Verfahrensgang
LG Paderborn (Urteil vom 28.10.2004) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 28. Oktober 2004 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer als Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in 15 Fällen und wegen sexuellen Mißbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in zwei Fällen unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg, so daß es einer Erörterung der Verfahrensrügen nicht bedarf.
1. Der Angeklagte war von 1984 bis 1992 mit Vera Sch., der Mutter des am 28. Oktober 1980 geborenen Mark R., verheiratet. Im Juni 1997 heiratete er Beata P.. Diese Ehe wurde im November 2003 geschieden.
a) Zu den Taten des Angeklagten zum Nachteil seines Stiefsohnes in der Zeit von 1986 bis 1990 (Fälle II. 1 bis 15 der Urteilsgründe) hat das Landgericht festgestellt (UA 5):
„Im Tatzeitraum legte er sich häufiger abends … zu dem Zeugen R. im Kinderzimmer ins Bett und übernachtete dort, weil er Probleme mit seiner damaligen Ehefrau, der Zeugin Sch. hatte. In mindestens 15 Fällen missbrauchte er den Zeugen, indem er ihn anal penetrierte. Hierzu benutzte er entweder seinen Penis, einen Finger oder Gegenstände. Der Zeuge R. verspürte dabei Schmerzen.”
Der Verurteilung wegen sexuellen Mißbrauchs einer widerstandsunfähigen Person (Fälle II. 16 und 17 der Urteilsgründe) liegen folgende Feststellungen zugrunde (UA 6):
„Im Jahr 2001 nutzte der Angeklagte die Gelegenheit, daß seine damals von ihm bereits getrennt lebende Ehefrau, die Zeugin P., anlässlich eines Besuches in ihrer Wohnung … eingeschlafen war, sich an der Zeugin in der Weise zu vergehen, daß er an ihrer Scheide leckte.
Anlässlich eines Besuches der Zeugin beim Angeklagten im Herbst 2001 nutzte er ihren Schlaf dazu aus, im Scheidenbereich der Zeugin zu manipulieren.
In beiden Fällen war dem Angeklagten bekannt, daß die Zeugin keinen sexuellen Kontakt zu ihm wünschte.”
Am 5. September 2002 wurde Mark R. wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung verurteilt. In der Hauptverhandlung hatte er zum ersten Mal öffentlich erklärt, daß der Angeklagte ihn in seiner Kindheit sexuell mißbraucht habe. Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte Mark R. seiner Mutter Vera Sch., ohne nähere Einzelheiten zu schildern, von sexuellen Mißbrauchshandlungen des Angeklagten berichtet. Diese erstattete am 12. September 2002 gegen den Angeklagten Strafanzeige.
b) Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegten Taten bestritten und sich dahin eingelassen, sein Stiefsohn wolle mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen seinen Frust an ihm auslassen. Seine frühere Ehefrau Beata P. wolle sich an ihm rächen, weil sie die Ehejahre mit ihm wohl als verloren ansehe, da er ihr den erwarteten und geforderten Lebensstandard nicht habe bieten können.
Das Landgericht ist in den Fällen II. 1 bis 15 der Urteilsgründe der Aussage des Geschädigten R. zu dem Tatgeschehen gefolgt. Es hält die Tatschilderung, ebenso wie der Sachverständige, der in seinem psychologischen Gutachten die Unwahrheitshypothese ausgeschlossen und der Erlebnishypothese „den vergleichsweise höchsten Wahrscheinlichkeitsgrad” zugemessen hat (UA 15), für „uneingeschränkt glaubhaft” (UA 12).
In den Fällen II. 16, 17 der Urteilsgründe hat das Landgericht die Verurteilung auf die Aussage der Geschädigten Beata P. gestützt, weil Anhaltspunkte, warum diese den Angeklagten zu Unrecht belasten solle, nicht ersichtlich seien. Die Zeugin habe während der Hauptverhandlung „offenbar sehr große Angst vor dem Angeklagten gehabt”, denn sie habe gezittert und sei kaum in der Lage gewesen, ihre Personalien verständlich zu Protokoll zu geben. Das Landgericht ist deshalb davon überzeugt, daß die Zeugin die Vorwürfe gegen den Angeklagten mit der für sie belastenden Folge, in der Hauptverhandlung erscheinen zu müssen, nicht erhoben hätte, wenn sie nicht der Wahrheit entsprächen.
2. Die der Verurteilung zugrunde liegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Allerdings beschränkt sich, weil die Beweiswürdigung in erster Linie Sache des Tatrichters ist, die revisionsgerichtliche Nachprüfung darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung setzt aber voraus, daß sich die Urteilsgründe mit widersprüchlichen, ungenauen oder aus sonstigen Gründen nicht ohne weiteres glaubhaften Zeugenaussagen in einer für das Revisionsgericht überprüfbaren Weise auseinandersetzen (vgl. BGH StV 1992, 555 m.w.N.). Demgemäß müssen die Urteilsgründe in einem Fall, in dem – wie hier – „Aussage gegen Aussage” steht und die Entscheidung allein davon abhängt, wem das Gericht Glauben schenkt, erkennen lassen, daß der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGHSt 44, 153, 159; 256, 257; BGH NStZ 2000, 496, 497; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 23).
Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung angesichts der Besonderheiten der gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe und der Aussageentstehung nicht gerecht.
