Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Einkommensteuerhinterziehung in zwei Fällen, Umsatzsteuerhinterziehung, Gewerbesteuerhinterziehung, Körperschaftsteuerhinterziehung sowie wegen Subventionsbetruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten rügt unter anderem, daß das Landgericht die staatsanwaltschaftliche Vernehmung des Zeugen H. eingeführt hat, obwohl der Zeuge vor Abschluß der staatsanwaltschaflichen Vernehmung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht aus § 55 StPO Gebrauch gemacht und die Auskunftsverweigerung ausdrücklich auch auf die bereits gemachte Aussage bezogen hatte.

1. Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten bezüglich einzelner Tatkomplexe auch unter Verwertung der Vernehmung des in der Schweiz lebenden, trotz Ladung nicht zur Hauptverhandlung erschienenen österreichischen Zeugen H. durch die Staatsanwaltschaft gewonnen. Das Landgericht hat die Aussage dieses Zeugen, die dieser am 25. Januar 1995 bei der Staatsanwaltschaft gemacht hat, durch Vernehmung des bei dieser Vernehmung anwesenden Vertreters der Steuerfahndungsstelle Bielefeld eingeführt. Vor Abschluß dieser Vernehmung hatte H. erklärt, er mache "nunmehr gemäß § 55 StPO von (s)einem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern, soweit es sich um angebliche Provisionszahlungen an mich bzw. die Firma R. bzw. die Firma P. handelt" und er mache von seinem Recht nach § 55 StPO auch "hinsichtlich der Teile der heutigen Aussage (Gebrauch), die der Erklärung von mir zu § 55 StPO vorausgehen".

2. Der Senat erachtet die Rüge, die Aussage des Zeugen H. habe nicht durch Vernehmung des bei der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung anwesenden Vertreters der Steuerfahndungsstelle in die Hauptverhandlung eingeführt und nicht verwertet werden dürfen, für nicht durchgreifend und beabsichtigt, insoweit die Revision zu verwerfen. Er sieht sich daran durch die Rechtsprechung des 1. Strafsenats gehindert.

a) Der 1. Strafsenat hat in seinem Urteil vom 24. Januar 1956 - 1 StR 568/55 - entschieden, daß der Tatrichter die Aussage einer Zeugin, die vor Abschluß der Vernehmung in der Hauptverhandlung vor dem erkennenden Gericht von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch gemacht habe, im Verfahren gegen den Angeklagten nicht habe verwerten dürfen. Demgegenüber, dies entnimmt der Senat den Gründen, hätte die vor dem Ermittlungsrichter gemachte Aussage der in der Hauptverhandlung sich auf das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufenden Zeugin verwertet werden dürfen. Der Fall liege wesentlich anders als der, den der 1. Senat in der Sache BGHSt 2, 99 entschieden habe: Dort handele es sich um die Frage, ob und in welchem Umfang dann, wenn ein Angehöriger des Angeklagten erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 StPO Gebrauch mache, über den Inhalt einer von ihm bei einer früheren Vernehmung in dem Strafverfahren erstatteten Aussage die Vernehmung der richterlichen oder nichtrichterlichen Verhörsperson zulässig sei. Der Senat habe dort die zur Entscheidung stehende Frage für die Fälle bejaht, in denen der Zeuge bei einer früheren richterlichen Vernehmung nach Hinweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht ausgesagt gehabt habe, und zur Begründung ausgeführt, daß der Zeuge, wolle man anders entscheiden, ohne ausreichende innere Rechtfertigung eine Stellung eingeräumt erhielte, die ihn in einer Weise zum Herrn des ganzen Verfahrens machen würde, wie sie sonst für niemanden bestehe. Diese Erwägungen träfen aber nicht auf die Fälle zu, in denen ein Angehöriger des Angeklagten von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO vor Abschluß ein und derselben Vernehmung Gebrauch mache; nichts anderes könne für diejenigen Fälle gelten, in denen der Zeuge von seinem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch mache.

b) Der vom 1. Strafsenat entschiedene Fall unterscheidet sich von dem hier vorliegenden dadurch, daß es dort um die Aussage in der Hauptverhandlung und hier um eine Vernehmung außerhalb der Hauptverhandlung geht. Dennoch erachtet der 5. Strafsenat die Rechtsfrage als die nämliche.

c) Der 5. Strafsenat ist der Ansicht, daß die Angaben eines Zeugen, die dieser vor Erklärung seiner Auskunftsverweigerung gemacht hat, auch dann durch Vernehmung der Verhörsperson eingeführt und verwertet werden können, wenn der Zeuge von seinem Auskunftsverweigerungsrecht vor Abschluß der Vernehmung Gebrauch gemacht hat.

