Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 30.03.2017) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 30. März 2017 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Raubes in zwei Fällen in Tatmehrheit mit Raub in Tatmehrheit mit versuchtem schweren Raub in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer Strafe aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.
Rz. 2
Hiergegen richtet sich die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Sein Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 3
Die Nichtanordnung der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 4
1. Das Landgericht hat, soweit für die Maßregelfrage relevant, im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Rz. 5
a) Der Angeklagte begann im Alter von 12 Jahren mit dem Konsum von Cannabis und ergänzte ihn rasch durch den Konsum von Alkohol und anderen Stimulanzien. Er ist mehrfach – unter anderem wegen Vermögensdelikten – vorbestraft. Der Angeklagte hat keinen Schulabschluss und verbüßte erstmals in den Jahren 2004 bis 2006 eine Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Nach der Entlassung aus der Haft arbeitete er zunächst etwa acht Monate bei zwei Autozuliefererbetrieben und anschließend während eines Zeitraums von zwei bis drei Jahren in verschiedenen Gelegenheitsjobs. Etwa ab dem Jahr 2009 übte der Angeklagte keinerlei Erwerbstätigkeit mehr aus und befand sich immer wieder zur Verbüßung von Freiheitsstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen in Haft. Der Angeklagte verzichtete während der Zeit, in der er für die Automobilzuliefererfirma tätig war, für rund ein halbes Jahr vollständig auf den Konsum von Drogen. Auch nach der letztmaligen Entlassung aus der Haft Anfang 2016 gab der Angeklagte jeglichen Konsum von Drogen und Medikamenten auf. Er konsumierte nur noch Alkohol (Bier und Wodka), wobei eine Flasche Wodka etwa drei bis vier Tage reichte. Im Hinblick auf den bevorstehenden Antritt einer weiteren Haftstrafe begann der Angeklagte im April oder Mai 2016 erneut mit dem Konsum von Betäubungsmitteln. Vor den verfahrensgegenständlichen Taten konsumierte er täglich Alkohol und Cannabis und vereinzelt auch Kokain sowie eine nicht näher bekannte Anzahl Tabletten „Lyrica”.
Rz. 6
Das Landgericht hat hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen Taten festgestellt, dass diese dazu dienen sollten, während eines „kostspieligen Aufenthalts” in M. die Hotelübernachtungen des Angeklagten, seinen Betäubungsmittelkonsum, sein Glücksspiel und seine sonstigen Ausgaben zu finanzieren (UA S. 16 f., 26).
Rz. 7
b) Die Kammer geht – gestützt auf die Ausführungen des Sachverständigen – davon aus, dass bei dem Angeklagten ein Hang, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, nicht festzustellen sei (UA S. 29 ff.). Bei dem Angeklagten sei zwar ein multipler Substanzkonsum im Sinne einer Polytoxikomanie (ICD-10: F19.2) gegeben, dieser habe aber noch nicht das Ausmaß einer körperlichen Abhängigkeit erreicht. Auch fehle es an einer einen Hang indizierenden Depravation der Persönlichkeit. Der Angeklagte verfüge zwar über ausgeprägt dissoziale Persönlichkeitszüge. Diese könnten jedoch nicht auf den missbräuchlichen Substanzkonsum zurückgeführt werden. Bei den dissozialen Verhaltensweisen des Angeklagten – einschließlich der gegenständlichen Taten – handele es sich um Ausprägungen der dissozialen Persönlichkeitsanteile, welche auch die Bereitschaft zum missbräuchlichen Substanzkonsum umfassten. Der Konsum von Alkohol und Drogen sowie das Begehen von Straftaten gehörten seit dessen frühester Jugend zum Lebensentwurf des Angeklagten. Vor diesem Hintergrund lasse sich zwar eine soziale Gefährdung des Angeklagten feststellen, diese habe ihre Ursache aber nicht in der Polytoxikomanie sondern in den dissozialen Persönlichkeitsanteilen.
Rz. 8
2. Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht rechtsfehlerhaft von einem unzutreffenden Verständnis eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist.
Rz. 9
Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss (vgl. Senat, Beschlüsse vom 12. Januar 2017 – 1 StR 604/16, StV 2017, 672 und vom 14. Juni 2016 – 1 StR 219/16, BGHR StGB § 64 Hang 4; BGH, Urteile vom 10. November 2004 – 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210 und vom 15. Mai 2014 – 3 StR 386/13, NStZ-RR 2014, 271).
