Tenor
Dem Großen Senat für Strafsachen wird gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Steht es der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 3 StGB entgegen, dass der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist?
Tatbestand
I.
Rz. 1
1. Beim 4. Strafsenat sind zwei – zur Durchführung des Verfahrens nach § 132 GVG verbundene – Revisionsverfahren anhängig, in denen gegen die revisionsführenden Angeklagten gemäß § 66 b Abs. 3 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. In beiden Fällen hatten die Angeklagten zum Zeitpunkt der Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischem Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch (Rest-) Freiheitsstrafen zu verbüßen, auf die zugleich mit der Unterbringung nach § 63 StGB erkannt worden war, und zwar der Angeklagte W. (Verfahren 4 StR 314/07) eine Freiheitsstrafe von drei Monaten und 26 Tagen, der Angeklagte H. (Verfahren 4 StR 391/07) eine solche von einem Jahr und sechs Monaten.
Rz. 2
2. Der Senat beabsichtigt, beide Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen. Hieran sieht er sich jedoch durch das Urteil des 1. Strafsenats vom 28. August 2007 – 1 StR 268/07 (NJW 2008, 240) gehindert. In dieser Entscheidung hat der 1. Strafsenat unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien die Ansicht vertreten, dass die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 3 StGB „regelmäßig” nicht in Betracht kommt, wenn der Angeklagte zum Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nach § 67 d Abs. 6 StGB noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war. Er hat allerdings offen gelassen, ob dies auch gilt, wenn nach der Erledigungsentscheidung nur noch für „sehr kurze Zeit” Freiheitsstrafe zu vollstrecken wäre.
Rz. 3
3. Der Senat vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen, auch wenn er grundsätzlich das Bestreben teilt, die Vorschriften über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung wegen des schwerwiegenden Eingriffs in Freiheitsrechte der Betroffenen restriktiv auszulegen. Er ist der Ansicht, dass die vom 1. Strafsenat vorgenommene Auslegung nicht nur im Gesetzeswortlaut keine Stütze findet, sondern dass auch die für sie angeführten Gesetzesmaterialien unklar sind. Nach Auffassung des Senats führt zudem die vom 1. Strafsenat vorgenommene Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 66 b Abs. 3 StGB insbesondere mit Blick auf diejenigen Täter, die ohne Schuld (§ 20 StGB) gehandelt haben und gegen die daher keine Freiheitsstrafe verhängt worden ist, zu Wertungswidersprüchen. Schließlich könnte die Frage, ob § 66 b Abs. 3 StGB oder aber die enger gefassten Absätze 1 und 2 des § 66 b StGB anwendbar sind, von bloßen Zufälligkeiten des Vollstreckungsverfahrens abhängen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten, auch bezüglich des Gegenstandes und Ablaufes der beiden betroffenen Revisionsverfahren, wird auf die Darstellung im Anfragebeschluss des Senats vom 5. Februar 2008 (NStZ 2008, 333 m. Anm. Ullenbruch) Bezug genommen.
Rz. 4
4. Mit dem vorgenannten Beschluss hat der Senat bei dem 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs angefragt, ob er an seiner entgegenstehenden Entscheidung vom 28. August 2007 festhält, bei den übrigen Strafsenaten, ob der beabsichtigten Entscheidung dortige Rechtsprechung entgegensteht und ob gegebenenfalls an dieser festgehalten wird.
Rz. 5
Der 1. Strafsenat hat mit Beschluss vom 2. April 2008 ausgesprochen, dass er an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält. Die übrigen Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben mitgeteilt, dass dortige Rechtsprechung der beabsichtigten Entscheidung nicht entgegensteht.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 6
Der Senat legt die streitige Rechtsfrage dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vor (§ 132 Abs. 2 GVG); nach seiner Auffassung ist sie auch von grundsätzlicher Bedeutung, so dass die Vorlage sowohl aus Gründen der Divergenz zur Rechtsprechung des 1. Strafsenats als auch nach § 132 Abs. 4 GVG erfolgt.