aa) In der Kommentarliteratur wird die Frage unterschiedlich beantwortet. Pelchen (in KK 3. Aufl. § 55 Rdn. 14) schließt sich der Meinung des 1. Strafsenats an. Nach Kleinknecht/Meyer-Goßner (StPO 12. Aufl. § 55 Rdn. 11, 12) bleiben die bis zur Erklärung der Auskunftsverweigerung gemachten Angaben verwertbar, ohne daß ausdrücklich unterschieden wird, zu welchem Zeitpunkt die Auskunftsverweigerung erklärt wird. Die dort zitierten Entscheidungen betreffen allerdings nur Fälle, in denen der Zeuge von seinem Auskunftsverweigerungsrecht erst nach Abschluß einer Vernehmung Gebrauch gemacht hat. Im übrigen wird unter Berufung auf BGH NStZ 1982, 431 und RGSt 44, 44; RG GA 62, 319 die Ansicht vertreten, wahrheitswidrige Angaben bei einer Vernehmung könne der Zeuge bis zum Abschluß der Vernehmung widerrufen und durch die nachträgliche Weigerungserklärung ungeschehen machen. Dahs (in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 55 Rdn. 15) bejaht eine Verwertbarkeit der vor der Auskunftsverweigerung gemachten Angaben.

bb) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können die im Ermittlungsverfahren gemachten Angaben eines Zeugen auch dann im Verfahren gegen den Angeklagten verwertet werden, wenn der Zeuge sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht erst in der Hauptverhandlung beruft (BGHSt 17, 245). Ein überzeugender Grund für eine Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Geltendmachung des Rechts aus § 55 StPO, wie sie der 1. Strafsenat vorgenommen hat, ist nicht ersichtlich.

Der Bundesgerichtshof begründet seine Auffassung, daß das Verwertungsverbot nach § 252 StPO nicht für frühere Aussagen eines Zeugen gelte, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch mache, damit, daß § 55 StPO nicht dem Schutz des Angeklagten diene, sondern ausschließlich auf der Achtung der Persönlichkeit des Zeugen beruhe. Die Vorschrift des § 55 StPO sei das notwendige Korrelat des Grundsatzes, daß niemand zu einer Aussage wider sich selbst gezwungen werden dürfe. Die Befreiung von der Aussage des Zeugen gegen seine nahen Angehörigen sei ebenso eine Gebot der Gerechtigkeit wie der Folgerichtigkeit. Dem Zeugen solle Selbstbelastung oder Beschuldigung seiner Angehörigen nicht zugemutet werden. Zweck dieses Auskunftsverweigerungsrechts sei es, dem Zeugen einen Konflikt zu ersparen. Die Verweigerung der Aussage bewirke infolgedessen nicht, daß die Benutzung des Beweismittels im ganzen ausgeschlossen werde, sondern sie verbiete dem Richter nur, weitere Fragen zu stellen, die den bezeichneten Persönlichkeitsbereich des Zeugen beträfen. § 55 StPO diene nicht dem Schutz der Wahrheitsfindung (Rechtskreistheorie; BGHSt 11, 213, 215, 216 f.). Diese Überlegungen gelten in gleicher Weise in dem Fall, daß ein Zeuge erst im Verlaufe einer Vernehmung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch macht.

cc) Soweit der 1. Strafsenat zur Begründung seiner Entscheidung auf die beiden Entscheidungen des Reichsgerichts (RGSt 44, 44, 45 und RG GA 62, 319) verweist, vermag auch dies nicht zu überzeugen. Die Erklärung eines Zeugen, der im Laufe der Vernehmung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch macht (etwa auch den Eid verweigert und gleichzeitig erklärt, die bereits gemachte Aussage "zurückzuziehen") kann zwar, wie das Reichsgericht in RGSt 44, 44 ausführt, den Erklärungswert haben, das, was der Zeuge bislang ausgesagt habe, sei falsch. Der Zeuge kann sich aber so auch deswegen verhalten, weil er - vielleicht aufgrund der Nachfragen der Vernehmungsperson - befürchtet, sich selbst belastet zu haben. Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, ein sich erst während einer Aussage auf § 55 StPO berufender Zeuge bringe zum Ausdruck, bislang die Unwahrheit gesagt zu haben.

Aber selbst wenn man im konkreten Fall der Wertung des Reichsgerichts folgt, der sich nachträglich auf § 55 StPO berufende Zeuge wolle erklären, das bisher Bezeugte entspreche nicht der Wahrheit, er wolle es nicht als sein Zeugnis gelten lassen, er widerrufe es, kann daraus nicht der Schluß gezogen werden, die von dem Zeugen bis zur Erklärung des Auskunftsverweigerungsrecht gemachte Aussage sei unverwertbar. Das Verhalten des Zeugen unterliegt vielmehr der Beweiswürdigung. In diesem Sinne ist auch die Entscheidung des 2. Strafsents vom 18. Juni 1982 (NStZ 1982, 431) zu verstehen, in der es allerdings um die Strafbarkeit des Zeugen wegen Falschaussage geht.

dd) Der 1. Strafsenat beruft sich zur Begründung seiner Entscheidung auf den nach seiner Ansicht vergleichbaren Fall, daß ein Angehöriger während einer Vernehmung von seinem - Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Dieser Fall könne nicht anders behandelt werden als der des sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufenden Zeugen. Die Gleichbehandlung dieser beiden Fälle liegt nicht nahe, näher liegt vielmehr die Gleichbehandlung des zu Entscheidung stehenden Falles mit dem Fall, daß der Zeuge nach erfolgter Aussage im Ermittlungsverfahren sich erst in der Hauptverhandlung auf sein Recht aus § 55 StPO beruft.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993469

NStZ 1998, 46

wistra 1997, 187

Kriminalistik 1998, 213

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge