Leitsatz (amtlich)
Jedenfalls dann, wenn der Angeklagte nach einer Übergabe aufgrund eines europäischen Haftbefehls freiwillig das deutsche Staatsgebiet verlässt, bildet bei einer nachfolgenden Übergabe aufgrund eines weiteren von einer deutschen Strafverfolgungsbehörde ausgestellten Europäischen Haftbefehls allein letzterer den Rahmen für einen möglichen Spezialitätsschutz im Sinne von § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG.
Normenkette
IRG § 83h Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
LG Braunschweig (Entscheidung vom 16.12.2019; Aktenzeichen 213 Js 15297/18 1 KLs 71/19) |
Nachgehend
Tenor
Beim Europäischen Gerichtshof wird beantragt, das mit Senatsbeschluss von heute gestellte Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012 (ABl. L 265, S. 1, EuGHVfO), zuletzt geändert am 26. November 2019 (ABl. L 316, S. 103), zu unterwerfen.
Gründe
Rz. 1
1. Der Senat hat dem Europäischen Gerichtshof eine Frage zur Auslegung von Art. 27 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung (ABl. L 81 vom 27. März 2009, S. 24) gemäß Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Auf den hierzu ergangenen Beschluss von heute wird Bezug genommen.
Rz. 2
2. Die Vorlagefrage betrifft den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, mithin einen Bereich, der von Titel V des Dritten Teils des AEUV über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erfasst ist.
Rz. 3
3. Die Dringlichkeit der Vorabentscheidung über die vorgelegte Frage ergibt sich aus Folgendem:
Rz. 4
Aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Braunschweig vom 5. November 2018 befand sich der Angeklagte in gegenständlicher Sache vom 23. Juli 2019 bis 11. Februar 2020 in Untersuchungshaft in Deutschland. Seit dem 12. Februar 2020 wird die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll weiter vollstreckt. Der für das gegenständliche Verfahren ergangene Untersuchungshaftbefehl besteht daneben fort. Es ist Überhaft notiert. Am 7. Juni 2020 werden zwei Drittel der Gesamtfreiheitsstrafe verbüßt sein. Zu diesem Zeitpunkt ist eine gerichtliche Entscheidung darüber zu treffen, ob die Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung ausgesetzt wird. Bei dieser Prüfung kann auch die Tatsache des fortbestehenden Untersuchungshaftbefehls entscheidungserheblich sein und einer Aussetzung entgegenstehen. Setzt das Gericht jedoch die Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung aus, wird die im gegenständlichen Verfahren angeordnete Untersuchungshaft weiter vollstreckt.
Rz. 5
Darüber hinaus kann die Fortdauer des Untersuchungshaftbefehls auch bei der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe gemäß Urteil des Amtsgerichts Niebüll zur Einschränkung von Lockerungen des Vollzugs führen. Es liegt somit zumindest ein dem in Art. 267 Abs. 4 AEUV genannten Fall des Freiheitsentzugs vergleichbarer Fall vor, jedenfalls aber ein Fall der Freiheitsbeschränkung (vgl. Nr. 36 der Empfehlungen des Europäischen Gerichtshofs an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen ABl. C 380 vom 8. November 2019, S. 1). Von der Entscheidung der Vorlagefrage hängt ab, ob der Untersuchungshaftbefehl zu Recht besteht. Würde die Vorlagefrage vom Gerichtshof – entgegen der Auffassung des vorlegenden Senats – verneint, so läge ein Vollstreckungshindernis vor, womit der Untersuchungshaftbefehl aufzuheben und die Überhaft zu löschen wäre.
Im Hinblick darauf ist nach Ansicht des Senats eine besondere Dringlichkeit gegeben, die die Anwendung des Eilvorlageverfahrens gemäß Art. 107 EuGHVfO erfordert.
Unterschriften
Sander, Schneider, König, von Schmettau, Fritsche
Fundstellen
Haufe-Index 13857722 |
NStZ-RR 2022, 368 |