Rz. 7
Zur Begründung der Vorlage nimmt der Senat auf die Ausführungen im Anfragebeschluss vom 5. Februar 2008 Bezug. Lediglich zu den im Antwortbeschluss des 1. Strafsenats vom 2. April 2008 angesprochenen zusätzlichen Gesichtspunkten wird ergänzend folgendes angemerkt:
Rz. 8
1. Aus dem Wortlaut des § 66 b Abs. 3 Nr. 2 StGB, wonach im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose „ergänzend … (die) Entwicklung (des Verurteilten) während des Vollzugs der Maßregel” heranzuziehen ist (vgl. Rdn. 5 und 6 des Antwortbeschlusses), lässt sich für die Auffassung des 1. Strafsenats nichts herleiten. Die genannte Bestimmung verlangt für die Gefährlichkeitsprognose eine „Gesamtwürdigung des Betroffenen” (Hervorhebung durch den Senat) zum Zeitpunkt der Entscheidung. Hierzu zählt naturgemäß auch die Entwicklung in einem vorausgegangenen Strafvollzug. Niemand wird etwa in Frage stellen, dass bei einem (vollständigen) Vorwegvollzug von Freiheitsstrafe nach § 67 Abs. 2 StGB die während des Vollzugs der Freiheitsstrafe erfolgte Entwicklung des Verurteilten in die Prognose nach § 66 b Abs. 3 Nr. 2 StGB mit einzustellen ist. Dass dieser Gesichtspunkt nicht ausdrücklich in den Gesetzeswortlaut aufgenommen worden ist (etwa: „während des Vollzugs der Maßregel sowie während eines etwaigen Strafvollzugs”), lässt keine Rückschlüsse auf einen bestimmten gesetzgeberischen Willen zu. Dies zeigt gerade der Blick auf die entsprechenden Regelungen in § 66 b Abs. 1 und 2 StGB, in denen – nunmehr umgekehrt – ausschließlich die Entwicklung des Verurteilten während des Strafvollzuges angesprochen wird. Auch hieraus ist bisher nicht der Schluss auf eine Einengung der Beurteilungsgrundlage oder gar des Anwendungsbereichs dieser Bestimmungen gezogen worden.
Rz. 9
2. Die vom 1. Strafsenat herangezogene Passage in der Stellungnahme des Bundesrats vom 2. April 2004 (BRDrucks. 202/04 [Beschluss] S. 4) zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung (vgl. Rdn. 17 des Antwortbeschlusses) führt nach Auffassung des Senats ebenfalls nicht weiter. Der Bundesrat hat dort lediglich – ohne dies näher zu spezifizieren – darauf hingewiesen, dass vieles von den „Zufälligkeiten des Vollstreckungsverlaufs” abhinge und im Übrigen eine Reihe von Fragen bezeichnet, die seiner Auffassung nach noch eingehender Erörterung bedürften. Die Antwort der Bundesregierung hierauf hat sich in dem Hinweis erschöpft, „dass sich alle in der Begründung für die Stellungnahme [des Bundesrats] aufgeworfenen Fragen auf der Basis der vorgeschlagenen Vorschrift nebst ihrer Begründung schlüssig beantworten lassen” (BTDrucks. 15/2945 S. 5). Dieser pauschalen Bemerkung kann wohl kaum entnommen werden, der Gesetzgeber habe es bewusst hingenommen, dass die Anwendbarkeit des § 66 b Abs. 3 StGB von den vom Senat in seinem Anfragebeschluss aufgezeigten Zufälligkeiten des Vollstreckungsverfahrens abhängig ist.
Rz. 10
3. Offen bleibt weiterhin, wie zu verfahren ist, wenn nach der Entscheidung über die Erledigung nur noch „für kurze Zeit”, d.h. unter Umständen nur noch für wenige Tage, Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Der Hinweis auf die „fragmentarische Natur des Strafrechts” erscheint wenig hilfreich, wenn die Lückenhaftigkeit die Folge einer Gesetzesauslegung ist, die im Wortlaut der Norm keinen Niederschlag gefunden hat. Auch der Ultima-ratio-Charakter der (nachträglichen) Sicherungsverwahrung führt hier nicht weiter. Er vermag nicht zu erklären, warum von zwei gleichermaßen gefährlichen Straftätern der eine, der seine Strafe vor der Maßregel voll verbüßt hat, nach § 66 b Abs. 3 StGB untergebracht werden kann, wohingegen der andere, gegen den einige Monate, gegebenenfalls aber auch nur noch wenige Tage Freiheitsstrafe zu vollstrecken sind, im Anschluss unmittelbar in Freiheit gelangt. Soweit der 1. Strafsenat Ausnahmen für denkbar hält, wenn nach der Erledigungsentscheidung nur noch für „sehr kurze Zeit” Freiheitsstrafe zu vollstrecken wäre, verweist der Senat darauf, dass die Grenzen richterlicher Rechtsschöpfung überschritten würden, wollte der Bundesgerichtshof diese Zeitspanne ohne jeden Anhalt im Gesetz willkürlich auf weniger als sechs Monate oder drei Monate oder einen Monat festlegen.
Unterschriften
Tepperwien, Maatz, Kuckein, Solin-Stojanović, Ernemann
Fundstellen