Verfahrensgang
LG Magdeburg (Urteil vom 06.05.2010) |
Tenor
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 6. Mai 2010 wird verworfen, soweit sie sich gegen den Schuldspruch und den Strafausspruch richtet.
2. Die Entscheidung über die Revision des Angeklagten gegen die in dem vorbezeichneten Urteil angeordnete Maßregel sowie über die Kosten des Rechtsmittels bleibt einer abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und ausgesprochen, dass „als Härteausgleich für eine nicht mehr mögliche Gesamtstrafenbildung … von der Mindestverbüßungsdauer im Sinne von § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB acht Jahre Freiheitsstrafe als verbüßt” gelten; außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Rz. 2
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg, soweit es sich gegen den Schuldspruch und den Strafausspruch richtet; im Übrigen bleibt die Entscheidung über die Revision des Angeklagten einer abschließenden Entscheidung des Senats vorbehalten.
Rz. 3
1. Die Revision des Angeklagten ist zum Schuld- und Strafausspruch unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 4
2. Nach Auffassung des Senats begegnet die Maßregelanordnung jedoch durchgreifenden rechtlichen Bedenken; im Blick auf die Anfrage des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 9. November 2010 (5 StR 394/10 u.a.; zum Abdruck in BGHSt bestimmt) stellt der Senat die Entscheidung insoweit zurück.
Rz. 5
a) Nach den Feststellungen wuchs der Angeklagte in der ehemaligen DDR auf. Nach der Wiedervereinigung bis zu seiner Inhaftierung am 23. November 1993 in anderer Sache hatte er seine Lebensgrundlage in dem Gebiet des Landes Sachsen-Anhalt; dort – in dem Ort Bahnhof D.-… – beging er in der Nacht zum 31. Oktober 1993 die Anlasstat.
Rz. 6
b) Nach dem zur Zeit der Begehung der Tat geltenden Recht durfte die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gegen den Angeklagten nicht angeordnet werden (Art. 1a EGStGB i.d.F. des Gesetzes vom 23. September 1990 zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertragsgesetz – und der Vereinbarung vom 18. September 1990, BGBl 1990 II S. 885, 955). Daher steht Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (vgl. zuletzt EGMR, Urteile vom 13. Januar 2011 – Beschwerde-Nr. 6587/04, 17792/07, 20008/07, 27360/04 und 42225/07) in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB der rückwirkenden Anwendung der Vorschriften des Strafgesetzbuches über die Sicherungsverwahrung auf den Angeklagten entgegen; die Erwägungen des Senats in seinem Beschluss vom 12. Mai 2010 in der Sache 4 StR 577/09 (NStZ 2010, 567) gelten entsprechend (vgl. bereits BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 – 4 StR 485/05, NStZ 2006, 276, 277).
Rz. 7
c) Auf die Anfrage des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 9. November 2010 (5 StR 394/10 u.a.; zum Abdruck in BGHSt bestimmt) hat der Senat mit Beschluss vom 18. Januar 2011 (4 ARs 27/10) an der seine Entscheidung vom 12. Mai 2010 (aaO) tragenden Rechtsauffassung festgehalten. Daher ist mit einer Vorlage der die Reichweite des konventionsrechtlichen Rückwirkungsverbots nach Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK im Recht der Sicherungsverwahrung betreffenden Rechtsfrage an den Großen Senat für Strafsachen zu rechnen; wann eine die aufgezeigte Divergenz ausräumende Entscheidung ergehen wird, ist derzeit nicht absehbar.
Rz. 8
d) Zwar wäre der Senat durch die Anfrage des 5. Strafsenats von Rechts wegen nicht gehindert, über die Anordnung der Sicherungsverwahrung in dieser Sache nach seiner den Beschluss vom 12. Mai 2010 (aaO) tragenden Rechtsansicht zu befinden (vgl. zu § 132 Abs. 2 GVG BGH, Beschluss vom 24. August 2000 – 1 StR 349/00, BGHR GVG § 132 Anfrageverfahren 1; Urteil vom 21. April 2004 – 1 StR 522/03). Er hält es aber für angezeigt, die Entscheidung über die im angefochtenen Urteil angeordnete Maßregel bis zu einer Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen zurückzustellen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 11. Februar 2010 – 4 StR 577/09) und derzeit nur über den bereits „entscheidungsreifen” Teil, nämlich den Schuld- und Strafausspruch des angefochtenen Urteils zu befinden. Eine solche „horizontale”, d.h. denselben Prozessgegenstand betreffende Teilentscheidung ist ausnahmsweise zulässig, wenn sich der Schuld- und Strafausspruch unabhängig von der Maßregelanordnung und diese sich unabhängig vom Schuldspruch und von der Strafzumessung beurteilen lässt (BGH, Urteil vom 6. Juli 2004 – 4 StR 85/03, BGHSt 49, 209). So verhält es sich hier. Das verfassungsrechtliche (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich normierte Gebot angemessener Beschleunigung des Strafverfahrens gebietet, über das Rechtsmittel des Angeklagten zum Schuld- und Strafausspruch vorab zu entscheiden, weil insoweit Entscheidungsreife besteht. Im Blick auf die wegen der Kompensationsentscheidung mit Rechtskraft eintretende erhebliche Teilerledigung der Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB gebieten zudem schwerwiegende Interessen des in Untersuchungshaft einsitzenden Angeklagten eine solche Teilentscheidung.
Rz. 9
e) Der Senat wird eine Entscheidung über die Maßregelanordnung treffen, sobald das Anfrage- und Vorlageverfahren abgeschlossen ist.
Unterschriften
Ernemann, Solin-Stojanović, Roggenbuck, Cierniak, Bender
Fundstellen