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO. Etwas Anderes folgt nicht aus der in § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO enthaltenen Einschränkung „soweit dies angemessen ist“. Mit dieser wollte der Gesetzgeber lediglich eine Kürzung gezahlter Geldrenten, die den Unterhaltsfreibetrag überschreiten, ermöglichen (vgl. BT-Drucks. 10/6400 S. 47), nicht jedoch eine Berücksichtigung des Unterhaltsfreibetrags neben dem gezahlten Barunterhalt.
Rz. 21
Mithin könnte ausgehend vom Wortlaut des § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO („anstelle“) vorliegend nur der vom Antragsteller gezahlte Kindesunterhalt von 50 € von seinem Einkommen abgesetzt werden.
Rz. 22
bb) Bei dieser Betrachtung kann es jedoch für den Fall der Betreuung eines Kindes im paritätischen Wechselmodell nicht bewenden. Eine teleologische Auslegung des § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO ergibt vielmehr, dass diese Ausschlusswirkung im Fall des paritätischen Wechselmodells nicht greift.
Rz. 23
(1) Die Vorschrift des § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO geht auf § 115 Abs. 3 ZPO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung von Kostengesetzen vom 9. Dezember 1986 (BGBl. I S. 2326) zurück, nachdem der Gesetzgeber die Normierung einer entsprechenden Vorschrift bereits im Rahmen des Gesetzes über die Prozesskostenhilfe vom 13. Juni 1980 (BGBl. I S. 677) erwogen, im Ergebnis aber noch abgelehnt hatte (vgl. BT-Drucks. 8/3068 S. 5, 25; BT-Drucks. 8/3694 S. 19). Bei der Schaffung des § 115 Abs. 3 ZPO aF hatte der Gesetzgeber das Leitbild vor Augen, dass ein unterhaltsberechtigtes Kind entweder im Haushalt eines Bedürftigen lebt und von diesem Unterhalt in Form von „Naturalien“ erhält oder nicht in dessen Haushalt lebt und von diesem gegebenenfalls Barunterhalt bezieht. Der erstgenannte Fall sollte über einen pauschalen Freibetrag für das Kind als Abzugsposition vom Einkommen eines Bedürftigen Berücksichtigung finden, der letztgenannte über eine Abzugsfähigkeit des tatsächlich gezahlten Unterhalts (vgl. BT-Drucks. 8/3068 S. 25 iVm BT-Drucks. 10/6400 S. 47).
Rz. 24
(2) Nicht in den Blick genommen wurde vom Gesetzgeber dabei jedoch die Mischform dieser beiden Alternativen, nämlich eine hälftige Betreuung eines Kindes im Haushalt beider Elternteile, in deren Folge es - wie hier - auch zu einer Kombination von Naturalunterhalt und gezahlter Geldrente kommen kann.
Rz. 25
Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber diesen Fall im Rahmen nachfolgender Gesetzesänderungen zum Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilferecht bedacht und es auch vor diesem Hintergrund unverändert bei der Regelung des § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO belassen hat, sind aus den Gesetzesmaterialien - einschließlich derjenigen zur aktuellen Änderung der Vorschrift des § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 ZPO durch Artikel 10 des Gesetzes zur Änderung des Justizkosten- und des Rechtsanwaltsvergütungsrechts und zur Änderung des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 21. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3229) - nicht ersichtlich.
Rz. 26
(3) Für den Fall des paritätischen Wechselmodells ist § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO entsprechend dem Zweck der Vorschrift dahingehend auszulegen, dass diese Ausschlusswirkung nicht greift.
Rz. 27
Die in § 115 Abs. 1 ZPO vorgesehenen Abzugspositionen vom Einkommen eines Bedürftigen, mithin auch die Kinderfreibeträge, dienen nach dem Willen des Gesetzgebers dazu, zu vermeiden, dass das Existenzminimum eines Bedürftigen mit Raten auf die Prozesskosten belastet wird (vgl. BT-Drucks. 12/6963 S. 1, 10). Deshalb sollten nach den Vorstellungen des Gesetzgebers auch die gesetzlichen Unterhaltspflichten eines Bedürftigen, die er in Form von Bar- oder Naturalunterhalt bedient, sachgerecht im Rahmen der Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilfe Berücksichtigung finden (vgl. BT-Drucks. 10/6400 S. 42, 47).
