Verfahrensgang
OLG Hamburg (Beschluss vom 11.12.2003; Aktenzeichen StB 21/03) |
Tenor
Die Beschwerde des Generalbundesanwalts gegen den Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 11. Dezember 2003 in der Fassung des Nichtabhilfebeschlusses vom 15. Dezember 2003 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten im Beschwerdeverfahren hat die Staatskasse zu tragen.
Gründe
Das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg verhandelt seit dem 14. August 2003 gegen den Angeklagten, dem der Generalbundesanwalt im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Beihilfe zum Mord in 3.066 Fällen zur Last legt. Im Hauptverhandlungstermin vom 11. Dezember 2003 hat das Oberlandesgericht die Aufhebung des gegen den Angeklagten bestehenden Haftbefehls beschlossen, weil der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Tat nicht mehr dringend verdächtig sei. Der hiergegen vom Generalbundesanwalt eingelegten Beschwerde hat das Oberlandesgericht mit Beschluß vom 15. Dezember 2003 nicht abgeholfen. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
Nach der Rechtsprechung des Senats unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (Beschl. vom 16. August 1991 – StB 16 und 17/91; Beschl. vom 15. September 1995 – StB 43/95; Beschl. vom 20. Dezember 2001 – StB 21, 22, 26/01 = bei Becker NStZ-RR 2003, 2 Nr. 4). Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder dies nicht der Fall ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme.
Der Prüfungsumfang ist insbesondere dann erheblich eingeschränkt, wenn die Beweisaufnahme abgeschlossen ist oder unmittelbar vor dem Abschluß steht und sich auf Beweismittel erstreckt hat, deren – potentielle – Beweisbedeutung dem Beschwerdegericht aus den Akten nicht ersichtlich ist. Verneint das Tatgericht in dieser Situation den dringenden Tatverdacht und steht daher zu erwarten, daß mit dem alsbald zu verkündenden – freisprechenden – Urteil der Haftbefehl ohnehin gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 StPO aufgehoben werden muß, kann das Beschwerdegericht in die Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Tatgericht nur dann eingreifen und diese durch eine abweichende eigene Bewertung ersetzen, wenn der Inhalt der angefochtenen Haftentscheidung grob fehlerhaft ist und den dringenden Tatverdacht aus Gründen verneint, die in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar sind.
Nach diesen Maßstäben dringt die Beschwerde des Generalbundesanwalts nicht durch:
Zwar hat er die Begründung des Beschlusses vom 11. Dezember 2003 mit Recht als unzureichend beanstandet; denn diese läßt eine nachvollziehbare Abwägung der Gründe vermissen, die das Oberlandesgericht bewogen haben, wegen des Inhalts des an diesem Tag vorgelegten Schreibens des Bundeskriminalamtes seine bisherige Beurteilung des dringenden Tatverdachts zu ändern. Insbesondere fehlte eine Würdigung dieses Schreibens vor dem Hintergrund der Beweisergebnisse, die bis zu diesem Zeitpunkt aus Sicht des Oberlandesgerichts den dringenden Tatverdacht bestätigt hatten.
Dieser Mangel wurde indessen durch den Nichtabhilfebeschluß vom 15. Dezember 2003 behoben. Dort hat das Oberlandesgericht die für seine Entscheidung maßgeblichen Gründe näher dargelegt. Es hat außerdem mitgeteilt, daß die Beweisaufnahme kurz vor dem Abschluß stehe. Dem ist der Generalbundesanwalt weder in der Beschwerdeschrift noch in seiner Stellungnahme zu dem Nichtabhilfebeschluß entgegengetreten. Auch er macht dort nicht geltend, daß für den Tatnachweis wesentliche Beweise noch zu erheben seien. Soweit er in seiner Stellungnahme vom 17. Dezember 2003 auf einzelne Beweisergebnisse verweist, die das Oberlandesgericht weder in seinem Beschluß vom 11. Dezember 2003 noch in seiner Nichtabhilfeentscheidung vom 15. Dezember 2003 erwähnt habe und die entgegen dessen Auffassung den Tatverdacht gegen den Angeklagten weiterhin als dringend erscheinen ließen, kann der Senat auf diesen Sachvortrag seine Entscheidung schon deswegen nicht stützen, weil ihm die Möglichkeit fehlt, den Ertrag der bisherigen Beweisaufnahme in eigener Kompetenz festzustellen. Dies gilt für den gesamten Inbegriff der bisherigen Hauptverhandlung, auf dem die Beurteilung des Tatverdachts durch das Oberlandesgericht beruht. Der Senat kann diesen im Beschwerdeverfahren nicht eigenständig ermitteln oder gar Beweis über das Ergebnis der tatrichterlichen Beweisaufnahme erheben.
Soweit sich die Beschwerde gegen die Schlußfolgerungen wendet, die das Oberlandesgericht aus den mitgeteilten Ergebnissen der Beweisaufnahme zum Tatverdacht zieht, ersetzt sie dagegen lediglich die Bewertung des Oberlandesgerichts durch ihre eigene, zeigt jedoch bezogen auf den Nichtabhilfebeschluß keinen offensichtlichen Fehler in der Würdigung des Oberlandesgerichts auf, der es als unvertretbar erscheinen läßt, den Tatverdacht gegen den Angeklagten im gegenwärtigen Verfahrensstand als nicht mehr dringend zu erachten. Ein solcher Fehler ist auch nicht ersichtlich. Das Oberlandesgericht hat den eingeschränkten Beweiswert des „Behördengutachtens” des Bundeskriminalamtes nicht verkannt. Wenn es sich außerstande sieht, den dort mitgeteilten Angaben der „Auskunftsperson” jeden Beweiswert abzusprechen, weil ihm durch die Einschränkung von Aussagegenehmigungen und die Abgabe von Sperrerklärungen eine eigenständige kritische Prüfung der Beweiskraft der dort mitgeteilten Erklärung unmöglich ist, kann dies – entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts – nicht beanstandet werden. Dies gilt auch, soweit es trotz der den Anklagevorwurf bekräftigenden Indizien, deren beschränkte Aussagekraft andererseits ebenfalls nicht außer Betracht bleiben darf, den dringenden Tatverdacht durch das „Behördengutachten” im Ergebnis als entkräftet ansieht. Jedenfalls ist diese Bewertung nicht unvertretbar.
Das Telefax des Generalbundesanwalts vom heutigen Tag hat dem Senat bei der Beratung vorgelegen. Es erschöpft sich in dem Hinweis auf den neu gestellten Haftbefehlsantrag und teilt die Auffassung des Generalbundesanwalts mit, daß nach der – dem Senat nicht bekannten – Aussage des zwischenzeitlich vernommenen Zeugen M. Zustandekommen und Inhalt des
Behördengutachtens anders zu bewerten seien als in dem Nichtabhilfebeschluß des Oberlandesgerichts. Beides ist für die Entscheidung über die Beschwerde ohne Belang. Die Aufhebung des Haftbefehls hat daher Bestand.
Unterschriften
Tolksdorf, Miebach, Becker
Fundstellen