Verfahrensgang
LG Siegen (Urteil vom 20.12.2004) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Siegen vom 20. Dezember 2004 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts Siegen zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen in zwölf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts.
Das Rechtsmittel hat mit einer auf die Verletzung des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO gestützten Rüge Erfolg, so daß es eines Eingehens auf weitere Verfahrensrügen und die Sachrüge nicht bedarf.
Das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten, der die ihm zur Last gelegten Taten bestritten hat, auf die Aussage der Nebenklägerin, seiner zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 14jährigen Stieftochter, gestützt. Die Verteidigung beantragte am vorletzten Verhandlungstag die Vernehmung der Nebenklägerin, die an dem vorangegangenen Verhandlungstag vernommen worden war, zum Beweis der Tatsache, daß diese gegenüber ihrem Bruder Dirk geäußert habe, „es würde ihr leid tun, was sie mit ihrer Anzeige verursacht hat, daß sie ihre Mama, ihren Papa, die Hunde und Dirk vermissen würde und daß es zwar stimmen würde, daß ihr Papa sie geschlagen hätte und ihr Hausarrest gegeben hätte, daß das Weitere aber von den Nachbarn käme”. In der Begründung des Beweisantrages ist u.a. ausgeführt, aus dem etwa drei bis vier Wochen vor der Hauptverhandlung geführten Telefongespräch ergebe sich, daß die Nebenklägerin „die von ihr im Verfahren bis jetzt getätigte Aussage dahingehend revidiert hat, daß es zwar mit den Körperverletzungen und dem Hausarrest stimme, jedoch die weitergehenden Anschuldigungen nicht von ihr sondern von den Nachbarn stammen”. Das Landgericht hat diesen Beweisantrag mit der Begründung abgelehnt, daß die behaupteten Tatsachen zu Gunsten des Angeklagten so behandelt werden, als wären sie wahr.
Das Landgericht, das sich dem Gutachten der Sachverständigen zur Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin angeschlossen hat, hat im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, die Sachverständige habe sich mit der als wahr unterstellten Aussage der Nebenklägerin gegenüber ihrem Bruder auseinandergesetzt und die Hypothese einer Suggestion durch das Verhalten Dritter, etwa der Nachbarn, zurückgewiesen. Ein erklärbares Motiv für diese Aussage sei, daß die Nebenklägerin ihren Bruder schützen wolle, der sich nach der Interpretation seiner Mutter in einer seelisch instabilen Lage befinde und den Angeklagten sehr vermisse. Im Verhältnis zu ihrem Bruder habe sich der Angeklagte nach dem Empfinden der Nebenklägerin „nicht so ‚falsch’ verhalten, sodaß sie dem Bruder nicht sein Bild vom Vater nehmen wollte” (UA 20/21).
Die Revision beanstandet die Ablehnung des Beweisantrages zu Recht. Es kann dahinstehen, ob darin, daß das Landgericht nur die Tatsache, daß es ein Gespräch des behaupteten Inhalts zwischen der Nebenklägerin und deren Bruder gegeben hat, als erwiesen betrachtet hat, nicht aber auch den Inhalt der Äußerungen der Nebenklägerin, eine unzulässige Einschränkung oder Veränderung der Beweisbehauptung liegt (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 10, 19 m.w.N.). In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist anerkannt, daß eine Wahrunterstellung nicht in Betracht kommt, wenn die Sachaufklärung vorrangig ist (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 32 m.N.). Dies ist der Fall, wenn die Beweisbehauptung wegen ungeklärter Umstände für eine Sachbehandlung durch Wahrunterstellung ungeeignet ist (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 10, 32). So liegt es hier:
Nach den Feststellungen hatte die Nebenklägerin im Verlauf eines Gesprächs mit zwei Nachbarinnen deren Frage, ob sie mißbraucht würde, bejaht, worauf diese gegen den Angeklagten Strafanzeige erstatteten. Im Hinblick darauf ließen sich nach der vom Landgericht vorgenommenen Wahrunterstellung die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin erschüttende Widersprüche zwischen deren Angaben zu den Mißbrauchsfällen in der Hauptverhandlung und in dem mit dem Bruder Dirk geführten Telefongespräch nur dadurch ausschließen, daß das Landgericht der Sachverständigen folgend davon ausging, die Nebenklägerin habe, um ihren Bruder zu schützen, ihre den Angeklagten belastenden Angaben im Ermittlungsverfahren, obwohl diese der Wahrheit entsprachen, als von „den Nachbarn” stammend und damit als unzutreffend bezeichnet. Damit ist das Landgericht zugunsten der Nebenklägerin aber zu Lasten des Angeklagten von besonderen Umständen ausgegangen, auf deren Klärung sich die beantragte Beweiserhebung durch die Vernehmung der – wie die Revision geltend macht und die Urteilsgründe belegen – zu dem behaupteten Telefongespräch bei ihrer Zeugenvernehmung nicht gehörten Nebenklägerin hätte erstrecken können und müssen, zumal die Erwägungen der Sachverständigen zu dem als wahr unterstellten Telefongespräch in dem in den Urteilsgründen mitgeteilten Beweisergebnis keine Stütze finden. Können nicht feststehende Umstände, die von der Beweisbehauptung nicht umfaßt werden, über die Tragweite einer als wahr unterstellten Tatsache entscheiden, darf eine dem Angeklagten günstige Schlußfolgerung aber nicht allein mit der Begründung abgelehnt werden, mit Rücksicht auf solche Umstände sei eine andere Schlußfolgerung möglich. Vielmehr ist dann die Sachaufklärung vorrangig (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 10).
Unterschriften
Maatz, Kuckein, Athing, Solin-Stojanović, Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 2556902 |
NStZ 2007, 282 |