Leitsatz (amtlich)
Zur Ausübung des der Landesjustizverwaltung für die Entscheidung über die Wiederbesetzung einer frei gewordenen Notarstelle zustehenden Ermessens in einem Bundesland, in dem es keine Richtwerte über das durchschnittliche Urkundenaufkommen gibt.
Normenkette
BNotO § 4
Verfahrensgang
OLG Rostock (Beschluss vom 18.09.2003) |
Tenor
Die sofortigen Beschwerden der Antragsteller gegen den Beschluss des Notarsenats des OLG Rostock v. 18.9.2003 werden zurückgewiesen.
Die Antragsteller haben die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen und die dem Antragsgegner im Beschwerderechtszug entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 50.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die fünf Antragsteller sind Notare in S. . Sie wenden sich gegen die vom Antragsgegner angeordnete Wiederbesetzung der am 11.4.2003 frei gewordenen sechsten Notarstelle im Amtsgerichtsbezirk S. .
Sie haben geltend gemacht, das Urkundsaufkommen der Notare in S. genüge - insbesondere bei drei der betroffenen Notariate - nicht mehr, um die Leistungsfähigkeit der Notariate und damit die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Notare zu gewährleisten. Die Wiederbesetzung der frei gewordenen Notarstelle widerspreche daher den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege.
Das OLG hat die Anträge auf gerichtliche Entscheidung zurückgewiesen. Es hat auch die damit einhergehenden Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Mit ihren Beschwerden verfolgen die Antragsteller das Begehren, die Besetzung einer sechsten Notarstelle in S. zu unterlassen, weiter.
II.
1. Die sofortigen Beschwerden sind zulässig (§ 111 Abs. 4 BNotO i. V. m. § 42 Abs. 4 BRAO). Das gilt auch für das Rechtsmittel der Antragstellerinnen zu 3 bis 5. Dieses ist zwar erst einen Tag nach Ablauf der zweiwöchigen Beschwerdefrist (8.10.2003), am 9.10.2003, beim OLG eingegangen. Den Antragstellerinnen zu 3 bis 5 ist indessen auf ihren Antrag durch gesonderten Senatsbeschluss vom heutigen Tage Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Beschwerdefrist gewährt worden.
2. Die weiteren Beschwerden sind jedoch unbegründet. Das OLG hat die Anträge - die der Sache nach auf Unterlassung der Wiederbesetzung der Notarstelle gerichtet waren, mit der Behauptung, die Lebensfähigkeit ihrer Notariate sei gefährdet (vgl. BGH, Beschl. v. 20.7.1998 - NotZ 31/97, MDR 1998, 563 = DNotZ 1999, 251 nicht abgedr., unter II 2a und b; Beschl. v. 18.9.1995 - NotZ 46/94, MDR 1996, 206 = DNotZ 1996, 902 [904] und v. 16.7.2001 - NotZ 7/01, MDR 2001, 1263 = BGHReport 2001, 902 = ZNotP 2001, 440 [441]) -, mit Recht zurückgewiesen. Die Antragsteller haben keinen Anspruch auf Unterlassung der Wiederbesetzung der sechsten Notarstelle in S. . Es kann nicht festgestellt werden, dass der Antragsgegner durch die Wiederbesetzung der freien Notarstelle die ihm durch § 4 BNotO gesetzten Grenzen seines Organisationsermessens überschreiten würde, weil diese Maßnahme nicht den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege entspräche.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. BGH, Beschl. v. 20.7.1998 - NotZ 31/97, MDR 1998, 563 = DNotZ 1999, 251 nicht abgedr., unter II 2a und b und Beschl. v. 16.7.2001 - NotZ 7/01, MDR 2001, 1263 = BGHReport 2001, 902 = ZNotP 2001, 440) hat die Landesjustizverwaltung bei der Ausübung des ihr eingeräumten Organisationsermessens nach § 4 BNotO subjektive Rechte von Amtsinhabern insoweit zu wahren, als jedem Notar zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgabe als unabhängiger und unparteiischer Berater ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu gewährleisten ist. Es dürfen nicht so viele Notarstellen geschaffen werden, wie gerade noch lebensfähig sind. Für eine bestehende, aber frei gewordene Stelle bedeutet dies, dass ihre Wiederbesetzung den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege nicht entspricht, wenn dadurch in einem Amtsgerichtsbezirk so viele Notarstelle besetzt wären, wie gerade noch oder nicht mehr lebensfähig wären. Diese untere Grenze bezieht sich auf Durchschnittszahlen im jeweiligen Amtsgerichtsbezirk, von der jede Bedürfnisprüfung ausgehen muss (BGH, Beschl. v. 16.7.2001 - NotZ 7/01, MDR 2001, 1263 = BGHReport 2001, 902 = ZNotP 2001, 440).