Rz. 28
Vor diesem Hintergrund hat es der Gesetzgeber für den von § 115 Abs.1 Satz 9 ZPO geregelten Fall, dass ein Bedürftiger Barunterhalt für einen Unterhaltsberechtigten leistet, deshalb als sachgerecht angesehen, nur diesen von seinem Einkommen abzusetzen. Denn ein Bedürftiger, der für einen nicht in seinem Haushalt lebenden Unterhaltsberechtigten Barunterhalt leistet, sollte nicht in den Genuss des häufig gegenüber dem Barunterhalt höheren Unterhaltsfreibetrags kommen (vgl. BT-Drucks. 8/3068 S. 25; BT-Drucks. 10/6400 S. 47). § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO liegt somit die gesetzgeberische Annahme zugrunde, dass ein Bedürftiger im Fall der Zahlung von Barunterhalt - mangels Aufnahme des Unterhaltsberechtigten in seinen Haushalt - keinen Naturalunterhalt (vgl. § 1612 Abs. 1 Satz 2 BGB) leistet. Ausgehend davon hat die Vorschrift den Sinn und Zweck, die Abzüge vom Einkommen eines Bedürftigen im Fall der Zahlung von Barunterhalt deshalb auf diese Leistungen zu beschränken, weil vom Bedürftigen in diesem Fall keine darüber hinausgehenden Unterhaltsleistungen erbracht werden.
Rz. 29
(4) Dieser Sinn und Zweck des § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO kommt jedoch im Fall des - vom Gesetzgeber insoweit nicht bedachten - Wechselmodells nicht zum Tragen. Denn in diesem Fall werden gerade trotz der Zahlung einer nur als Differenz der beiderseitigen Anteile der Eltern am Kindesunterhalt errechneten Geldrente (Senatsbeschluss BGHZ 213, 254 = FamRZ 2017, 437 Rn. 44) weitere (erhebliche) Unterhaltsleistungen durch den Bedürftigen in Form von Naturalunterhalt erbracht, weil das Kind zur Hälfte auch in seinem Haushalt lebt. Die gesetzgeberische Intention, weshalb im Fall der Zahlung von Barunterhalt nur dieser als berücksichtigungsfähig erachtet worden ist, greift beim Wechselmodell somit nicht ein. Infolgedessen würde das Gesetz mit Blick auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers auch zu einer unbilligen Härte führen. Denn am Maßstab des einem Bedürftigen zu belassenden Existenzminimums stellt es keine sachgerechte Berücksichtigung seiner Pflicht zu Zahlung von Kindesunterhalt dar, wenn allein seine im Rahmen des Wechselmodells geleisteten Barunterhaltszahlungen von seinem Einkommen abgesetzt würden, nicht hingegen seine Kosten für den von ihm darüber hinaus erbrachten Naturalunterhalt (im Ergebnis ebenso OLG Frankfurt FamRZ 2020, 1746 Rn. 12; BeckOK ZPO/Reichling [Stand: 1. September 2021] § 115 Rn. 36; Zimmermann Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe 6. Aufl. Rn. 100). Die Barunterhaltszahlungen richten sich im Wechselmodell nämlich lediglich auf die Unterhaltsspitze, die unter Berücksichtigung des geleisteten Naturalunterhalts noch verbleibt (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 213, 254 = FamRZ 2017, 437 Rn. 21, 44).
Rz. 30
b) Für den Fall des paritätischen Wechselmodells hält es der Senat zudem für geboten, die Rechtsfolgen des § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass der Kinderfreibetrag bei der gebotenen pauschalierenden Betrachtungsweise auf die Hälfte zu begrenzen ist.
Rz. 31
aa) Grundsätzlich ist allerdings auch in diesem Fall der Wert des im Wechselmodell geleisteten Naturalunterhalts im Wege einer pauschalierenden Betrachtungsweise festzulegen. Mithin ist der geleistete Naturalunterhalt nicht auf der Grundlage tatsächlicher Kosten zu ermitteln oder zu schätzen (vgl. dazu MünchKommZPO/Wache 6. Aufl. § 115 Rn. 46 f.; Zimmermann Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe 6. Aufl. Rn. 100; Zöller/Schultzky ZPO 34. Aufl. § 115 Rn. 37; Saenger/Kießling ZPO 9. Aufl. § 115 Rn. 32). Davon ist auch das Beschwerdegericht im Ergebnis zutreffend ausgegangen.
Rz. 32
bb) Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts ist es im Fall der nur hälftigen Betreuung eines Kindes im Wechselmodell jedoch nicht gerechtfertigt, den in § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO vorgesehenen vollen Kinderfreibetrag vom Einkommen eines Bedürftigen abzusetzen.
