Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 29.12.2020; Aktenzeichen 111 Js 167342/19 12 KLs) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 29. Dezember 2020 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten aufrechterhalten.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und wegen Beleidigung in drei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten unter Teilfreispruch im Übrigen verurteilt. Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hat es abgelehnt. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war gegen den Angeklagten bereits zweimal die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden. Infolge einer verfestigten paranoiden Schizophrenie war zu den damaligen Tatzeiten im August 1997 bzw. November 2004 die Fähigkeit des Angeklagten aufgehoben, das Unrecht der von ihm versuchten Brandstiftungen einzusehen.
Rz. 3
a) In den hier verfahrensgegenständlichen Fällen sprühte der Angeklagte bei erhaltener Einsichtsfähigkeit, aber im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit ohne Anlass am 31. März 2020 einer Mitarbeiterin der M. er Straßenreinigung Pfefferspray in die Augen, so dass die Geschädigte unter anderem nur noch schwer atmen konnte und gerötete Augen hatte. Einer auf den Vorfall aufmerksam gewordenen Polizistin versuchte der Angeklagte ebenfalls Pfefferspray ins Gesicht zu sprühen; die Beamtin konnte indes ausweichen. Den flüchtenden Angeklagten hielt ein Passant von hinten fest; diesem sprühte der Angeklagte ebenfalls Pfefferspray ins Gesicht, wodurch dessen Augen stark schmerzten. Zudem erlitt der Passant Schmerzen an der Hüfte und am Rücken durch einen Sturz im Gerangel. In anderen Fällen beleidigte der Angeklagte Mitglieder des Kreisverwaltungsreferats der Stadt M. bzw. einen Polizeibeamten.
Rz. 4
b) Nach der Würdigung des Landgerichts, das sich den Ausführungen des bestellten Sachverständigen angeschlossen hat, habe der Angeklagte bei Begehung der Taten zwar nicht unter einem Schub seiner paranoiden Schizophrenie gestanden. Indes habe sich seine Persönlichkeit durch die langjährige psychische Grunderkrankung verändert: Sein Aggressionspotential und seine „Querulanz” hätten sich verfestigt; daher seien seine Affekt- und Impulskontrolle zu den Tatzeitpunkten erheblich eingeschränkt gewesen.
Rz. 5
c) Von der Anordnung der Maßregel des § 63 StGB hat das Landgericht abgesehen: Mit dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen seien künftig keine weiteren Körperverletzungen, sondern nur Beleidigungen zu erwarten, die nicht als ausreichend erheblich einzustufen seien.
Rz. 6
2. Das Urteil hält sachlichrechtlicher Nachprüfung überwiegend nicht stand.
Rz. 7
a) Die Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass es den Unterschied zwischen vollständig aufgehobener (§ 20 StGB) und erheblich verminderter (§ 21 StGB) Steuerungsfähigkeit nicht bedacht hat. Insbesondere in der Strafzumessung wird nämlich mehrfach formuliert, der Angeklagte sei nicht in der Lage gewesen, „sein Verhalten gemäß dieser Einsicht zu steuern”; „ein Widerstehen der Tatanreize” sei „für ihn nicht möglich” gewesen (UA S. 33, 35, 38, 41, 45). Dann wäre aber die Steuerungsfähigkeit vollständig aufgehoben (§ 20 StGB) und der Angeklagte von den Anklagevorwürfen freizusprechen gewesen.
Rz. 8
b) Die Strafzumessung in den vom Landgericht als gewichtigsten gewerteten Fällen, der gefährlichen Körperverletzung zu Lasten der Mitarbeiterin der städtischen Reinigung und zu Lasten des Passanten, unterliegt ebenfalls durchgreifenden Bedenken.
Rz. 9
aa) Im erstgenannten Fall hat das Landgericht bei den straferschwerenden Umständen angeführt, der Angeklagte habe sich bei der Geschädigten nicht entschuldigt (UA S. 37); damit hat es das Nichtvorliegen eines möglichen Strafmilderungsgrundes rechtsfehlerhaft strafschärfend berücksichtigt.
Rz. 10
bb) Bei der zu Lasten des Passanten begangenen gefährlichen Körperverletzung hat das Landgericht straferschwerend gewertet, der Geschädigte habe sich „in einer durch das Gesetz privilegierten Position” befunden (UA S. 44), als dieser von dem Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO Gebrauch machte. Dies war indes bereits erforderlich, um ein eigenes Notwehrrecht des Angeklagten (§ 32 Abs. 1, 2 StGB) auszuschließen. Damit hat das Landgericht in durchgreifend bedenklicher Weise einen Umstand straferschwerend in seine Strafzumessung eingestellt, der nötig war, um eine rechtswidrige Tat festzustellen (vgl. § 46 Abs. 3 StGB).
Rz. 11
c) Die aufgezeigten Rechtsfehler betreffen nicht die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen, die daher aufrechterhalten bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).
Rz. 12
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass einer Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht entgegensteht, dass nur er Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; BGH, Beschlüsse vom 8. Juli 2020 – 3 StR 154/20 Rn. 15 und vom 6. Februar 2019 – 3 StR 479/18 Rn. 20).
Unterschriften
Raum, Jäger, Hohoff, Leplow, Pernice
Fundstellen
Haufe-Index 14661056 |
StV 2022, 284 |