aa) Hat sich die Landesjustizverwaltung im Bereich der Bedürfnisprüfung nach § 4 BNotO durch eine ständige Übung oder Richtlinie gebunden, hat sie diese Prüfungsmaßstäbe grundsätzlich zu beachten (BGH, Beschl. v. 16.7.2001 - NotZ 7/01, MDR 2001, 1263 = BGHReport 2001, 902 = ZNotP 2001, 440). Derartige Richtzahlen ("Versorgungswerte" o.Ä.), durch die eine Selbstbindung der Verwaltung eingetreten wäre, gibt es in Mecklenburg-Vorpommern nicht. Es lässt sich entgegen dem in den Beschwerden erneuerten Vorbringen der Antragsteller auch nicht feststellen, dass die insoweit in anderen Bundesländern zu Grunde gelegten Richtzahlen (wohl zwischen 1.400 und 1.800 bereinigten Urkunden) Erfahrungswerte beinhalteten, aus denen sich ohne weiteres auf den hier betroffenen örtlichen Bereich übertragbare Rückschlüsse darauf, welches Urkundsaufkommen eine "lebensfähige" Notarpraxis haben muss, ergeben könnten. Zutreffend hat das OLG darauf verwiesen, dass die Zahl der Urkunden als solche nur eine begrenzte Aussagekraft haben kann, weil nicht so sehr die Anzahl der zu beurkundenden Vorgänge, sondern ihre Qualität und insbesondere der Gebührenwert aller Beurkundungen für das tatsächliche Einkommen der Notare und damit auch für die Wirtschaftlichkeit der Notariate entscheidend sind.
bb) Ausgehend hiervon hat das OLG mit Recht auf eine konkrete Beurteilung auf der Grundlage des jährlichen Urkundenaufkommens unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Gebührenaufkommens je Urkunde im betroffenen Amtsgerichtsbezirk S. einerseits und einer durchschnittlichen Kostenquote andererseits abgestellt.
Im Einzelnen rechnet das OLG wie folgt:
Bei einem durchschnittlichen Gebührenaufkommen in S. von 219,37 EUR pro Urkunde und einem durchschnittlichen Urkundenaufkommen im Jahre 2002 von 1.106,43 pro Notar (einschließlich des hier umstrittenen sechsten Notariats) errechne sich ein durchschnittliches Gebührenaufkommen von 272.717,54 EUR pro Notar. Bei Annahme einer Kostenquote von 70 % ergebe dies einen durchschnittlichen Gewinn vor Steuern von jährlich 72.815,27 EUR. Da dieser Wert allein auf der Grundlage der gegenüber der Ländernotarkasse mitzuteilenden abgabepflichtigen Beurkundungen errechnet worden sei, der einzelne Notar darüber hinaus jedoch weitere Gebühren erziele, müsse auch dieses "abgabenfreie" Gebührenaufkommen in das Rechenwerk einfließen. Lege man, wie von dem weiteren Beteiligten zu 2) geschätzt, unter diesem Gesichtspunkt weitere 35 % zu Grunde, so errechneten sich weitere jährliche Einkünfte von 25.465,34 EUR; bei 20 % (dem Ausgangspunkt des Antragsgegners) errechneten sich weitere 14.563,05 EUR. Danach ergebe sich für die S. 'er Notare ein jährliches Durchschnittseinkommen von 98.300,71 EUR bzw. 87.378,32 EUR, was einem monatlichen Gewinn vor Steuern von wenigstens 8.191,72 EUR bzw. 7.281,53 EUR entspreche. Bei einem zu versteuernden Gewinn von monatlich annähernd 8.200 EUR bzw. 7.300 EUR könne aber von einer Gefährdung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Notare in S. keine Rede sein. Ein solches Einkommen liege deutlich über dem Richtereingangsgehalt von R 1 (auch in der höchsten Altersstufe). Von einem Anspruch auf Einkommensergänzung seien sämtliche S. 'er Notare - auch die einkommensschwächsten - weit entfernt; dementsprechend seien solche Anträge bislang auch bei der Ländernotarkasse nicht gestellt worden. Einkünfte in der vorgenannten Höhe lägen zwar möglicherweise deutlich unter den Einkünften der vorausgegangenen Jahre. Die früheren Einkünfte seien jedoch nicht als solche schutzwürdig. Es bestehe auch unter Berücksichtigung von Art. 12 GG kein Anspruch der Notare auf gleich bleibend hohe Einkünfte. Es könne auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Antragsteller in den vergangenen gebührenstarken Jahren hätten Rücklagen bilden können, die sie in die Lage versetzten, bei einem nunmehr geringeren Einkommen möglichen Gefahren für ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu widerstehen. Umstände, die dieser Erwartung entgegenstehen könnten, seien nicht vorgetragen worden. Wie jeder "Freiberufler" müssten die in S. bestellten Notare konjunkturelle Schwankungen hinnehmen.