Rz. 10
Das Landgericht ist zwar im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln im Sinne des § 64 StGB jedenfalls dann gegeben ist, wenn der Betreffende auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. Senat, Beschlüsse vom 12. Januar 2017 – 1 StR 604/16, StV 2017, 672 und vom 14. Juni 2016 – 1 StR 219/16, BGHR StGB § 64 Hang 4; BGH, Urteile vom 10. November 2004 – 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210 und vom 15. Mai 2014 – 3 StR 386/13, NStZ-RR 2014, 271). Der Schluss der Kammer, dass die dissozialen Persönlichkeitsanteile des Angeklagten – und nicht auch die Polytoxikomanie – allein ursächlich für dessen soziale Gefährdung seien, begegnet jedoch durchgreifenden Bedenken. Dies ergibt sich zunächst bereits daraus, dass nach den Feststellungen des Landgerichts die dissozialen Primärpersönlichkeitsanteile auch die Bereitschaft zum missbräuchlichen Substanzkonsum umfassen (UA S. 30) und dieser damit – wenn auch mittelbar – ebenfalls kausal für die von der Kammer angenommene soziale Gefährdung des Angeklagten ist. Zudem kommt eine soziale Gefährdung oder soziale Gefährlichkeit nicht nur dann in Betracht, wenn der Betroffene Rauschmittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt werden (vgl. Senat, Beschlüsse vom 6. November 2002 – 1 StR 382/02, NStZ-RR 2003, 106 f. mwN und vom 14. Dezember 2005 – 1 StR 420/05, NStZ-RR 2006, 103 f.; BGH, Beschluss vom 1. April 2008 – 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198 f.), sondern insbesondere auch bei Beschaffungskriminalität (BGH, Beschluss vom 10. August 2007 – 2 StR 344/07, StV 2008, 76 mwN). Angesichts der Feststellungen des Landgerichts, dass die verfahrensgegenständlichen Taten auch dazu dienen sollten, den Betäubungsmittelkonsum des Angeklagten zu finanzieren (UA S. 16 f., 26), kann die Ursächlichkeit der Polytoxikomanie für die soziale Gefährdung und soziale Gefährlichkeit des Angeklagten daher nicht verneint werden. Im Übrigen erscheint im vorliegenden Fall eine eindeutige Abgrenzbarkeit von jahrzehntelangem, multiplem Substanzkonsum und dissozialen Persönlichkeitsanteilen kaum möglich.
Rz. 11
3. Rechtsfehlerhaft ist auch die Annahme des Landgerichts, es würde jedenfalls an einem symptomatischen Zusammenhang zwischen einem Hang und den verfahrensgegenständlichen Taten fehlen. Eine Tat hat dann Symptomcharakter, wenn sie in dem Hang ihre Wurzel findet, also Symptomwert für den Hang des Täters zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln hat (BGH, Urteil vom 11. September 1990 – 1 StR 293/90, NStZ 1991, 128; Beschluss vom 28. August 2013 – 4 StR 277/13, NStZ-RR 2014, 75), also – zumindest mitursächlich – auf den Hang zurückgeht (Senat, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113, 114; BGH, Beschluss vom 28. August 2013 – 4 StR 277/13, NStZ-RR 2014, 75). Typisch sind hierfür Delikte, die begangen werden, um Rauschmittel oder Geld für ihre Beschaffung zu erlangen (Senat, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113, 114; Urteil vom 18. Februar 1997 – 1 StR 693/96, BGHR StGB § 64 Abs. 1 Rausch 1; BGH, Beschluss vom 28. August 2013 – 4 StR 277/13, NStZ-RR 2014, 75), was nach den Feststellungen des Landgerichts – wie zuvor ausgeführt – gegeben ist.
Rz. 12
4. Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen nicht von vornherein ausscheidet, muss über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt neu verhandelt und entschieden werden. Dem steht nicht entgegen, dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; BGH, Urteil vom 10. April 1990 – 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 9; Beschluss vom 19. Dezember 2007 – 5 StR 485/07, NStZ-RR 2008, 107); er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen.
Rz. 13
5. Der aufgezeigte Rechtsfehler lässt den Strafausspruch unberührt. Es ist im vorliegenden Fall auszuschließen, dass das Landgericht bei einer Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf eine niedrigere Freiheitsstrafe erkannt hätte.
Unterschriften
Raum, Jäger, Radtke, Fischer, Hohoff
Fundstellen
Dokument-Index HI11379685 |