Leitsatz (amtlich)
›Zur Frage, ob der - weiteren - Strafverfolgung ein Verfahrenshindernis entgegensteht, wenn von einem ausländischen Staat die "unverzügliche Rückführung" eines Angeklagten gefordert wird, der durch einen V-Mann der deutschen Polizei unter Verletzung der Gebietshoheit dieses Staates zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verlockt worden war.‹
Verfahrensgang
Gründe
I. 1. Mit Urteil vom 20. März 1985 hatte das Landgericht den Angeklagten, einen bis zu seiner Festnahme in den Niederlanden lebenden türkischen Staatsangehörigen, wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Nach den Feststellungen fuhr der Zeuge K, "ein seit mehreren Jahren von verschiedenen Landeskriminalämtern in Rauschgiftermittlungen eingesetzter V-Mann" Anfang Juni 1984 im Anschluß an ein (von einem Bekannten vermitteltes) mit dem Angeklagten geführtes Telefongespräch nach Belgien, um dort mit ihm über die Lieferung von Heroin zu verhandeln. Der Angeklagte nannte dem Zeugen je nach Qualität Preise von 80.000 bis 90.000 Gulden pro Kilogramm bei Lieferung in den Niederlanden und 100.000 bis 110.000 DM pro Kilogramm bei Übergabe in Belgien. "Der Zeuge K wünschte eine Lieferung in die Bundesrepublik Deutschland, wo für eine gute Qualität 120.000 bis 130.000 DM erzielt werden könnten". Im Zuge weiterer Verhandlungen fuhr der Zeuge wenige Tage später ein weiteres Mal nach Belgien und vereinbarte mit dem Angeklagten und dessen Lieferanten den Kauf von 5 kg des Betäubungsmittels. Weiter fragte K den Lieferanten, ob er in der Lage sei, noch mehr Heroin zu beschaffen. Ein Freund sei bereit, ein weiteres Kilogramm abzunehmen. Die Verhandlungspartner verabredeten ein weiteres Zusammentreffen in Rotterdam. Dort erfuhr K, daß ein vertrauenswürdiger Transporteur, der frühere Mitangeklagte T., gefunden sei, der das Rauschgift in einem Kleinbus in die Bundesrepublik Deutschland bringen werde. In dem Fahrzeug seien über die 6 kg hinaus weitere 500 g Heroin versteckt. Die zusätzliche Menge könne K in der Bundesrepublik für 70.000 DM verkaufen; wenn dies nicht gelinge, solle der Angeklagte sie wieder nach Holland zurückbringen. Nach Abschluß dieser Vereinbarung fuhren der Angeklagte und der Zeuge K in dessen Pkw nach Deventer (NL), um sich mit dem Transporteur zu treffen. Von dort aus rief K den Zeugen H vom Hessischen Landeskriminalamt an, eröffnete ihm, daß das Rauschgift nach Deutschland unterwegs sei, und erhielt die Anweisung, den Transport zu einer Raststätte der Bundesautobahn A 45 zu führen. Auf der Weiterfahrt überquerten der Angeklagte und K in einem, T im anderen Fahrzeug die deutschniederländische Grenze. Der Zugriff der Polizei erfolgte nach Plan auf dem Gelände der Autobahnraststätte.
2. Auf die Revision des Angeklagten, der unter anderem ein Verfahrenshindernis "wegen Verletzung der allgemeinen Regel des Völkerrechts auf unbedingte Wahrung der territorialen Souveränität fremder Staaten durch das Hessische Landeskriminalamt infolge Tätigwerdens des V-Manns K in Holland ohne Zustimmung holländischer Behörden" geltend gemacht hatte, hob der Senat mit Beschluß vom 23. Oktober 1985 das Urteil vom 20. März 1985 im Strafausspruch auf und verwies die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück; die weitergehende Revision wurde verworfen. In den Gründen dieser Entscheidung führte der Senat unter anderem aus: "Ein Verfahrenshindernis besteht nicht. Der niederländische Staat hat bisher einen Wiedergutmachungsanspruch, der seiner Natur nach der Ausübung deutscher Gerichtsbarkeit entgegenstünde, nicht erhoben. Die Möglichkeit, daß ein solcher Anspruch noch geltend gemacht wird, hindert den Fortgang des Verfahrens nicht. Die Erfüllung dieses Anspruchs wird dadurch nicht in Frage gestellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17. Juli 1985 - 2 BvR 1190/84; BGH NStZ 1984, 563; 1985, 464; BGH StV 1985, 273; OLG Düsseldorf NJW 1984, 2050)."
