Entscheidungsstichwort (Thema)
Vergewaltigung
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 21. Februar 2001 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in vier Fällen sowie wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in vier Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch eines Kindes und in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Mißbrauch eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit zwei Verfahrensrügen Erfolg, weil die Strafkammer in mehrfacher Hinsicht gegen § 247 StPO verstoßen hat.
1. In den Fällen II. 3., 5. bis 7. der Urteilsgründe hat das Landgericht den Angeklagten jeweils wegen Vergewaltigung zum Nachteil der Elvira D. verurteilt. Während ihrer Vernehmung war der Angeklagte gemäß § 247 Satz 1 StPO aus dem Sitzungszimmer entfernt worden. In Abwesenheit des Angeklagten ist nicht nur die Zeugin vernommen, sondern während deren Aussage auch ein Lichtbild vom Tatort in Augenschein genommen worden. Durch die Niederschrift über die Hauptverhandlung wird bewiesen (§ 274 StPO), daß es sich dabei um eine förmliche Beweisaufnahme in Form eines richterlichen Augenscheins gehandelt hat. Daß der mit der förmlichen Beweiserhebung erstrebte Beweisertrag hier auch durch einen bloßen Vorhalt zu erreichen gewesen wäre, ist für sich allein kein Umstand, der geeignet wäre, die Beweiskraft des Protokolls in Zweifel zu ziehen. Da solche Umstände auch sonst nicht ersichtlich sind, kann der Senat nicht davon ausgehen, das Lichtbild sei der Zeugin im Rahmen der Vernehmung lediglich als Vernehmungsbehelf vorgehalten worden (vgl. BGH NStZ 1999, 522, 523). Dafür, daß tatsächlich ein Sachbeweis erhoben worden ist und nicht allein ein Vorhalt stattgefunden hat, spricht auch, daß in der Niederschrift – unnötigerweise (vgl. BGH NStZ 1999, 522) – mehrfach Vorhalte an die Zeugin im Verlauf ihrer Aussage protokolliert wurden.
Die förmliche Inaugenscheinnahme des Lichtbilds in Abwesenheit des Angeklagten war durch den Beschluß nach § 247 StPO nicht gedeckt. Da sie auch nicht später in Anwesenheit des Angeklagten wiederholt wurde, ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben.
Ein Ausnahmefall, bei dem ein Einfluß des Verfahrensfehlers auf das Urteil zum Nachteil des Angeklagten denkgesetzlich ausgeschlossen werden kann (vgl. BGHR StPO § 338 Beruhen 1; BGH, Beschl. vom 30. Januar 2001 – 3 StR 528/00), liegt hier auch unter Berücksichtigung der Beweiskonstellation nicht vor. Der Angeklagte hatte eingeräumt, mit der Zeugin in seiner Wohnung jeweils einvernehmlich Geschlechtsverkehr ausgeübt zu haben, bei dem es auch zu besonderen Sexualpraktiken und zu einer Verletzung der Zeugin gekommen sei. Er hatte allerdings behauptet, alles sei mit dem Einverständnis des Opfers und ohne den Einsatz von Nötigungsmitteln geschehen. Das fehlerhafterweise in Abwesenheit des Angeklagten in Augenschein genommene Lichtbild zeigt den Tatort, ein spärlich möbliertes Zimmer. Das Landgericht hat sich von der Schuld des Angeklagten aufgrund der Zeugenaussage des Opfers und weiterer, diese stützende Indizien überzeugt. In den Urteilsgründen ist die Tatortaufnahme bei der Beweiswürdigung nicht erwähnt. Das könnte durchaus zu der Überzeugung führen, daß der richterliche Blick auf das Lichtbild nicht entscheidend zur Verurteilung des Angeklagten beigetragen hat. Diese im Rahmen einer Prüfung nach § 337 StPO anzustellende Überlegung reicht hier aber wegen der Vermutung des § 338 StPO nicht aus. Das Landgericht hat eine – möglicherweise entbehrliche, weil durch einen Vorhalt des Lichtbilds an die Zeugin mit gleichem Beweisertrag zu ersetzende – förmliche Beweiserhebung konkret zur Aufklärung des Verfahrensgegenstandes genutzt (vgl. BGH, Beschl. vom 5. Februar 2002 – 5 StR 437/01). Daß diese Beweiserhebung denkgesetzlich nichts zum Nachteil des Angeklagten beigetragen haben kann, vermag der Senat nicht festzustellen. Das Landgericht kann durch die Augenscheinseinnahme die Schilderung des Tatorts durch die Zeugin bestätigt gefunden und deshalb deren Darstellung zur Gewaltanwendung auch im übrigen leichter Glauben geschenkt haben. Das Landgericht kann, ohne daß sich dies in den Urteilsgründen niederschlagen müßte, Details der Schilderung des Opfers zu seiner Gegenwehr in der durch das Lichtbild vermittelten räumlichen Situation bestätigt gefunden haben.