Rz. 33
(1) Der Kinderfreibetrag nach § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. b ZPO knüpft inhaltlich an die in der Anlage zu § 28 SGB XII enthaltenen Regelsätze an. Er orientiert sich daher nach § 27 a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB XII an dem gesamten notwendigen Lebensunterhalt eines Kindes iSv § 27 a Abs. 1 SGB XII (vgl. jurisPK-SGB XII/Gutzler [Stand: 19. Februar 2021] § 27 a Rn. 28, 32), mithin denjenigen Kosten, die existenzsichernd für dessen vollständige Versorgung erforderlich sind. Dann aber gebietet eine Auslegung, die sich eng an das geltende Recht anlehnt, einem Bedürftigen, der im Wechselmodell keine vollständige, sondern lediglich eine hälftige Versorgung seines Kindes übernimmt, auch nur den hälftigen Kinderfreibetrag zuzubilligen. Denn der bedürftige Elternteil ist während des Zeitraums, in dem das Kind beim anderen Elternteil versorgt wird, von Aufwendungen für das Kind entlastet, weil dessen Kosten der Lebensführung beim Wechselmodell vom jeweils betreuenden Elternteil in seiner Betreuungszeit allein getragen werden (vgl. OLG Frankfurt FamRZ 2020, 1746 Rn. 13).
Rz. 34
(2) Eine volle Berücksichtigung des Kinderfreibetrags je Elternteil - also im Ergebnis dessen Verdopplung - wäre nur dann gerechtfertigt, wenn sich durch das Wechselmodell auch die Kosten des notwendigen Lebensunterhalts eines Kindes iSv § 27 a Abs. 1 SGB II (nahezu) verdoppeln würden. Dies ist aber nicht der Fall.
Rz. 35
Der notwendige Lebensunterhalt eines Kindes beinhaltet gemäß § 27 a Abs. 1 SGB XII insbesondere die Kosten für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie, persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens, Unterkunft und Heizung sowie die erforderlichen Hilfen für den Schulbesuch. Durch das Wechselmodell entstehen zwar in Teilbereichen dieses Lebensunterhalts Mehrkosten. Dies gilt vor allem für die Wohnkosten (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 213, 254 = FamRZ 2017, 437 Rn. 35), weil diese im Wechselmodell, bei dem das Kind zwei Haushalte hat, für das Kind doppelt entstehen. Zu einer Verdopplung der Kosten insgesamt kommt es im Wechselmodell aber nicht.
Rz. 36
Im Hinblick auf verbleibende Mehrkosten des Wechselmodells besteht kein Bedürfnis, diesen dadurch Rechnung zu tragen, dass der Kinderfreibetrag für jeden Elternteil voll angesetzt wird. Denn die Wohnmehrkosten (Unterkunft und Heizung) sind bereits nach § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 ZPO vom Einkommen eines Bedürftigen absetzbar (vgl. Staudinger/Dürbeck BGB [2019] § 1684 Rn. 270). Sonstige Mehrkosten, die durch das Wechselmodell entstehen, können auf konkrete Darlegung und gegebenenfalls Glaubhaftmachung (vgl. § 118 Abs. 2 Satz 1 ZPO) gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 ZPO iVm § 21 Abs. 6 SGB II als Mehrbedarf (vgl. Staudinger/Dürbeck BGB [2019] § 1684 Rn. 270; Christl JurBüro 2021, 340, 344) oder gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 ZPO als besondere Belastungen geltend gemacht werden (vgl. BT-Drucks. 12/6963 S. 9; MünchKomm ZPO/Wache 6. Aufl. § 115 Rn. 45; Götsche jurisPR-FamR 25/2020 Anm. 5).
Rz. 37
(3) Für eine nur hälftige Berücksichtigung des Kinderfreibetrags sprechen auch sozialrechtliche Wertungen.
Rz. 38
Im Sozialrecht wird der Regelbedarf eines Kindes im Fall seiner zeitweisen Betreuung in unterschiedlichen Haushalten ebenfalls grundsätzlich nur einmal (und nicht doppelt) erfasst. Einigen sich die Eltern nämlich darauf, ein Kind abwechselnd im Haushalt des einen und des anderen zu versorgen, rechtfertigt dies sozialrechtlich die Annahme einer zweitweisen (temporären) Bedarfsgemeinschaft (vgl. BSG FamRZ 2007, 465, 467; Staudinger/Dürbeck BGB [2019] § 1684 Rn. 268). Für die Tage, an denen sich das Kind infolgedessen weniger als zwölf Stunden beim anderen Elternteil aufhält, besteht dort sodann kein Regelbedarf und der Sache nach auch kein Anspruch des Kindes auf sozialhilferechtliche Regelleistungen (vgl. BSG FamRZ 2014, 124 Rn. 20 f.; vgl. auch Treichel NZFam 2016, 1128, 1130).
