Verfahrensgang
LG Halle (Saale) (Urteil vom 03.05.2004) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 3. Mai 2004 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer als Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch eines Jugendlichen in zwei Fällen (II 1. b) und c) der Urteilsgründe) sowie wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes (Fall II. 2 b) der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und ihn zur Zahlung von Schmerzensgeld an die Geschädigten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat bereits mit der Sachrüge Erfolg, so daß es auf die Verfahrensrügen nicht ankommt.
1. a) Nach den Feststellungen zu den Fällen II 1. b) und c) der Urteilsgründe lernte der Angeklagte den unter einer „mittelschwere(n) geistige(n) Behinderung” (UA 24/25) leidenden 15jährigen Ronny M. im Frühjahr 2002 kennen. Er traf sich in der Folgezeit häufiger mit ihm. Als Ronny den Angeklagten nach Geld fragte, versprach dieser ihm 10 Euro. Er nahm den Jungen daraufhin mit in seine Wohnung, in der es im Sommer 2003 zu folgenden Handlungen kam:
Nachdem sich Ronny und der Angeklagte entkleidet hatten, führte der Angeklagte erst einen Finger und später zumindest teilweise seinen erigierten Penis in den After des Jungen ein, um sich sexuell zu befriedigen. Dies tat dem Jungen, „der es auch widerlich fand” (UA 17), weh (Fall II 1.b).
An einem anderen Tag versuchte der sexuell erregte Angeklagte erneut den Analverkehr, was ihm jedoch nicht gelang, da der Junge sich wegdrehte und den Angeklagten wegschubste. Der Angeklagte befriedigte sich daraufhin selbst und ejakulierte auf das Gesäß des Jungen (Fall II 1.c).
Da der Geschädigte die ihm versprochenen 10 Euro nicht erhielt, fühlte er sich von dem Angeklagten „verarscht” (UA 18) und sprach „über die Sache” mit einer älteren Frau, die er zufällig getroffenen hatte. Diese informierte den Pflegevater des Geschädigten, der daraufhin am 29. Juli 2003 Anzeige bei der Polizei erstattete.
b) Die Verurteilung des Angeklagten in diesen Fällen hat keinen Bestand, weil die Annahme des Landgerichts, der Geschädigte sei widerstandsunfähig im Sinne von § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB gewesen, durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet. Sie ist nicht ausreichend mit Tatsachen belegt.
aa) Widerstandsunfähig im Sinne des § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist, wer aus den dort genannten Gründen keinen zur Abwehr ausreichenden Widerstand bilden, äußern oder durchsetzen kann. Dabei genügt, daß das Opfer nur vorübergehend widerstandsunfähig ist. Als Ursache einer solchen Unfähigkeit kommen nicht nur geistig-seelische Erkrankungen sondern auch sonstige geistig-seelische Beeinträchtigungen in Betracht, die sich etwa aus einem Zusammentreffen einer besonderen Persönlichkeitsstruktur des Opfers und seiner Beeinträchtigung durch die Tatsituation ergeben (BGHR StGB § 179 Abs. 1 Widerstandsunfähigkeit 1). Die bloße Feststellung einer geistigen Behinderung allein genügt für die Annahme von Widerstandsunfähigkeit aber nicht (BGH NStZ 2003, 602; BGH, Beschluß vom 26. Januar 2005 – 2 StR 456/04; Tröndle/Fischer StGB 52. Aufl. § 179 Rdn. 9, 11). Der Tatrichter hat vielmehr – gegebenenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen – auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung, in die auch das aktuelle Tatgeschehen einzubeziehen ist, die geistig-seelische Verfassung des Opfers und deren Auswirkung auf das Opferverhalten zu prüfen, wobei für die Beurteilung der relevanten geistig-seelischen Beeinträchtigung die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Frage der Bewußtseinsstörung und seelischen Abartigkeit eines Täters entsprechend anwendbar sind (BGHSt 36, 145, 147). Das Urteil läßt nicht erkennen, daß die Jugendkammer diese Prüfung vorgenommen hat.