Der Generalbundesanwalt meint, das Beruhen des Urteils auf diesem Fehler sei jedenfalls insoweit denkgesetzlich auszuschließen, als der Angeklagte wegen vier weiterer Taten zum Nachteil von zwei Töchtern der Zeugin verurteilt worden ist. Hiergegen könnte allerdings sprechen, daß zwischen beiden Komplexen zumindest insoweit ein Zusammenhang möglich ist, als die Strafkammer bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussagen jeweils auch die Aussagen der anderen Geschädigten vor Augen hatte. Die Töchter hatten sich untereinander über das Verhalten des Angeklagten ihnen gegenüber unterhalten. Sie hatten später der Mutter berichtet. Sie hatten Folgen der Taten zum Nachteil der Mutter beobachtet. Der Senat braucht dies hier nicht zu entscheiden, weil das Urteil insoweit wegen eines anderen Verfahrensfehlers aufgehoben werden muß.
2. In den Fällen II. 1., 2., 4. und 8. der Urteilsgründe hat das Landgericht den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs zum Nachteil der Mädchen Vanessa und Esther-Pia S. verurteilt. Für die Dauer ihrer Vernehmung hatte die Strafkammer den Angeklagten gemäß § 247 StPO aus dem Sitzungszimmer entfernt. In Abwesenheit des Angeklagten wurde zuerst die Zeugin Esther-Pia vernommen, sodann die Sitzung für kurze Zeit unterbrochen und im Anschluß daran die Zeugin Vanessa gehört. Danach wurde der Angeklagte vom Inhalt der Aussage der Zeugin Esther-Pia unterrichtet und erhielt Gelegenheit, Fragen an diese Zeugin stellen zu lassen. Erst nach Abschluß der Befragung dieser Zeugin wurde er vom Inhalt der Aussage der Zeugin Vanessa unterrichtet und erhielt sodann Gelegenheit, Fragen an diese stellen zu lassen. Diese Verfahrensweise verstößt gegen § 247 Satz 4 StPO.
Nach § 247 Satz 4 StPO hat der Vorsitzende den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist. Ein Angeklagter muß danach, bevor in seiner Anwesenheit die Beweisaufnahme fortgesetzt wird, auch dann von dem in seiner Abwesenheit Ausgesagten unterrichtet werden, wenn die in seiner Abwesenheit durchgeführte Vernehmung lediglich unterbrochen wurde. Nur hierdurch ist sichergestellt, daß sein Informationsstand im wesentlichen dem der anderen Prozeßbeteiligten entspricht und er aufgrund der bereits teilweise in die Hauptverhandlung eingeführten Aussage sein Fragerecht gegenüber weiteren Zeugen und Sachverständigen oder seine Verteidigung zu sonstigen Verfahrensgegenständen sachgerecht auszuüben vermag (BGHSt 38, 260 f.; BGH NStZ 1999, 522; BGH, Beschl. vom 28. Februar 2001 – 3 StR 2/01).
Es kann dahinstehen, ob ein Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht schon darin zu sehen ist, daß der Vorsitzende den Angeklagten nicht bereits nach der Unterbrechung der Vernehmung der ersten Zeugin vom wesentlichen Inhalt dieser Aussage unterrichtet hat, ehe er mit der Vernehmung der zweiten Zeugin begann (offengelassen auch in BGH, Beschl. vom 5. November 1996 – 4 StR 490/96 – insoweit in NStZ 1997, 123 nicht abgedruckt). Er mußte aber den Angeklagten, nachdem dieser wieder vorgelassen war, über den Inhalt beider Zeugenaussagen unterrichten.
