Verfahrensgang
LG Ansbach (Entscheidung vom 16.05.2023; Aktenzeichen KLs 3041 Js 7699/22 jug) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ansbach vom 16. Mai 2023 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit „vorsätzlicher“ Körperverletzung, Sachbeschädigung und Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen, wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Körperverletzung, wegen Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen, wegen Bedrohung, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr und im anderen Fall in Tateinheit mit fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort, sowie wegen Sachbeschädigung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Diebstahl und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet und einen Vorwegvollzug der Maßregel vor der Strafe von zwei Jahren und drei Monaten bestimmt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Rz. 2
Das Rechtsmittel ist unbeschränkt eingelegt. Zwar soll nach dem Willen des Beschwerdeführers die Anordnung seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom Revisionsangriff ausgenommen werden. Die darin zum Ausdruck gekommene Beschränkung ist aber unwirksam, da sich das Rechtsmittel nicht nur gegen die rechtliche Würdigung, sondern auch gegen den gesamten Schuldspruch richtet. In einem solchen Fall kann nicht wirksam auf die Anfechtung der Unterbringung nach § 64 StGB verzichtet werden, da die Feststellung einer Symptomtat unerlässliche Voraussetzung der Maßregelanordnung ist (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juni 2018 - 4 StR 569/17 Rn. 4; Beschluss vom 26. August 2009 - 2 StR 302/09 Rn. 4 mwN).
II.
Rz. 3
1. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben.
Rz. 4
2. Der Rechtsfolgenausspruch kann insgesamt nicht bestehen bleiben, weil die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB, § 7 Abs. 1 JGG durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet und der Wegfall der Maßregel unter den hier gegebenen Umständen auch zur Aufhebung des Strafausspruchs nötigt.
Rz. 5
a) Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB, § 7 Abs. 1 JGG hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil der erforderliche (überwiegende) symptomatische Zusammenhang zwischen dem Hang des Angeklagten und der Anlasstat nicht festgestellt ist.
Rz. 6
aa) Der Senat hat insoweit die Vorschrift des am 1. Oktober 2023 in Kraft getretenen § 64 StGB in der Fassung vom 26. Juli 2023 (BGBl. I Nr. 203, S. 2) zugrunde zu legen, die strengere Anforderungen an die Annahme sowohl eines Hangs als auch eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen diesem und einer Anlasstat sowie an die Erfolgsprognose stellt. Die Neufassung ist mangels einer die Maßregelanordnung erfassenden Übergangsvorschrift gemäß § 2 Abs. 6 StGB, § 354a StPO im vorliegenden Fall anwendbar (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2023 - 6 StR 405/23 Rn. 6; Urteil vom 12. Oktober 2023 - 4 StR 136/23 Rn. 14).
Rz. 7
Nach § 64 Satz 1 StGB setzt die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt voraus, dass die vom Täter begangene rechtswidrige Tat überwiegend auf seinen Hang zurückgeht. „Überwiegend“ ursächlich ist der Hang für die Anlasstat, wenn dieser mehr als andere Umstände für die Begehung der Tat ausschlaggebend war; eine Mitursächlichkeit des Hangs für die Anlasstat unterhalb dieser Schwelle reicht für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals nicht mehr aus (vgl. BT-Drucks. 20/5913 S. 69).
Rz. 8
bb) Daran gemessen ist ein überwiegender Zusammenhang zwischen dem Hang des Angeklagten, Alkohol im Übermaß zu trinken, und den Anlasstaten nicht festgestellt.
Rz. 9
Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Hang des Angeklagten für die Begehung der Taten „auch mitursächlich“. Im Rahmen der Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen für die Maßregel hat es sich der Bewertung des von ihm gehörten Sachverständigen angeschlossen, wonach der Alkoholkonsum symptomatischen Charakter für die vom Angeklagten begangenen Taten habe. Die Vorfälle wiesen Wiederholungscharakter auf, da bereits die Vorahndungen gezeigt hätten, dass den Straftaten durch Alkohol der Weg gebahnt worden sei. Nach Einschätzung des Landgerichts erhöht der Einfluss von Alkohol in Verbindung mit der beim Angeklagten vorliegenden chronifizierten Sozialverhaltensstörung seine schon sehr hohe Gewaltbereitschaft weiter und spielt eine „ganz maßgebliche“ Rolle bei der Delinquenz des Angeklagten.