Das Landgericht hat die Aussage des Zeugen Mark R., obwohl die „Schilderung der Taten aus aussagepsychologischer Sicht im ersten Moment einfach und schematisch” erscheine, dem Gutachten des Sachverständigen folgend für glaubhaft gehalten, weil der Zeuge im Rahmen der Exploration und der Vernehmung in der Hauptverhandlung zahlreiche „Einbettungen” geschildert habe, die „in so hohem Maße logisch konsistent, originell und stimmig” seien, daß die Aussage insgesamt mit der Annahme einer vorsätzlichen Falschbelastung nicht in Einklang zu bringen sei (UA 12). Ein Vergleich der Angaben des Zeugen, der bei der polizeilichen Vernehmung, bei der Exploration sowie in der Hauptverhandlung „von sehr komplexen, originellen und individuellen Vorgängen berichtet” habe, erbringe ein „hohes Maß an Konstanz” (UA 14). Dies ist jedoch nicht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise mit Tatsachen belegt. Hierzu hätte es einer substantiierten Wiedergabe der Angaben des Zeugen bedurft, die das Landgericht als Schilderung von „Einbettungen” und von originellen und individuellen Vorgängen im Zusammenhang mit dem Tatgeschehen gewertet hat.
Das Landgericht hätte zudem für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegen müssen, aus welchen Gründen es trotz der nur pauschalen Tatschilderung die Überzeugung gerade von der Mindestzahl von fünfzehn Straftaten zum Nachteil des Zeugen R. gewonnen hat (vgl. BGHR StGB § 176 Serienstraftaten; BGH, Beschluß vom 7. April 2005 – 4 StR 82/05). Daran fehlt es, zumal sich dem Urteil nicht entnehmen lässt, woran der Zeuge die Häufigkeit der sexuellen Übergriffe festgemacht hat.
Sowohl die Würdigung der Aussage des Zeugen R. als auch die Würdigung der Aussagen der Zeugin Sch. und der Zeugin P. begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken auch deshalb, weil die Urteilsgründe nicht erkennen lassen, ob das Landgericht alle Umstände, die für eine Falschbelastung des Angeklagten durch diese Zeugen sprechen könnten, in seine Überlegungen einbezogen hat.
Daß der Zeuge R. den Angeklagten zu Unrecht des sexuellen Missbrauchs beschuldigt hat, um das Gericht in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren zur Verhängung einer milden Strafe zu bewegen, hat das Landgericht mit der Erwägung ausgeschlossen, der Zeuge habe seiner Mutter Vera Sch. bereits im Frühjahr 2002 von Mißbrauchshandlungen berichtet. Die strafrechtlichen Konsequenzen der von ihm begangenen Straftat habe der Zeuge aber erst nach seiner unerwarteten Festnahme im Juni 2002 erkennen können. Nach Auffassung des Landgerichts läßt sich auch die Hypothese, daß der Zeuge R., der nach seinen und den Angaben seiner Mutter von dem Angeklagten „jahrelang verprügelt” wurde, „als Kind von dem Angeklagten zwar schwer misshandelt aber nicht sexuell missbraucht worden sei, und sich nun mit diesen Vorwürfen rächen wolle,” nicht mit der Entstehungsgeschichte der Aussage vereinbaren. Danach deute nichts auf einen Komplott zwischen den Zeugen R. und Sch. (UA 10/11). Die Erwägung des Sachverständigen, „ohne eng verzahnte Absprachen sei ein vorsätzlich inszenierter Rachefeldzug nicht möglich” (UA 11), ist jedoch im Hinblick auf die nach den bisherigen Feststellungen einfach strukturierte pauschale Schilderung der Taten durch den Zeugen R. nicht ohne weiteres tragfähig. Dies gilt auch für die Erwägung, gegen einen Komplott spreche das Vorgehen der Zeugin Sch., die in ihrer Strafanzeige vom 12. September 2002 „gleich für drei Personen – einschließlich des Zeugen R. – den Vorwurf sexueller Misshandlungen gegenüber dem Angeklagten erhoben habe” (UA 12).
Insoweit hätte es der Mitteilung aller mit dieser Strafanzeige gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe und einer Gesamtwürdigung der den Angeklagten belastenden Zeugenaussagen unter Einbeziehung auch der Entstehungsgeschichte der Aussage der Zeugin P. und der Aussage der Zeugin Sch. bedurft, die in der Hauptverhandlung ausgesagt hat, der Angeklagte habe „sie mehrfach vergewaltigt, wenn sie geschlafen habe” (UA 16). Eine die Umstände der Anzeigeerstattung durch die Zeugin Sch. umfassende Gesamtwürdigung der Aussagen war insbesondere deshalb geboten, weil nach den bisherigen Feststellungen nicht nur der Zeuge R., sondern auch die von dem Angeklagten seit 1992 geschiedene Zeugin Sch. und die zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung von dem Angeklagten getrennt lebende Zeugin P. – wie der Angeklagte geltend gemacht hat, wegen der verlorenen Ehejahre – ein Motiv für eine Falschbelastung gehabt haben könnten.
Die Sache muß daher insgesamt neu verhandelt und entschieden werden.
Unterschriften
Maatz, Kuckein, Athing, Ernemann, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2557031 |
StV 2005, 488 |