3. Eine Verfassungsbeschwerde gegen diesen Senatsbeschluß wurde von der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluß vom 3. Juni 1986 - 2 BvR 1451/85). In den Gründen führte das Bundesverfassungsgericht unter anderem aus: "Das Völkerrecht steht einer Strafverfolgung des Beschwerdeführers wegen der ihm im Ausgangsverfahren zur Last gelegten Tat nicht entgegen. Die vorliegende Fallgestaltung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Beschwerdeführer von einem V-Mann der deutschen Polizei auf ausländischem Staatsgebiet zur Tatbegehung provoziert und zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verlockt wurde, ist aus völkerrechtlicher Sicht nicht anders zu beurteilen als der Sachverhalt, der Gegenstand des Beschlusses eines Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 1985 - 2 BvR 1190/84 - (EuGRZ 1986, S. 18 ff.) war. Entscheidend ist nur die Verletzung ausländischer Hoheitsrechte als solche durch hoheitliches Handeln, nicht aber Form und Inhalt dieses Handelns im einzelnen. Der niederländische Staat hat nach den Feststellungen des Bundesgerichtshofs bisher einen Wiedergutmachungsanspruch, der seiner Natur nach der Ausübung deutscher Gerichtsbarkeit entgegenstünde, nicht erhoben "
4. Das Königreich der Niederlande forderte in einer Verbalnote der Königlich Niederländischen Botschaft vom 6. Januar 1986 wegen Verletzung der niederländischen Souveränität durch ein Organ der Bundesrepublik Deutschland die "unverzügliche Rückführung" des Angeklagten.
5. In der neuen Hauptverhandlung verhängte das Landgericht gegen den Angeklagten abermals eine Freiheitsstrafe von elf Jahren. Die Strafkammer ist der Ansicht der Einsatz eines V-Mannes der deutschen Polizei auf niederländischem Boden ohne Kenntnis der dortigen Behörden hindere die strafgerichtliche Verfolgung des Angeklagten in der Bundesrepublik Deutschland nicht; sie meint, daß auch der geltend gemachte Rückführungsanspruch nicht auf eine "allgemeine Regel des Völkerrechts, der zufolge die Durchführung eines Strafverfahrens gegen eine Person gehindert wäre, die durch Einsatz eines V-Manns auf dem Gebiet eines fremden Staates durch List zum Grenzübertritt veranlaßt wurde", gestützt werden kann. Eine entsprechende Staatenpraxis bestehe nur in Fällen völkerrechtswidriger Entführung. Ein solch schwerwiegender Eingriff in die Hoheitsrechte der Niederlande sei hier nicht gegeben, weil nicht Drohung oder Gewalt, sondern lediglich List angewendet worden sei. Zudem sei die Festnahme im Inland erfolgt, nachdem der Angeklagte in der Bundesrepublik eine Straftat begangen habe.
6. Mit seiner Revision gegen dieses Urteil machte der Angeklagte erneut ein Verfahrenshindernis geltend, "da der niederländische Staat mit Verbalnote vom 6. Januar 1986 von der Bundesrepublik Deutschland die Rückführung des Angeklagten B in die Niederlande wegen Verletzung der Hoheitsrechte der Niederlande durch Organe der Bundesrepublik verlangt" habe. In der Revisionshauptverhandlung vor dem Senat beantragte er daher in erster Linie,
auf seine Revision das Urteil des Landgerichts Limburg vom 30. Juli 1986 aufzuheben und das Verfahren einzustellen.
Der Generalbundesanwalt beantragte,
der erkennende Senat möge dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 2 GG die Frage vorlegen:
"Besteht eine allgemeine Regel des Völkerrechts, derzufolge die Durchführung eines Strafverfahrens gegen eine Person, die durch einen V-Mann der deutschen Polizei auf ausländischem Staatsgebiet zur Tatbegehung provoziert und zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verlockt wurde, gehindert ist, wenn der verletzte Staat ihre unverzügliche Rücklieferung fordert?"
Der Angeklagte befand sich im Zeitpunkt dieser Entscheidung noch in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Friedberg/Hessen.
II. 1. Die Berechtigung der in der Verbalnote der Königlich Niederländischen Botschaft vom 6. Januar 1986 gezogenen "Schlußfolgerung, daß ein Organ der Bundesrepublik Deutschland die niederländische Souveränität verletzt hat, ohne daß es hierfür einen Entschuldigungsgrund gibt", soll nicht bezweifelt werden. Die Prämisse dieser Schlußfolgerung ist die Feststellung im ersten tatrichterlichen Urteil, daß der Angeklagte durch den V-Mann des Hessischen Landeskriminalamts veranlaßt wurde, das Rauschgift zur Übergabe an den "Aufkäufer" in die Bundesrepublik zu bringen, und zwar dadurch, daß der V-Mann die Lieferung in die Bundesrepublik "wünschte" und dem Angeklagten (und dessen Hintermann) im Falle einer solchen Lieferung einen höheren Gewinn in Aussicht stellte (vgl. I. 1.).
