Entscheidungsstichwort (Thema)
Überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb Amazon
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Unternehmen hat eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb, wenn es über Größen- und Ressourcenvorteile und eine zentrale strategische Positionierung verfügt, die es ihm ermöglichen, erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter zu nehmen, oder die eigene Geschäftstätigkeit in immer neue Märkte und Sektoren auszuweiten. Eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb setzt nicht voraus, dass die Tätigkeit des betroffenen Unternehmens eine konkrete Gefahr für den Wettbewerb begründet oder ihn bereits beeinträchtigt.
2. Das Leistungsangebot eines Online-Marktplatzes ist aus der (objektiven) Sicht der gewerblichen Händler nicht mit dem stationären Vertrieb oder dem Vertrieb über den eigenen Online-Shop austauschbar, auch nicht bei ergänzender Nutzung von Softwaretools, Produkt- und Preisvergleichsdiensten, bezahlter Suchmaschinenwerbung, Werbung auf Social-Media-Plattformen und Suchmaschinenoptimierung.
3. Führt das Bedarfsmarktkonzept zu dem eindeutigen Ergebnis, dass es kein mit dem angebotenen Produkt vergleichbares anderes Produkt gibt, kann das Ergebnis eines Preisheraufsetzungstests (SSNIP-Test oder hypothetischer Monopolistentest) keine andere Beurteilung rechtfertigen.
4. § 19a Abs. 1 GWB ist eine Vorschrift des nationalen Wettbewerbsrechts im Sinn von Art. 1 Abs. 6 Satz 2 Buchst. b der Verordnung (EU) 2022/1925 (Digital Markets Act).
Normenkette
GWB § 19a Abs. 1; EUV 2022/1925 Art. 1 Abs. 6 S. 2 Buchst. b
Tenor
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Bundeskartellamts vom 5. Juli 2022 wird auf Kosten der Beschwerdeführerinnen zurückgewiesen, die auch die notwendigen Auslagen des Bundeskartellamts zu tragen haben.
Gründe
Rz. 1
A. Die Beschwerdeführerin zu 1 ist die Konzernobergesellschaft des Amazon-Konzerns; die Beschwerdeführerin zu 2 ist eine konzernangehörige deutsche Gesellschaft (die Beschwerdeführerin zu 1 einschließlich aller mit ihr im Sinn des § 36 Abs. 2 GWB verbundenen Unternehmen nachfolgend Amazon). Die Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen die Feststellung des Bundeskartellamts, Amazon komme eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zu.
Rz. 2
Amazon ist weltweit unter anderem im Bereich des E-Commerce, als stationärer Einzelhändler und als Anbieter von cloudbasierten informationstechnischen Dienstleistungen tätig. Der Konzern war zum 27. Dezember 2021 mit einer Marktkapitalisierung von 1,721 Billionen USD das fünftwertvollste Unternehmen der Welt, wobei der Börsenwert innerhalb der vorangegangenen sieben Jahre um etwa 443 % gestiegen war. Gemessen an den Umsätzen war Amazon 2020 das drittgrößte Unternehmen der Welt. Der Konzern erzielte im Geschäftsjahr 2021 weltweit Umsätze von rund 469,8 Mrd USD (397,28 Mrd EUR). Auf Deutschland entfielen davon rund 31,6 Mrd EUR. Damit war Deutschland auf den Umsatz bezogen nach den USA der zweitwichtigste Markt für Amazon. Die Umsätze sind in der Vergangenheit kontinuierlich gestiegen. Sie wiesen 2018 bis 2021 bezogen auf Deutschland und auch weltweit jährliche Wachstumsraten zwischen 17 % und 36 % auf. Die in Deutschland erzielten Umsätze erhöhten sich von 2012 bis 2021 um insgesamt 327 %.
Rz. 3
Die jährlichen Gewinne stiegen von weltweit 3 Mrd USD im Geschäftsjahr 2017 auf 33,4 Mrd USD in 2021, mithin um 1013 %. In den Jahren 2017 bis 2020 erwirtschaftete das Unternehmen weltweit einen aggregierten Operating Cash-Flow von 154 Mrd USD und einen Free Cash-Flow von 41 bis 85 Mrd USD (je nach Berechnungsweise) bei durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten von 55 % (Operating Cash-Flow) bis 62 % (Free Cash-Flow). Amazon gehört mit 1,6 Mio Mitarbeitern zum 31. Dezember 2021 zu den größten Arbeitgebern weltweit, wobei dies einem Wachstum um das 5,5-fache innerhalb von fünf Jahren entspricht.
Rz. 4
Im E-Commerce betreibt Amazon weltweit 21 länderspezifische Domains mit Handelsplattformen, unter anderem in den USA, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Spanien, Italien und den Niederlanden. Mit diesem Geschäftsbereich erzielte Amazon 2020 knapp EUR und damit etwa % der weltweiten Gesamtumsätze. Auf Deutschland entfielen EUR, was % der in Deutschland von Amazon erzielten Umsätze entspricht. Über die Handelsplattformen - in Deutschland amazon.de (diese Handelsplattform nachfolgend Amazon Store Deutschland, alle Handelsplattformen zusammen Amazon Store) - vertreibt Amazon als Einzelhändler physische und digitale Waren an Endkunden und bietet die Nutzung von digitalen Inhalten im Abonnement an. Gleichzeitig betreibt Amazon die Handelsplattformen auch als Online-Marktplätze und ermöglicht es dritten Online-Händlern gegen Zahlung einer pauschalen Monatsgebühr und Verkaufsprovisionen zwischen größtenteils 7 % und 15 %, ihre Waren Endkunden anzubieten (dieser Teil von Amazon Store nachfolgend Amazon Marketplace sowie auf Deutschland bezogen Amazon Marketplace Deutschland).
Rz. 5
Die Versendung der Waren erfolgt unter Nutzung einer eigenen Logistikinfrastruktur, die in Deutschland aus 21 Logistik-, Sortier- und Verteilzentren sowie einem Netz von Abholstationen besteht und in der Mitarbeiter beschäftigt sind. Dritthändler können Dienstleistungen - insbesondere Logistikdienstleistungen - hinzubuchen und diese auch außerhalb von Amazon Marketplace in Anspruch nehmen. Amazon vermittelt zudem Versanddienstleistungen von dritten Versandanbietern an die Dritthändler (Buy Shipping). Mit Amazon Marketplace einschließlich optionaler Angebote wie etwa Logistikdienstleistungen erzielte Amazon weltweit laut dem Geschäftsbericht 2021 weltweit 22 % der Gesamtumsätze (103,4 Mrd USD [87,43 Mrd EUR]) und in Deutschland 2020 Umsätze von rund EUR (etwa % der deutschen Gesamtumsätze). Bezogen auf das Gesamthandelsvolumen (Nettoumsätze ohne Versandkosten, Verpackungskosten und Erstattungen) aller gewerblichen Dritthändler auf den vom Bundeskartellamt befragten 15 deutschen Online-Marktplätzen (neben Amazon Otto, Zalando, idealo, eBay, Kaufland, check24, Alibaba Germany, ASOS Germany, Etsy Germany, Fairmondo, Hood Media, Lenando, Yatego, Sugartrends) ergab sich für Amazon 2019 und 2020 jeweils ein Anteil von über %, wobei das Gesamthandelsvolumen auch 2021 weiter anstieg. Daneben erreichte eBay 2019 einen Anteil von [30-40] % und 2020 von [20-30] %. Die übrigen Marktplätze hatten Anteile von [0-5] %. Auf Basis der Summe der Umsätze aus Online-Marktplatzdienstleistungen (Provisionen und Gebühren) der vom Bundeskartellamt befragten deutschen Online-Marktplätze belief sich der Anteil von Amazon 2019 und 2020 auf über [70-80] %. eBay hatte in beiden Jahren einen Anteil von [10-20] %; alle anderen Anteile lagen bei [0-5] %.