Rz. 39
Auch der sozialrechtliche Mehrbedarf für Alleinerziehende gemäß § 21 Abs. 3 SGB II steht den Eltern im Fall des Wechselmodells nur hälftig zu (BSG FamRZ 2020, 382 Rn. 16 f.; BSG FamRZ 2009, 1214 Rn. 21). Verfahrenskostenhilfe ist letztlich ebenfalls eine Form der Sozialhilfe im Bereich der Rechtspflege (Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2020 - XII ZB 191/19 - FamRZ 2021, 443 Rn. 10 mwN).
Rz. 40
(4) Soweit das Beschwerdegericht meint, in der nur hälftigen Berücksichtigung des Kinderfreibetrags liege eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung iSv Art. 3 Abs. 1 GG von Eltern, die ein Wechselmodell ausüben, gegenüber solchen, die ihr Kind im gemeinsamen Haushalt betreuen, kann dem nicht gefolgt werden.
Rz. 41
Zwar sollen, wie vom Beschwerdegericht zutreffend ausgeführt, die Eltern im Fall des Zusammenlebens nach mittlerweile überwiegender Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur jeweils den vollen Kinderfreibetrag von ihrem Einkommen absetzen können (vgl. LAG Sachsen NZA-RR 2019, 99 Rn. 7 ff.; OVG Hamburg Beschluss vom 8. Februar 2016 - 3 Nc 207/15 - juris Rn. 8; LAG Hamm Beschluss vom 6. März 2012 - 14 Ta 629/11 - juris Rn. 9; OLG Hamm MDR 2007, 973; LAG Rheinland-Pfalz Beschluss vom 2. Oktober 2006 - 11 Ta 163/06 - juris Rn. 13; OLG Karlsruhe JurBüro 1990, 99; MünchKommZPO/Wache 6. Aufl. § 115 Rn. 42; BeckOK ZPO/Reichling [Stand: 1. September 2021] § 115 Rn. 34; Zöller/Schultzky ZPO 34. Aufl. § 115 Rn. 36; Gottschalk in Gottschalk/Schneider Prozess- und Verfahrenskostenhilfe 10. Aufl. Rn. 308; aA OLG Celle NdsRpfl 1986, 103 f.; OVG Münster RPfleger 1986, 406; LAG Bremen NJW 1982, 2462; Götsche jurisPR-FamR 25/2020 Anm. 5; Zimmermann Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe 6. Aufl. Rn. 97; Musielak/Voit/Fischer ZPO 18. Aufl. § 115 Rn. 18; Künzl BB 1996, 637, 638). Das Beschwerdegericht hat aber nicht berücksichtigt, dass sich der Fall der Betreuung eines Kindes im gemeinschaftlichen elterlichen Haushalt in einem wesentlichen Punkt von demjenigen der Betreuung eines Kindes im Wechselmodell unterscheidet, mit diesem also nicht vergleichbar ist.
Rz. 42
Der von einem Bedürftigen im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe gehaltene Vortrag, hinsichtlich seines Kindes werde ein paritätisches Wechselmodell praktiziert, beinhaltet in tatsächlicher Hinsicht seine Erklärung, er erbringe für das Kind Betreuungs- bzw. Versorgungsleistungen lediglich im Umfang von 50 %. Denn die genau hälftige elterliche Betreuung eines Kindes ist gerade der Wesenskern dieses Betreuungsmodells. Damit aber kann im Wechselmodell auch der Kinderfreibetrag inhaltlich von vornherein nur in diesem Umfang eingreifen. Denn der Ansatz eines Kinderfreibetrags setzt neben dem Bestehen einer gesetzlichen Unterhaltspflicht voraus, dass vom Bedürftigen die Betreuung bzw. der Naturalunterhalt auch tatsächlich erbracht wird (vgl. OLG Karlsruhe FamRZ 2004, 1119; Zöller/Schultzky ZPO 34. Aufl. § 115 Rn. 36; MünchKommZPO/Wache 6. Aufl. § 115 Rn. 42).