b) Der Senat als Beschwerdegericht tritt dieser Würdigung des OLG insbesondere in der Kernaussage bei, dass - durchschnittlich gesehen - die Leistungsfähigkeit und damit die wirtschaftliche Unabhängigkeit der S. 'er Notariate nicht beeinträchtigt ist. Bereits dies trägt das Ergebnis, dass die Entscheidung der Justizverwaltung, die sechste Notarstelle in S. nicht einzuziehen, sondern neu zu besetzen, als (ermessensfehlerfreie) Organisationsmaßnahme unangreifbar ist. Auf die weitere Erwägung des OLG, die Berechtigung der Entscheidung des Antragsgegners ergebe sich erst recht bei Berücksichtigung der Belange eines für das Nurnotariat unerlässlichen funktionierenden Assessorensystems, und auf die hiergegen gerichteten Angriffe der Beschwerden der Antragsteller kommt es danach nicht an.
c) Während der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren die in der angefochtenen Entscheidung des OLG vorgenommenen Gewinnberechnungen mit nachvollziehbarer Begründung als für die sechs Notariate in S. noch zu niedrig bezeichnet (siehe die ergänzende Berechnung auf S. 2 des Schriftsatzes v. 30.10.2003), stellen die Antragsteller in ihren Beschwerden diese Berechnungen des Oberlandesgerichts - mit Substanz - nicht infrage. Nur der Antragsteller zu 1) bestreitet das angenommene Gebührenaufkommen von 219,37 EUR pro Urkunde, ohne jedoch seinerseits konkrete Beträge zu nennen. Genauso unerheblich (unsubstanziiert) ist der Einwand des Antragstellers zu 1), die vom OLG angestellte Berechnung sei auch schon deshalb falsch, weil die an die Ländernotarkasse zu führenden Zwangsabgaben in der Berechnung nicht als gewinnmindernd berücksichtigt worden seien; auch insoweit fehlt es an konkreten Gegenrechnungen der Antragstellerseite.
Im Kern geht das Vorbringen der Beschwerde auch mehr in die Richtung, dass eine Zahl von (nur) 1.106 bereinigten Urkunden pro Notariat bereits für sich - also gleichsam "abstrakt" gesehen - zwingend dazu führen müsse, die frei gewordene Notarstelle in S. nicht wieder zu besetzen. Einen rechtlich zwingenden Grund gibt es für diese Auffassung aber nicht. Auch daraus, dass etwa in den anderen Bundesländern aus der Anwendung der dort existierenden Schlüsselzahlen eine andere Praxis, was die Behandlung frei gewordener Notarstellen angeht, folgen kann, ergibt sich für die Notare in Mecklenburg-Vorpommern (S.) keine der Entscheidung der Justizverwaltung entgegenstehende Rechtsposition, auch nicht, wie die Antragsteller meinen, im Blick auf Art. 3 GG. Angesichts der jeder Landesjustizverwaltung zustehenden eigenständigen Organisationsgewalt kann dieser Grundrechtsbestimmung nicht entnommen werden, dass bei der Frage, ob eine frei gewordene Notarstelle wieder besetzt werden soll, in allen Ländern dieselben Maßstäbe zu gelten haben.
III.
Der von den Antragstellern zu 1) und 2) gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat sich mit der Zurückweisung der sofortigen Beschwerde erledigt.
Fundstellen
Haufe-Index 1141281 |
BGHR 2004, 991 |
EBE/BGH 2004, 1 |
NJW-RR 2004, 861 |
DNotZ 2004, 887 |
MDR 2004, 846 |
NJ 2005, 192 |
ZNotP 2004, 326 |