Rz. 6
Im zweiten Quartal 2021 verfügten weltweit und in Deutschland knapp Endkunden über Nutzerkonten im Amazon Store. Im Vergleich zu Amazon Store Deutschland entsprachen die aktiven (inländischen) Nutzerkonten (Nutzerkonten von Endkunden, die den Marktplatz im vom Bundeskartellamt abgefragten Zeitraum mindestens einmal besucht haben) von eBay im vierten Quartal 2020 [40-50] % der aktiven (inländischen) Nutzerkonten von Amazon. Die Anzahl der aktiven Nutzerkonten von Kaufland und Galeria Karstadt Kaufhof entsprach jeweils [30-40] % derjenigen von Amazon. Die aktiven Nutzerkonten der weiteren Marktplätze Otto und Zalando lagen mit [10-20] % und alle weiteren mit [0-10] % darunter. Die durchschnittliche Anzahl der monatlich aktiven Nutzer (Nutzer, die mindestens einmal im Monat eine Transaktion getätigt haben) des Amazon Store in der ersten Jahreshälfte 2021 belief sich auf Amazon Store Deutschland hatte 2019 durchschnittlich, 2020 und in der ersten Jahreshälfte 2021 monatlich aktive Nutzer. Die monatlich aktiven Nutzer auf dem deutschen Marktplatz von eBay entsprachen 2019 und 2020 [30-40] % derjenigen von Amazon. Die Zahl monatlich aktiver Nutzer der anderen Wettbewerber auf ihren deutschen Online-Marktplätzen erreichte in einem Fall [10-20] % und in allen anderen Fällen [0-10] % derjenigen auf Amazon Store Deutschland. Auf Amazon Marketplace waren etwa und 2021 Dritthändler aktiv. Dabei handelt es sich um Dritthändler, die im vom Bundeskartellamt abgefragten Zeitraum mindestens ein Produkt auf dem Marktplatz verkauft haben. Die Anzahl der aktiven Dritthändler von AliExpress, Etsy und eBay beliefen sich auf [120-130] %, [60-70] % und [50-60] % derjenigen von Amazon. Die weiteren Wettbewerber lagen mit [0-10] % darunter. Ceconomy AG nahm das Marktplatzgeschäft mit den Online-Marktplätzen von MediaMarkt und Saturn in Deutschland im Juli 2020 mit rund 900 Dritthändlern und etwa 700.000 gelisteten Artikeln auf. Zum 31. Dezember 2020 waren etwa Artikel im Amazon Store Deutschland erhältlich ( ). Davon wurden knapp Artikel (auch) von Amazon angeboten und etwa (nur) von Dritthändlern. Die Anzahl der auf dem deutschen eBay Marktplatz erhältlichen Artikel entsprach etwa [20-30] % derjenigen von Amazon Store Deutschland.
Rz. 7
Amazon ist ferner Hersteller und Verkäufer von Geräten zur Wiedergabe oder Übermittlung digitaler Inhalte wie dem Amazon Kindle, mit dem über Amazon bezogene eBooks gelesen werden können und der in Deutschland etwa monatlich aktive Nutzer hat, dem Tablet Amazon Fire mit etwa monatlich aktiven Nutzern, den Streaming-Media-Adaptern aus der Reihe Fire TV mit etwa monatlich aktiven Nutzern, bei denen Video- und Audioinhalte von Amazon über vorinstallierte Apps abgerufen und daneben auch Apps von Drittanbietern installiert werden können, sowie dem intelligenten Lautsprecher Amazon Echo mit etwa monatlich aktiven Nutzern. Amazon bietet digitale Dienste an wie etwa das Betriebssystem Fire OS, den Amazon Appstore oder die Online-Speicherdienste Amazon Drive und Amazon Photo. Amazon Alexa ist einer der drei führenden allgemeinen Sprachassistenten, der auf den Lautsprechern der Amazon Echo-Reihe vorinstalliert ist, aber auch auf anderen Geräten verwendet werden kann. Über Sprachbefehle können unter anderem Bestellungen über das Internet (insbesondere über Amazon Store) getätigt und Geräte wie Lichtschalter und Fernseher bedient werden (sogenanntes Internet of Things sowie SmartHome). Im SmartHome Bereich vertreibt Amazon unter den Marken Blink und Ring auch Geräte der Haussicherheitstechnik.
Rz. 8
Der Konzern bietet seinen auf Amazon Store mit einem Kundenkonto registrierten Kunden (nachfolgend Amazon Kunden) ein Abonnement für bestimmte Zusatzleistungen gegen eine pauschale Gebühr an (Amazon Prime). Die zusätzlichen Leistungen umfassen unter anderem einen kostenlosen Premiumversand sowie die sogenannte Same-Day-Lieferung, das Streaming von Filmen, Serien und Sportübertragungen, einen unbegrenzten Speicherplatz für Fotos, werbefreies Streaming von Songs und Podcasts, Vergünstigungen bei Amazon Music Unlimited, kostenlose eBooks und e-Magazine zum Download über Kindle-App oder Kindle-Reader, sowie exklusive und kostenlose Angebote für In-Game-Inhalte und Spiele bei Twitch. Weltweit belief sich in der ersten Jahreshälfte 2021 die Zahl der monatlich aktiven Nutzer von Prime Versand auf, von Prime Video auf etwa und von Prime Music auf etwa Am 30. Juni 2021 waren kostenpflichtige Amazon Prime Mitgliedschaften im Amazon Store Deutschland registriert; ferner bestanden knapp Probeabonnements (die Kunden, die über ein solches Abonnement verfügen, nachfolgend Amazon Prime Kunden). Etwa % des Gesamthandelsvolumens des Amazon Store Deutschland entfielen 2020 auf Amazon Prime Kunden.