Rz. 10
Mit diesen Ausführungen ist eine überwiegende Verursachung der Taten durch den Hang des Angeklagten im Sinne von § 64 StGB nF nicht festgestellt. Denn die bloße Mitursächlichkeit oder selbst eine ganz maßgebliche Verursachung durch den Hang bedeutet noch nicht, dass der Hang mehr als andere festgestellte Ursachen (wie das Gefühl der Demütigung, die große Wut oder die Fremdaggressivität des Angeklagten bei der Kerndiagnose einer chronifizierten Sozialverhaltensstörung) für die Begehung der Anlasstaten ausschlaggebend war.
Rz. 11
cc) Damit kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass auch die Erfolgsaussichten der Maßregel gemäß § 64 Satz 2 StGB, § 7 Abs. 1 JGG nicht tragfähig begründet sind.
Rz. 12
Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ergeht nur gemäß § 64 Satz 2 StGB in der Fassung vom 26. Juli 2023, wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten ist, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Abs. 1 Satz 1 oder 3 StGB zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen. Maßgeblich für die erforderliche Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen prognoserelevanten Umstände ist der Zeitpunkt des tatrichterlichen Urteils (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2022 - 2 StR 132/22 Rn. 8).
Rz. 13
Derartige tatsächliche Anhaltspunkte zum Urteilszeitpunkt lassen sich - über die Bereitschaft des Angeklagten zur Therapie hinaus - den Urteilsgründen auch in ihrer Gesamtheit nicht entnehmen. Vielmehr hat der Sachverständige, dem sich das Landgericht angeschlossen hat, ausgeführt, wegen der chronifizierten Sozialverhaltensstörung des Angeklagten bestünden unbehandelt keine hohen Erfolgsaussichten in der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Auch das Landgericht ist im Rahmen der Prüfung des § 5 Abs. 3 JGG davon ausgegangen, dass die Erfolgsaussichten für eine Behandlung im Maßregelvollzug erst geschaffen werden müssten.
Rz. 14
dd) Durch den Wegfall der Maßregelanordnung kommt es auch nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass die vom Landgericht nicht näher begründete Dauer des Vorwegvollzugs von zwei Jahren und drei Monaten weder § 67 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 StGB in der bis 30. September 2023 noch in der seit 1. Oktober 2023 geltenden Fassung (BGBl. I Nr. 203 vom 26. Juli 2023, S. 2) entspricht.
Rz. 15
b) Die Aufhebung der Unterbringungsanordnung führt im vorliegenden Fall auch zur Aufhebung der Einheitsjugendstrafe, weil das Landgericht die Dauer der Jugendstrafe mit der prognostizierten Dauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verknüpft hat.
Rz. 16
Das Landgericht hat bei der Bemessung der Jugendstrafe angeführt, die ausgesprochene Strafe, insbesondere der angeordnete Vorwegvollzug von zwei Jahren und drei Monaten abzüglich der erlittenen Untersuchungshaft (von neun Monaten zum Urteilszeitpunkt), böte dem Angeklagten Möglichkeiten, zunächst seine Sozialverhaltensstörung zu therapieren, um dann in einem zweiten Schritt sein Suchtproblem im Rahmen der Maßregel des § 64 StGB therapieren zu können. Für die Sozialtherapie hat das Landgericht dem Sachverständigen folgend eine Dauer von zwölf bis 18 Monaten, für den Maßregelvollzug von 18 bis 24 Monaten für erforderlich erachtet. Die Strafe sei darüber hinaus so zu bemessen, dass der Angeklagte, wenn er die Sozialverhaltensstörung und sein Alkohol- und Cannabisproblem kuriert habe, seine neu erworbenen Fähigkeiten ohne weitere Einsperrung quasi sofort in einem Leben in Freiheit, gegebenenfalls unter Bewährung, umsetzen könne.
Rz. 17
Angesichts eines angeordneten Vorwegvollzugs von zwei Jahren und drei Monaten und einer prognostizierten Dauer des Maßregelvollzugs von bis zu zwei Jahren kann der Senat mit Blick auf die vom Landgericht angestellten Erwägungen und der darin hergestellten Verbindung zwischen der Maßregel und der Bemessung der Jugendstrafe nicht ausschließen, dass die verhängte Jugendstrafe von vier Jahren und drei Monaten auch auf der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt beruht.
Quentin |
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Fundstellen
Haufe-Index 16181660 |
StV 2024, 510 |