bb) Insoweit fehlt es bereits an der gebotenen näheren Darlegung zum Zustand des Jungen und dessen Auswirkungen auf die Fähigkeit, eine sexuelle Mißbrauchssituation zu erkennen und einen Widerstandswillen zu bilden. Allein der pauschale Hinweis auf eine „mittelschwere geistige Behinderung (schwere Debilität)” (UA 24/25) genügt dafür ebenso wenig wie die bloße Mitteilung, der Grad der Behinderung des Jungen werde „in seinem Schwerbehindertenausweis mit 100 angegeben” (UA 17). Zweifel an einer Widerstandsunfähigkeit ergeben sich schon daraus, daß der Geschädigte dem Angeklagten ersichtlich nur wegen der ihm versprochenen 10 Euro in die Wohnung gefolgt ist und er die sexuellen Handlungen auch nur deswegen an sich hat vornehmen lassen. Dies belegt auch sein späteres Verhalten, indem er sich gegenüber der ihm bis dahin unbekannten Frau über den Angeklagten beschwerte, weil er das versprochene Geld nicht erhalten hatte. Zudem vermochte sich der Geschädigte im Fall II 1 c) dem Versuch des erneuten Analverkehrs dadurch zu widersetzen, daß er sich wegdrehte und den Angeklagten wegschubste. Mit diesen Umständen, die der Annahme entgegenstehen, der Geschädigte habe sich gerade aufgrund seiner geistigen Beeinträchtigung den sexuellen Übergriffen des Angeklagten nicht entziehen können, hätte sich die Jugendkammer näher auseinander setzen müssen.
c) Der neue Tatrichter wird deshalb das Vorliegen einer Widerstandsunfähigkeit des Geschädigten im Sinne des § 179 StGB erneut zu prüfen und dabei einen solchen Zustand von einer auf Unreife beruhenden eingeschränkten Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung im Sinne des § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB abzugrenzen haben (vgl. BGH, Beschluß vom 26. Januar 2005 – 2 StR 456/04). Soweit sich hiernach die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 179 StGB nicht feststellen lassen, kommt insoweit allerdings möglicherweise eine Verurteilung wegen Versuchs (§ 179 Abs. 3 StGB a.F.) in Betracht, sofern auch der neue Tatrichter zu der Feststellung gelangt, dem Angeklagten sei „bewußt (gewesen), daß Ronny M. geistig behindert und aufgrund dessen unfähig war, die sexuellen Handlungen abzuwehren” (UA 18). Im übrigen wird der neue Tatrichter eine Strafbarkeit des Angeklagten auch nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. StGB zu prüfen haben.
2. Die Verurteilung des Angeklagten im Fall II 2 b) der Urteilsgründe wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes hält der rechtlichen Nachprüfung ebenfalls nicht stand.
a) Nach den insoweit vom Landgericht getroffenen Feststellungen saß der Angeklagte an einem nicht näher bestimmbaren Tag in einer der ersten Septemberwochen 2003 mit der damals siebenjährigen Katja L. zusammen mit deren seinerzeit 17jähriger Schwester, mit der er ein intimes Verhältnis hatte, sowie mit der Mutter der Mädchen im Wohnzimmer beim Fernsehen. Nachdem die Mutter aufgrund erheblichen Alkoholgenusses eingeschlafen war und die ältere Schwester entweder ebenfalls eingeschlafen war oder den Raum verlassen hatte, bewegte der Angeklagte seine Hand zunächst oberhalb der Kleidung und anschließend unterhalb der Kleidung außen am Geschlechtsteil des Kindes hin und her. Weil das Kind sich sträubte, hielt er es hierbei mit der anderen Hand an deren Armen fest. Als sich Katja „nun auch verbal bemerkbar machte” (UA 19), ließ der Angeklagte von ihr ab.
b) Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache eingelassen. Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Tatgeschehen aufgrund der Angaben von Katja gewonnen, die es „trotz intellektueller Einschränkung” des Mädchens (UA 28) für glaubhaft hält. Hierin sieht es sich bestätigt durch das Gutachten des zur Glaubwürdigkeit des Mädchens gehörten Sachverständigen. Zur Entstehungsgeschichte der Aussage hat die Jugendkammer allerdings nicht feststellen können, wem sich das Kind als erstes offenbarte; fest stehe aber, daß Katja gemeinsam mit ihrer Schwester am Abend des 12. September 2003, möglicherweise in Begleitung ihres Bruders, zu ihrem Vater gegangen sei; Katja habe hier ihrem Vater mitgeteilt, daß der Angeklagte „ihr zwischen die Beine gefaßt” habe (UA 27). Daß der Angeklagte im Ermittlungsverfahren einen sexuellen Übergriff bestritten hat, bewertet die Jugendkammer als „bloße Schutzbehauptung” (UA 27).
c) Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Allerdings beschränkt sich, da die Beweiswürdigung in erster Linie Sache des Tatrichters ist, die revisionsgerichtliche Nachprüfung darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Ein sachlich-rechtlicher Fehler liegt u.a. dann vor, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden und der Tatrichter in einem Fall, in dem „Aussage gegen Aussage” steht und die Entscheidung – wie hier – im wesentlichen davon abhängt, welcher Person das Gericht Glauben schenkt, nicht erkennen läßt, daß er alle Umstände, die seine Überzeugungsbildung zu beeinflussen geeignet sind, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGHSt 44, 153, 159; 256, 257; BGH NStZ 2000, 496, 497; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 23). Bei der Aussage kindlicher bzw. jugendlicher Zeugen in Mißbrauchsfällen kommt zudem der Entstehungsgeschichte der Beschuldigung besondere Bedeutung zu (vgl. BGH StV 1994, 227; 1995, 6, 7; 1998, 250).
Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung, mit der sich die Jugendkammer dem Sachverständigen angeschlossen hat, angesichts der Besonderheiten des Falles nicht gerecht. Das Landgericht hätte, wenn es schon nicht feststellen konnte, wem sich das Kind als erstes offenbarte, „weil die Zeugen … unterschiedliche Angaben machten” (UA 27), die Widersprüche darstellen müssen, um die Entstehung der Erstaussage des Kindes – auch im Hinblick auf einen möglichen Einfuß von Dritten auf den Inhalt der Angaben des Kindes – für das Revisionsgericht nachvollziehbar zu würdigen. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Aussageentstehung war zumal deshalb veranlaßt, weil das Landgericht auch nicht festzustellen vermochte, ob Katja „später ihrer Mutter von dem Vorfall berichtet hat und der Angeklagte die Tat gegenüber (der Mutter) daraufhin abgestritten hat und die Mutter deshalb nichts unternahm” (UA 19/20). Insoweit hätte es der Darlegung bedurft, was Katja und ihre Mutter hierzu ausgesagt haben. Eine weiter gehende Erörterung der Aussageentstehung war auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil sich die Jugendkammer die eher allgemein gehaltenen Ausführungen des aussagepsychologischen Sachverständigen, der die Angaben von Katja „zum Nachweis der Schuld oder Unschuld des Angeklagten empfohlen” hat (UA 28), zu eigen gemacht hat. Hinzu kommt, daß die Erwägung, mit der die Jugendkammer Eifersucht von Katja als mögliches Falschbelastungsmotiv ausgeschlossen hat, nicht ohne weiteres tragfähig ist. Daß Katja „von dem Angeklagten nicht dessen Liebe gewonnen, sondern durch ihre Äußerung gerade verloren” hätte (UA 26), besagt über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Eifersucht nichts.
3. Die Aufhebung des Urteils im gesamten Schuld- und Strafspruch zieht die Aufhebung der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB nach sich.
Der neue Tatrichter wird – sofern er die formellen Voraussetzungen des § 66 StGB wiederum bejaht – Gelegenheit haben, die Gefährlichkeitsprognose im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB, zu der sich das angefochtene Urteil nicht verhält, in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise zu begründen. Unter diesem Gesichtspunkt wird der neue Tatrichter eine umfassende Würdigung des Angeklagten und seiner Taten vorzunehmen haben. Dieser Aufgabe ist der Tatrichter nicht etwa deshalb enthoben, weil sich der gemäß § 246 a StPO gehörte psychiatrische Sachverständige „aufgrund des hohen Widerstandes gegenüber dem Gutachter und der Unzuverlässigkeit des Angeklagten bezüglich seiner Angaben und der damit verbundenen Informationsdefizite” (UA 29) an der eindeutigen Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung gehindert gesehen hat. Vielmehr ist es in einem solchen Fall Aufgabe des Gerichts, unter Mithilfe des Sachverständigen alle übrigen ihm – etwa auch aus den Vorstrafakten – zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen auszuschöpfen. Darüber hinaus hat der Sachverständige das Gericht auf – seiner Ansicht nach – aufklärungsbedürftige und für die Beurteilung wesentliche Punkte hinzuweisen, um durch weitere Aufklärung die Grundlage für seine gutachterliche Stellungnahme in dem von ihm selbst für erforderlich gehaltenen Maße verbreitern zu können (BGH NStZ 1994, 95, 96).
Der Senat weist darüber hinaus darauf hin, daß für den Fall, daß das neue Tatgericht zu einer erneuten Verurteilung des Angeklagten gelangt, die Frage nachträglicher Gesamtstrafenbildung unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom 26. November 2003 (UA 17) zu prüfen sein wird.
Unterschriften
Maatz, Kuckein, Athing, Ernemann, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2557040 |
StraFo 2005, 433 |