Rz. 9
Amazon ist ferner in der Online-Werbung tätig (Amazon Advertising) und vertreibt Werbeflächen an Werbekunden, insbesondere auch auf Amazon Store. Auf Amazon Advertising entfielen 2020 % und 2021 % der weltweiten Umsätze. In Deutschland erzielte Amazon Advertising 2020 Umsatzerlöse von EUR, was einer entspricht. Amazon bietet schließlich auch Dienstleistungen bei der Zahlungsabwicklung (Amazon Pay) an. 13 % des weltweiten Gesamtumsatzes und 56 % der Konzerngewinne entfielen 2021 auf den Geschäftsbereich Amazon Web Services (Cloud-Computing). Geschäftskunden können internetbasierte Rechenkapazitäten auf Servern von Amazon in Anspruch nehmen, auf die über das Internet zugegriffen werden kann. Amazon betreibt ferner einen Online-Marktplatz für Softwarelösungen.
Rz. 10
Mit Beschluss vom 5. Juli 2022 hat das Bundeskartellamt gegenüber den Beschwerdeführerinnen festgestellt, dass Amazon eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb im Sinn des § 19a Abs. 1 GWB zukommt, und zugleich diese Feststellung auf fünf Jahre nach Eintritt der Bestandskraft befristet.
Rz. 11
Zur Begründung hat es ausgeführt, Amazon sei in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten tätig. Auf Amazon Marketplace sei Amazon Intermediär zwischen der Nutzergruppe der nicht mit Amazon verbundenen Einzelhändler als Anbietern von Waren auf der einen Seite und den Endkunden als Nachfragern auf der anderen Seite. Der erhebliche Umfang dieser Geschäftstätigkeit zeige sich schon an den damit erzielten Anteilen am Gesamtumsatz. Bei Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände sei die überragende marktübergreifende Bedeutung Amazons für den Wettbewerb festzustellen. Auf dem nationalen Markt für die Erbringung von Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler verfüge der Konzern über eine marktbeherrschende Stellung, jedenfalls aber über eine sehr starke Marktposition. Amazon sei auf einer Vielzahl von verschiedenen, durch vertikale Integration oder in sonstiger Weise konglomerat miteinander verbundenen Märkten tätig. Das gehe mit Verbundvorteilen einher und komme einem digitalen Ökosystem gleich. Amazons Tätigkeit insbesondere als Betreiber von Amazon Store sowie als Nachfrager, Anbieter und Vermittler von Logistikdienstleistungen und als Anbieter im Bereich des Internet of Things habe erhebliche Bedeutung für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten und erheblichen Einfluss auf ihre Geschäftstätigkeit. Der Konzern habe Zugang zu einem breiten Spektrum an vielfach nicht öffentlichen Daten, die das Unternehmen aggregiere und analysiere, um weitere nicht öffentlich bekannte Kennzahlen zu erhalten, und gehöre zu den umsatzstärksten, profitabelsten und wertvollsten Unternehmen weltweit, wobei die außergewöhnliche Steigerung der Kennzahlen in den letzten Jahren seine Wachstums- und Expansionsmöglichkeiten verdeutliche. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Inhalt des umfangreich begründeten Beschlusses vom 5. Juli 2022 Bezug genommen.
Rz. 12
Dagegen wenden sich die Beschwerdeführerinnen mit der Beschwerde. Sie halten § 73 Abs. 5 GWB für verfassungswidrig, weshalb es an der Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs fehle. § 19a GWB sei aus unionsrechtlichen Gründen unanwendbar. Die Vorschrift verstoße gegen Art. 1 Abs. 5 der Verordnung (EU) 2022/1925 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2022 über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor und zur Änderung der Richtlinien (EU) 2019/1937 und (EU) 2020/1828 (Gesetz über digitale Märkte; nachfolgend Digital Markets Act oder DMA). Es fehle zudem an der erforderlichen Notifizierung gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (nachfolgend Richtlinie 2015/1535) sowie gemäß Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (nachfolgend Richtlinie 2000/31). Die Beschwerdeführerinnen rügen unter Vorlage eines Gutachtens auch die Verfassungswidrigkeit von § 19a GWB und meinen, die Vorschrift verstoße zudem gegen Art. 16 und Art. 17 GRCh sowie Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK.
Rz. 13
Die Beschwerdeführerinnen halten die Tatbestandsvoraussetzungen des § 19a Abs. 1 GWB nicht für erfüllt. Amazon sei nicht in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten und Netzwerken tätig. Bei Amazon Store handele es sich nicht um einen mehrseitigen Markt im Sinn von § 19a Abs. 1 GWB. Da die mit den Dritthändlern erzielten Umsätze weniger als % des Gesamtumsatzes ausmachten, liege jedenfalls keine Tätigkeit in erheblichem Umfang vor.