Im Beschluß des Senats vom 23. Oktober 1985 und im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juni 1986 (2 BvR 1451/85) ist auf Grund dieser tatrichterlichen Feststellung angenommen oder ausdrücklich der Entscheidung zugrunde gelegt worden, daß der Angeklagte "von einem V-Mann der deutschen Polizei auf ausländischem Staatsgebiet zur Tatbegehung provoziert und zur Einreise in die Bundesrepublik verlockt wurde" (vgl. I. 2. und 3.). Mit dieser Rechtsauffassung stimmt die "Schlußfolgerung" der Verbalnote überein. Von ihr ist auszugehen, auch wenn in den erwähnten Beschlüssen unerörtert blieb, ob die schlichte List, die der V-Mann anwandte, eine Strafverfolgungsmaßnahme mit Eingriffscharakter darstellt oder aus einem anderen Grunde als "hoheitliches Handeln" (vgl. Beschl. v. 3. Juni 1986) anzusehen ist.
2. In Übereinstimmung mit einer Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs (in Auswahl: BVerfG NJW. 1986, 1427 = EuGRZ 1986, 18; BVerfG NStZ 1986, 468; BGH NStZ 1984, 563; 1985, 464; BGH StV 1985, 273) ist in den Beschlüssen vom 23. Oktober 1985 und vom 3. Juni 1986 angenommen oder ausdrücklich ausgesprochen worden, daß das Völkerrecht einer Strafverfolgung des Angeklagten nicht entgegensteht und daß "die Durchführung eines strafgerichtlichen Verfahrens auch nicht von Rechtsstaats wegen oder im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 GG" unzulässig ist.
Auch davon ist auszugehen.
3. Wiederum in Übereinstimmung mit der erwähnten Judikatur erkennen die Beschlüsse vom 23. Oktober 1985 und vom 3. Juni 1986 an, daß ein "Wiedergutmachungsanspruch" des niederländischen Staats der Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit entgegenstehen kann. Die Tragweite des Entgegenstehens ist eine Frage, deren Beantwortung allein davon abhängt, was "nach Art" des Restitutionsanspruchs zu seiner Erfüllung erforderlich ist (BGH NStZ 1984, 563).
Dem Angeklagten selbst erwachsen durch die Geltendmachung des Anspruchs keine Rechte, die eine (weitere) Strafverfolgung hindern würden (BGH NStZ aaO.). Infolgedessen kann aus dem Umstand, daß in der Verbalnote vom 6. Januar 1986 "die unverzügliche Rückführung" des Angeklagten gefordert worden ist, ein seinem Schutze vor Verurteilung dienendes Verfahrenshindernis nicht hergeleitet werden. Die Anerkennung dieses Verlangens hat lediglich zur Folge, daß, wie die Verbalnote selbst besagt, eine völkerrechtswidrige Veränderung des Aufenthalts des Angeklagten rückgängig zu machen ist. Infolgedessen bringt auch der Restitutionsanspruch den materiellen Strafanspruch der Bundesrepublik nicht von Rechts wegen zum Erlöschen. Aber auch faktisch kann er den Fortgang des Verfahrens in der Revisionsinstanz nicht hindern. Das folgt insbesondere aus § 350 StPO.
Keiner Beantwortung bedürfen die Fragen, ob die Vorinstanz auf Grund rechtsfehlerhafter Erwägungen die Erfüllung des Restitutionsanspruchs verzögert hat und ob das zweite tatrichterliche Urteil im Falle unverzüglicher Anspruchserfüllung hätte ergehen können. Für den Restitutionsanspruch als solchen wäre durch Aufhebung des zweiten tatrichterlichen Urteils nichts gewonnen. Der Senat hat das im Rahmen seiner Möglichkeiten Liegende und in der jetzigen Prozeßlage zur Erfüllung des Verlangens auf "unverzügliche Rückführung" Gebotene dadurch getan, daß er, um die "Rückführung" zu ermöglichen, das Verfahren vorläufig eingestellt hat.
Fundstellen
Haufe-Index 2993642 |
NJW 1987, 3087 |
BGHR GG Art. 25 - Restitutionsanspruch 1 |
BGHR StPO vor § 1/Verfahrenshindernis - Hoheitsrechts, fremde 1 |
wistra 1987, 180 |
EzSt StPO § 260 Nr. 4 |
MDR 1987, 427 |
Kriminalistik 1988, 43 |
StV 1987, 138 |
StV 1988, 7 |