Verfahrensgang
LG Rostock (Urteil vom 28.06.2006) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 28. Juni 2006 im Maßregelausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Daneben hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat zum Maßregelausspruch Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 2
1. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und zum Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Rz. 3
2. Dagegen kann die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung nicht bestehen bleiben. Zwar hat das Landgericht sowohl die formellen als auch die materiellen Voraussetzungen der Unterbringung nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB rechtsfehlerfrei bejaht. Ebenso hat es – sachverständig beraten – eine hinreichend konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg in einer Entziehungsanstalt verneint und deshalb von einer Unterbringung nach § 64 StGB abgesehen. Jedoch hat die Schwurgerichtskammer versäumt zu prüfen, ob auch eine Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) in Betracht kommt, die nach den Grundsätzen des § 72 StGB die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung entbehrlich machen kann (vgl. BGHSt 42, 306, 308). Der darin liegende Rechtsfehler ist bereits auf die Sachrüge hin zu beachten, so dass es auf die den Maßregelausspruch betreffende Aufklärungsrüge nicht ankommt.
Rz. 4
a) Das Landgericht hat sich ersichtlich deshalb nicht mit der Anordnung einer Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) befasst, weil die für beide Gewaltdelikte angenommene erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) jeweils durch die hochgradige Tatzeit-Alkoholisierung des Angeklagten von 2,7 bzw. 3,0 ‰ bewirkt wurde. Das schloss eine Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB indes noch nicht von vornherein aus. Zwar kommt die Anwendung des § 63 StGB nur bei Personen in Betracht, deren Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit durch einen länger andauernden und nicht nur vorübergehenden Zustand im Sinne der §§ 20, 21 StGB hervorgerufen ist (st. Rspr.; BGHSt 34, 22, 27). In Fällen, in denen die Verminderung der Schuldfähigkeit letztlich auf Alkoholgenuss zurückzuführen ist, kann § 63 StGB aber ausnahmsweise angewendet werden, wenn der Täter an einer krankhaften Alkoholsucht leidet oder in krankhafter Weise alkoholüberempfindlich ist (st. Rspr.; BGHSt 34, 313, 314; BGHR StGB § 63 Zustand 9). Das Landgericht musste sich deshalb mit der Frage auseinandersetzen, ob der Angeklagte nicht nur – was der Sachverständige sicher diagnostiziert hat – alkoholabhängig ist, sondern ob bei ihm bereits eine krankhafte Alkoholsucht vorliegt.
Rz. 5
Anhaltspunkte dafür ergeben sich schon aus dem Verlauf des Alkoholmissbrauchs, der bereits im Jahr 1980 zu einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber des Angeklagten führte. Der Angeklagte setzte seinen exzessiven Alkoholkonsum seither durchgehend – unterbrochen nur durch „Abstinenzzeiten” auf Grund seiner Inhaftierung – fort. Mehrfach musste er sich – im Ergebnis erfolglosen – stationären Entgiftungen unterziehen. 1998 erlitt er einen Herzinfarkt. Der jahrelange Alkoholismus führte bei ihm zur Schwerhörigkeit. Hinzu kamen als Folge des jahrzehntelang eingeschliffenen Alkoholmissbrauchs auch hirnorganisch bedingte kognitive Leistungsminderungen (UA 3, 23). Diese mithin auch physischen Veränderungen beim Angeklagten haben bewirkt, dass er nicht mehr in der Lage ist, abstinent zu leben (UA 23). Damit liegen Umstände vor, die üblicherweise mit dem Begriff der Alkoholsucht verbunden werden (vgl. Peters, Wörterbuch Psychiatrie, 5. Aufl., Stichwort: Alkoholsucht). Dies hätte deshalb näherer Prüfung durch das Landgericht bedurft.
Rz. 6
b) Die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen einer die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigenden krankhaften Alkoholsucht war nicht etwa deshalb entbehrlich, weil das Schwurgericht – auch darin dem gehörten Sachverständigen folgend – keine Anhaltspunkte für „weiter gehende Beeinträchtigungen” zu den jeweiligen Tatzeiten zu erkennen vermochte. Zudem ist die Einschätzung im angefochtenen Urteil, der Angeklagte weise keine die Schuldfähigkeit beeinträchtigende psychische Störung oder Persönlichkeitsstörung auf (UA 17), auch nicht ohne Weiteres vereinbar mit der Erwägung im Rahmen der Strafzumessung zu Gunsten des Angeklagten, „seine Alkoholkrankheit (habe) zu einer möglicherweise kriminalitätsbegünstigenden Beeinträchtigung seiner Persönlichkeit” geführt (UA 19). Für das Vorliegen einer auch unter dem Gesichtspunkt einer anderen schweren seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB relevanten Persönlichkeitsveränderung könnte der von dem gehörten Sachverständigen dargelegte psychologische Befund sprechen, wonach die Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten durch erhebliche Sozialisationsdefizite, Dissozialität, Haltschwäche und hochgradige Impulsivität und Überspanntheit gekennzeichnet sei (UA 23). Auch wenn diese Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten in ihrer Ausprägung noch nicht den Grad erreicht hat, der bereits für sich genommen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit geführt hat, die vom Landgericht sicher angenommene Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten letztlich vielmehr erst durch seine jeweils aktuelle Alkoholintoxikation herbeigeführt worden ist, kann darin nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Zustand gesehen werden, der die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB zu rechtfertigen vermag (vgl. BGHSt 44, 338; 44, 369; Senatsbeschluss vom 18. Januar 2000 – 4 StR 583/99 – NZV 2000, 213).
Rz. 7
3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht – wäre es davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Angeklagten nach § 63 StGB vorliegen – von einer Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung abgesehen hätte. Zwar ist die Unterbringung nach § 63 StGB nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kein „geringeres”, sondern ein „anderes” Übel als die Sicherungsverwahrung, zumal beide Maßregeln zeitlich unbegrenzt sind. Jedoch erweist sich die Unterbringung nach § 63 StGB schon deshalb regelmäßig als die weniger beschwerende Maßregel, weil ihr Vollzug grundsätzlich vor dem Vollzug der Strafe stattfindet und auf die Strafe angerechnet wird (§ 67 Abs. 1 und 4 StGB). Auch aus diesem Grund ist – und zwar unabhängig von der Frage der Therapierbarkeit – der Maßregelanordnung nach § 63 StGB in der Regel gegenüber der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung der Vorrang einzuräumen (BGHSt 42, 306, 308).
Rz. 8
Der Maßregelausspruch bedarf mithin insgesamt neuer Prüfung und Entscheidung.
Unterschriften
Tepperwien, Maatz, Athing, Ernemann, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2552019 |
NStZ-RR 2007, 138 |