Rz. 14
§ 19a GWB finde auf Amazon keine Anwendung, weil der Konzern kein digitales Geschäftsmodell mit einem digitalen Ökosystem betreibe und insbesondere keine sogenannte Gatekeeper-Stellung innehabe. Netzwerkeffekte seien nicht von Bedeutung, weil sowohl Endkunden als auch Dritthändler auf mehreren Plattformen tätig seien und zahlreiche weitere Einkaufsmöglichkeiten und Vertriebskanäle nutzten. Das Bundeskartellamt habe die von Amazon vorgelegten empirischen Nachweise übergangen (die Anlagen 4, 23 bis 36 nachfolgend Amazon Buyer Survey, die Anlagen 6, 8 - 12, 21 und 37 nachfolgend Amazon Seller Survey, vgl. auch Compass-Lexecon, https://storage.googleapis.com/compass-lexecon-assets/legacy/2022/07/Survey-Evidence-on-User-Multi-Homing-in-Online-Retail-Businesses.pdf, S. 18 und S. 23, zuletzt abgerufen am 10. Mai 2024, die Anlagen 5, 7 und 38 nachfolgend Amazon Seller Survey (Auswertung), sowie die Anlage 133 nachfolgend Amazon Seller Survey (Auswertung 2023)). Amazons Angebote, einschließlich Amazon Prime und der Logistikdienstleistungen, seien nicht komplementär im wettbewerbsökonomischen Sinn, erhöhten die Wechselkosten nicht und erzeugten keine Lock-In-Effekte. Im Logistikbereich habe der Markteintritt von Amazon zu mehr Wettbewerb geführt. Das Geschäftsmodell von Amazon Advertising unterscheide sich grundlegend von Internet-Suchmaschinen und sozialen Netzwerken, deren Einnahmequelle im wesentlichen Werbung sei. Die behauptete wettbewerbliche und marktübergreifende Relevanz von Amazon Web Services sei weder begründet noch belegt.
Rz. 15
Die Finanzkraft des Konzerns sei kein Wettbewerbsvorteil, der Amazon einen vom Wettbewerb nicht kontrollierten Handlungsspielraum verschaffe. In Bezug auf die Datenverfügbarkeit unterscheide sich die Position von Amazon qualitativ nicht von derjenigen der Wettbewerber. Diese hätten keinen Datennachteil. Etwaige Datenvorteile gegenüber den auf Amazon Marketplace tätigen Dritthändlern würden dadurch ausgeglichen, dass Amazon sie durch das Teilen von Informationen in die Lage versetze, ihr Geschäft auszubauen. Die Geschäftstätigkeit von Amazon sei für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten nicht relevant. Amazon übe keine Vermittlungs- oder Regelsetzungsmacht aus, weil Händler Kunden über zahlreiche Vertriebskanäle erreichen könnten, wie auch die Kunden zahlreiche Einkaufsmöglichkeiten wie stationäre Ladengeschäfte, Online-Shops und andere Online-Marktplätze nutzten. Es werde keine Gatekeeper-Stellung dadurch begründet, dass Amazon die für Amazon Store geltenden Geschäftsbedingungen festlege. Die von Amazon für den Kundenservice entwickelten Standards machten seinen Markenkern aus. Einheitliche Regeln hinsichtlich der Service- und Leistungsqualität und ihre Durchsetzung seien in einem hoch-frequentierten Online-Marktplatz notwendig. Die Hervorhebung eines bestimmten Angebots (sogenanntes Featured Offer), die angewendeten Ranking-Prozesse und Preiskontrollmechanismen, Amazons Herstellerrichtlinie sowie Zertifizierungs- und Qualitätsanforderungen in Bezug auf den Sprachassistenten Alexa und andere Geräte und Dienste seien kein Ausdruck von Regelsetzungsmacht, sondern jeweils durch sachliche Gründe veranlasst.