Der Senat kann nicht ausschließen, daß die Verurteilung in den vier Mißbrauchsfällen auf diesem Verfahrensfehler beruht. Als der Angeklagte sein Recht ausübte, Fragen an die Zeugin Esther-Pia stellen zu lassen, wußte er im Gegensatz zu den anderen Verfahrensbeteiligten nicht, was die Zeugin Vanessa ausgesagt hatte, und konnte seine Fragen darauf nicht einrichten. Nachdem sich beide Zeuginnen über das Verhalten des Angeklagten miteinander ausgetauscht hatten, liegt es nahe, daß die Zeugin Esther-Pia auch über die Tat zum Nachteil Vanessas ausgesagt hat.
3. Das Urteil muß aufgehoben werden, obwohl sich das Landgericht in einer im übrigen rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung von der Täterschaft des die Taten weitgehend bestreitenden Angeklagten überzeugt hat.
4. Im Hinblick auf das Verfahren vor dem neuen Tatrichter sieht sich der Senat zu folgenden Hinweisen veranlaßt:
a) Bei den der ersten Vergewaltigung der Zeugin D. im Abstand von je einem Tag folgenden weiteren drei Vergewaltigungen (Fälle II. 5. bis 7. der Urteilsgründe) hat das Landgericht bislang nur festgestellt, daß das Opfer den unerwünschten Geschlechtsverkehr jeweils aus Angst vor einer neuen Bestrafung durch den Angeklagten erduldete, was dem Angeklagten auch bewußt war. Das Landgericht führt weiter aus, der Angeklagte habe sich „das Fortwirken dieser früheren Gewaltanwendung … in den 3 folgenden Nächten zunutze” gemacht (UA S. 144). Dies läßt besorgen, daß das Landgericht die Notwendigkeit einer finalen Verknüpfung zwischen dem Nötigungsmittel und der sexuellen Handlung verkannt hat. Der Täter muß erkennen und zumindest billigen, daß das Opfer sein Verhalten als Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben empfindet und nur deshalb den Geschlechtsverkehr erduldet (BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 2, 6, 8 und Gewalt 1).
b) Nach den bisherigen Feststellungen ist der Angeklagte in den Fällen II. 2. und 8. der Urteilsgründe jeweils mit dem Finger in die Scheide des Kindes eingedrungen. Dies gibt Anlaß, die Anwendung von § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB zu prüfen (vgl. BGH NJW 2000, 672).
c) In die Sitzungsniederschrift muß die Verwendung von Augenscheinsobjekten als Vernehmungsbehelfe im Verlauf einer Zeugenvernehmung (ebenso wie der Vorhalt von Urkunden) nicht aufgenommen werden (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 273 Rdn. 8 a.E.). Wenn sich eine Sitzungsniederschrift richtigerweise darauf beschränkt, nur die förmliche Erhebung eines Sachbeweises als Verlesung einer Urkunde oder Einnahme eines Augenscheins wiederzugeben, ist sie erheblich kürzer und vermeidet die Gefahr von Mißverständnissen (vgl. auch BGH bei Miebach NStZ-RR 1998, 1, 5 zu § 338 Nr. 5 StPO; BGH NStZ 1999, 522).
d) Die schriftlichen Urteilsgründe dienen nicht dazu, all das zu dokumentieren, was in der Hauptverhandlung an Beweisen erhoben wurde; sie sollen nicht das vom Gesetzgeber abgeschaffte Protokoll über den Inhalt von Angeklagten- und Zeugenäußerungen ersetzen, sondern das Ergebnis der Hauptverhandlung wiedergeben und die Nachprüfung der getroffenen Entscheidung ermöglichen. Deswegen ist es regelmäßig verfehlt, nach den tatsächlichen Feststellungen die Aussagen der Zeugen umfänglich wiederzugeben. Dies kann die Würdigung der Beweise nicht ersetzen. Mit der Beweiswürdigung soll der Tatrichter – unter Berücksichtigung der Einlassung des Angeklagten – lediglich belegen, warum er bestimmte bedeutsame tatsächliche Umstände so festgestellt hat. Hierzu wird er Zeugenäußerungen, Urkunden o.ä. heranziehen, soweit deren Inhalt für die Überzeugungsbildung nach dem Ergebnis der Beratung wesentlich ist (BGH NStZ-RR 1999, 272 m.w.N.).
Unterschriften
Rissing-van Saan, Miebach, Pfister, von Lienen, Becker
Fundstellen
Haufe-Index 707599 |
DAR 2003, 302 |