Rz. 43
Dies unterscheidet das Wechselmodell von der Betreuung eines Kindes im gemeinschaftlichen elterlichen Haushalt. Denn in diesem Fall gibt es keine von vornherein feststehende Obergrenze der von den jeweiligen Elternteilen tatsächlich zu erbringenden Anteile an der Betreuung bzw. Versorgung ihres Kindes. Die einzelnen Anteile der Eltern hieran lassen sich in diesem Fall auch nicht exakt bestimmen. Mithin ist es in diesem Fall ohne Weiteres möglich, dass ein Elternteil einen über die Hälfte bis hin zur vollständigen Betreuung und Versorgung hinausgehenden Anteil dieser Leistungen gegenüber seinem Kind allein erbringt. Deshalb scheidet hier - im Gegensatz zum Wechselmodell - die Berücksichtigung eines vollen Kinderfreibetrags auch nicht aus tatsächlichen Gründen von vornherein aus. Vielmehr kommt - infolge der Typisierung der gesetzlichen Regelung - in diesem Fall der volle Ansatz eines Kinderfreibetrags für jeden Elternteil in Betracht.
Rz. 44
(5) Im Übrigen würde gerade die Berücksichtigung eines vollen Kinderfreibetrags beim Wechselmodell zu einer Besserstellung dieser Eltern gegenüber denjenigen führen, die ihr Kind im Residenzmodell betreuen (vgl. Götsche jurisPR-FamR 25/2020 Anm. 5). Denn während den Eltern im Wechselmodell jeweils der volle Kinderfreibetrag schon für die hälftige Versorgung ihres Kindes gewährt würde, stünde demjenigen Elternteil, der sein Kind im Residenzmodell betreut, der gesamte Kinderfreibetrag für die volle Versorgung seines Kindes zur Verfügung, auf den zudem im Ergebnis der vom anderen Elternteil tatsächlich geleistete und bei dessen Einkünften absetzbare Barunterhalt angerechnet wird. Diese Besserstellung ließe sich auch nicht mit Mehrkosten des Wechselmodells rechtfertigen. Denn es kommt - wie ausgeführt - im Wechselmodell nicht zu einer Verdopplung der Kosten gegenüber denjenigen im Fall der Betreuung eines Kindes in nur einem Haushalt.
Rz. 45
(6) Schließlich führt auch der vom Beschwerdegericht angeführte Aspekt, im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe sei nicht ohne Weiteres feststellbar, ob in tatsächlicher Hinsicht von einem Wechselmodell auszugehen sei, zu keiner anderen Beurteilung. Denn der Umstand, dass die Berücksichtigung eines Kinderfreibetrags von tatsächlichen Vorfragen dieser Art abhängt, ist kein solcher, der durch die vom Senat befürwortete Auffassung geschaffen würde. Es ist dem Recht der Verfahrenskostenhilfe vielmehr immanent, dass bestimmte Vorfragen von einer ausreichenden Glaubhaftmachung abhängen.
III.
Rz. 46
Die angefochtene Entscheidung kann danach keinen Bestand haben (§§ 76 Abs. 2 FamFG, 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
Rz. 47
Der Senat kann auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen in der Sache selbst abschließend entscheiden (§§ 76 Abs. 2 FamFG, 577 Abs. 5 ZPO). Das Beschwerdegericht hat alle Positionen der Einkommensermittlung abschließend geklärt. Für die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ist der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung maßgeblich (vgl. Senatsbeschluss vom 5. Mai 2010 - XII ZB 65/10 - FamRZ 2010, 1324 Rn. 28).
Rz. 48
Ausgehend hiervon ist die amtsgerichtliche Entscheidung in der Fassung des Teilabhilfebeschlusses vom 26. Januar 2021 wiederherzustellen. Denn sofern vom Einkommen des Antragstellers lediglich ein hälftiger Kinderfreibetrag abgesetzt wird, der sich für das zum Zeitpunkt der Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe (§ 115 Abs. 1 Satz 4 ZPO) neun Jahre alte Kind gemäß der Bekanntmachung zu § 115 der Zivilprozessordnung vom 28. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3344) auf 170 € belaufen hat, beträgt sein verbleibendes einzusetzendes Einkommen 95 €. Dies hat nach § 115 Abs. 2 Satz 1 ZPO eine monatliche Ratenzahlung von 47 € zur Folge, wie sie zuletzt vom Amtsgericht angeordnet worden ist.
Dose |
|
Schilling |
|
Günter |
|
Nedden-Boeger |
|
Guhling |
|
Fundstellen
Haufe-Index 15100723 |
NJW 2022, 1453 |
FuR 2022, 273 |
JZ 2022, 198 |
JZ 2022, 202 |
MDR 2022, 385 |
Rpfleger 2022, 469 |
FF 2022, 318 |
FamRB 2022, 190 |
FamRB 2022, 7 |
ZKJ 2022, 186 |
NZFam 2022, 354 |