Rz. 16
Amazon habe keine marktbeherrschende Stellung auf dem nationalen Markt für die Erbringung von Online-Marktplatzdienstleistungen. Das Bundeskartellamt habe den Markt in sachlicher und räumlicher Hinsicht unrichtig abgegrenzt, so dass der berechnete Marktanteil unzutreffend sei. Wettbewerber könnten ohne Weiteres in das Marktplatzgeschäft einsteigen und leicht expandieren. Die Schwarz-Gruppe - das größte Einzelhandelsunternehmen in Europa und das viertgrößte der Welt - habe unterschiedliche Angebote auf den Markt gebracht, die mit denen von Amazon im Wettbewerb stünden. Der vom Bundeskartellamt vorgenommene Vergleich des Handelsvolumens von Amazon mit dem der 15 vom Bundeskartellamt befragten deutschen Online-Marktplätze sei nicht tragfähig, da wichtige Marktteilnehmer, insbesondere weitere Online-Händler mit Marktplatzfunktion, nicht in die Befragung einbezogen worden seien.
Rz. 17
Jedenfalls aber werde § 19a GWB durch die zwischenzeitlich am 5. September 2023 erfolgte Benennung von Amazon als Torwächter gemäß Art. 3 DMA sowie die infolgedessen seit dem 7. März 2024 für die Vermittlungsplattformen Amazon Marketplace und Amazon Advertising geltenden Vorschriften des Digital Markets Act verdrängt (Kommission, Beschluss vom 5. September 2023 - C (2023) 6104 final, DMA.100018 Amazon - online intermediation services - marketplaces, DMA.100016 Amazon - online advertising services). Die Sachlage habe sich seit Erlass des Beschlusses durch die Verhaltenspflichten, denen Amazon nach dem Digital Markets Act unterliege, sowie durch die von Amazon abgegebenen Zusagen in den gegen den Konzern wegen Verstößen gegen Art. 102 AEUV von der Europäischen Kommission geführten Verfahren geändert (Case COMP/AT.40462 and Case COMP/AT.40703 - Amazon, Commitments to the European Commission; Kommissionsentscheidung vom 20. Dezember 2022 - AT.40462/AT.40703 - Amazon Marketplace/Amazon Buy Box).
Die Beschwerdeführerinnen beantragen,
den Beschluss des Bundeskartellamts vom 5. Juli 2022 - B 2-55/21 - aufzuheben.
Rz. 18
Das Bundeskartellamt beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Rz. 19
Das Bundeskartellamt verteidigt seinen Beschluss und tritt den Beschwerdeangriffen im Einzelnen entgegen.
Rz. 20
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des umfangreichen Vortrags der Beteiligten wird auf die Streitakte mit den Niederschriften über die mündliche Verhandlung, die von den Beteiligten vorgelegten Gutachten, Beweismittel und Unterlagen sowie die Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Rz. 21
B. Die gemäß § 73 Abs. 1 und 2, § 74 GWB statthafte und zulässige Beschwerde, für deren Entscheidung der Bundesgerichtshof zuständig ist (nachfolgend unter I), hat keinen Erfolg. Das Bundeskartellamt hat § 19a Abs. 1 GWB materiell- und verfahrensrechtlich fehlerfrei angewendet (nachfolgend unter II und III). Der Wirksamkeit von § 19a Abs. 1 GWB stehen weder unionsrechtliche Gründe entgegen (nachfolgend unter IV), noch bestehen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift oder ihre Vereinbarkeit mit der EU-Grundrechtecharta sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention (nachfolgend V).
Rz. 22
I. Der Bundesgerichtshof ist gemäß § 73 Abs. 5 Nr. 1 GWB für die Entscheidung über die Beschwerde zuständig. Danach entscheidet er als Beschwerdegericht im ersten und letzten Rechtszug über sämtliche Streitigkeiten gegen Verfügungen des Bundeskartellamts nach § 19a GWB. Das begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere verstößt § 73 Abs. 5 Nr. 1 GWB nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Anregung der Beschwerdeführerinnen, das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG einzuholen, ist daher nicht zu folgen.
Rz. 23
1. Der rechtliche Rahmen für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Zuständigkeitsnorm des § 73 Abs. 5 GWB ergibt sich aus Art. 92, 95 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, die obersten Gerichtshöfe gemäß Art. 95 Abs. 1, die sonstigen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt. Aus diesen Regelungen und dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG folgt nicht, dass die obersten Gerichtshöfe des Bundes nur Rechtsmittelgerichte sein können. Zwar müssen sie grundsätzlich als Rechtsmittelgerichte letzter Instanz eingerichtet werden. Aus sachlichen Gründen kann ihnen aber ausnahmsweise auch eine erstinstanzliche Zuständigkeit eingeräumt werden. Ein sachlicher Grund, der die Zuständigkeitsregelung zugleich mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigt, kann etwa vorliegen, wenn Verwaltungsakte bestimmter oberster Bundesbehörden oder Entscheidungen vergleichbarer Hoheitsträger angegriffen werden, die von überregionaler oder allgemeiner grundsätzlicher Bedeutung sind oder einer raschen endgültigen Klärung ihres Rechtsbestands bedürfen (BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2008 - 9 A 14/07, BVerwGE 131, 274 [juris Rn. 30 bis 32]). Bei der Beurteilung, ob die danach bestehenden Voraussetzungen erfüllt sind, hat der Gesetzgeber einen weiten Einschätzungsspielraum. Seine Entscheidung darf nur dann beanstandet werden, wenn sie offensichtlich fehlerhaft oder evident unsachlich ist (BVerwG, ebenda Rn. 33).
Rz. 24
2. Nach diesen Maßgaben ist die Regelung des §73 Abs. 5 Nr. 1 GWB nicht zu beanstanden.
Rz. 25
a) Die am 19. Januar 2021 in Kraft getretene Regelung des § 19a GWB dient der Modernisierung und Stärkung der wettbewerbsrechtlichen Missbrauchsaufsicht. Nach Absatz 1 der Vorschrift kann das Bundeskartellamt durch Verfügung feststellen, dass einem Unternehmen, das in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten gemäß § 18 Abs. 3a GWB tätig ist, eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt. Ist eine solche Feststellung erfolgt, kann das Bundeskartellamt dem Unternehmen die in § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 7 GWB genannten Verhaltensweisen untersagen, wenn das Unternehmen nicht gemäß Absatz 2 Satz 2 und 3 der Vorschrift darlegt und erforderlichenfalls nachweist, dass die jeweilige Verhaltensweise sachlich gerechtfertigt ist. Die Vorschrift soll den Wettbewerb vor dem besonderen Gefährdungspotential von einigen wenigen (großen) Unternehmen der Digitalökonomie schützen, die eine besondere Wettbewerbsstellung auf digitalen Märkten innehaben [Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen für ein fokussiertes, proaktives und digitales Wettbewerbsrecht 4.0 und anderer wettbewerbsrechtlicher Bestimmungen (GWB-Digitalisierungsgesetz), BT-Drucks. 19/23492 vom 19. Oktober 2020, S. 73; Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 34, 38]. Die digitalen Möglichkeiten der Speicherung, Übertragung, Aggregation und Auswertung von zuvor nicht vorstellbaren Datenmengen und der darauf beruhende, sich in großer Geschwindigkeit vollziehende technische Fortschritt haben unter anderem zu neuen - digitalen - Geschäftsmodellen, wie etwa digitalen Märkten und damit einhergehend zu einer besonderen Machtstellung einiger Unternehmen der Digitalökonomie geführt, der durch die neue Vorschrift begegnet werden soll (vgl. auch Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BT-Drucks. 18/10207 vom 7. November 2016, S. 1, 38 f.).
Rz. 26
b) § 73 Abs. 5 GWB trägt dem besonderen Interesse an einer raschen und abschließenden gerichtlichen Klärung der mit Verfahren gemäß nach § 19a GWB verbundenen Rechtsfragen Rechnung (Beschlussempfehlung und Bericht zum GWB-Digitalisierungsgesetz, BT-Drucks. 19/25868 vom 13. Januar 2021, S. 119).
Rz. 27
aa) Die Geschwindigkeit der durch die Digitalisierung bewirkten Veränderungen zählt zu den besonderen Herausforderungen des Staates im Umgang mit der Digitalökonomie. Wettbewerbsvorteile, die Unternehmen einmal erlangt haben, können sich auf digitalen Märkten immer weiter verstärken. Für einen wirksamen Wettbewerbsschutz ist es daher von zentraler Bedeutung, dass Wettbewerbsbehörden dort, wo das Marktverhalten eines marktmächtigen Unternehmens eine wettbewerbswidrige Behinderungs- oder Verdrängungswirkung entfalten kann, schnell und effektiv eingreifen können (BT-Drucks. 19/25868, S. 119 f.; vgl. Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 252). Im Unterschied zur bestehenden Missbrauchsaufsicht erfasst § 19a GWB nur einen sehr kleinen Kreis möglicher Adressaten. Diese unterscheiden sich typischerweise von anderen Normadressaten (nur) der §§ 19, 20 GWB, als bei ihnen nach § 19a Abs. 1 GWB festzustellen ist, dass sie bereits über besondere Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, die ihnen die Ausweitung ihrer marktübergreifenden Machtstellung erlauben. Es handelt sich um Fälle, denen in qualitativer Hinsicht aus wettbewerbspolitischer Sicht eine überragende Bedeutung zukommt, und in denen die Gefahr besteht, dass eine Vermachtung weiterer Märkte sehr schnell erfolgt. Ein behördliches Eingreifen kann daher nur die zum Schutz des Wettbewerbs erforderliche Wirksamkeit erlangen, wenn die entsprechenden kartellbehördlichen Verfügungen auch umgesetzt werden können (BT-Drucks. 19/25868, S. 120).
Rz. 28
bb) Die sofortige Vollziehbarkeit kartellbehördlicher Entscheidungen stellt den beabsichtigten Schutz des Wettbewerbs nach Auffassung des Gesetzgebers nicht ausreichend wirksam sicher. Bei Ausnutzung des Instanzenzugs kann die Entscheidung über Anträge auf deren Aussetzung wegen der komplexen Sachverhalte und ungeklärten Rechtsfragen, unter anderem im Hinblick auf die Einführung des neuen Marktmachtkonzepts der überragenden marktübergreifenden Bedeutung eines Unternehmens für den Wettbewerb (vgl. Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, aaO, § 19a Rn. 15), über ein Jahr erfordern und in den Instanzen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 ff. - Facebook I). Selbst wenn eine abschließende Entscheidung getroffen worden ist, kann ein neuer Aussetzungsantrag gestellt werden. Auf diese Weise kann die Vollziehbarkeit über Jahre ohne gerichtliche Klärung bleiben (BT-Drucks. 19/25868, S. 121).
Rz. 29
cc) Auch aufgrund der besonderen Normenstruktur von § 19a GWB ist nach der Gesetzesbegründung ein einstufiger Rechtsweg sachgerecht. Da die Feststellung der Normadressateneigenschaft und die Untersagung bestimmter Verhaltensweisen in getrennten Verfügungen erfolgen können, soll ein mögliches Auseinanderfallen der jeweiligen Verfahren in unterschiedlichen Instanzen mit der Folge erheblicher Verzögerungen vermieden werden (BT-Drucks. 19/25868, S. 121).
Rz. 30
dd) Die Zuständigkeitskonzentration beim Bundesgerichtshof soll vor dem Hintergrund fehlender Präzedenzfälle zudem die zeitnahe Sachverhaltsaufklärung fördern. Die Zuweisung umfasst quantitativ nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine sehr begrenzte Anzahl von Fällen. Die erstinstanzliche Zuständigkeit beschränkt sich daher ersichtlich auf Ausnahmefälle (BT-Drucks. 19/25868, S. 121).
Rz. 31
c) Danach ist die Zuweisung der erst- und letztinstanzlichen Zuständigkeit an den Bundesgerichtshof sachlich gerechtfertigt. Die Beschwerde zeigt auch weder auf, dass die Einschätzung des Gesetzgebers offensichtlich fehlerhaft oder evident unsachlich ist, noch ist das ersichtlich. Soweit sie beanstandet, dass ein schneller Verfahrensabschluss wegen der sofortigen Vollziehbarkeit der Verfügungen nach § 19a Abs. 1 GWB nicht erforderlich sei, lässt sie die Gesetzesbegründung im Hinblick auf etwaige Anträge auf Aussetzung der Vollziehbarkeit sowie die Möglichkeit, dass eine solche von der ersten Instanz zunächst angeordnet wird (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 ff. - Facebook I), unerwähnt. Auch mit den Einwänden, die Rechtswegverkürzung liefere keinen Mehrwert, zu sich widersprechenden Entscheidungen könne es auch bei einem Instanzenzug wegen der letztinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs nicht kommen, und bei der Gefahr einer unnötigen Sachaufklärung handele es sich um ein allgemeines kartellrechtliches Problem, das nur auf eine andere, ansonsten nicht für die Sachaufklärung zuständige Instanz verlagert werde, zeigt sie weder eine offensichtlich fehlerhafte Einschätzung des Gesetzgebers in Bezug auf das von ihm verfolgte Ziel einer raschen und abschließenden Klärung der mit solchen Verfahren verbundenen Rechtsfragen auf, noch ergibt sich daraus, dass es nicht erreicht werden kann.
Rz. 32
3. Die mit der Zuweisung an den Bundesgerichtshof verbundene Verkürzung des Rechtswegs auf nur eine Instanz verstößt nicht gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG oder das allgemeine Rechtsstaatsprinzip. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert den Zugang zu Gericht, gewährt aber keinen Anspruch auf einen Instanzenzug (BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2008 - 9 A 14/07, BVerwGE 131, 274 [juris Rn. 40 mwN]). Auch die Wirksamkeit der Rechtsschutzgewährung wird dadurch nicht in Frage gestellt (BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2008 - 9 A 14/07, BVerwGE 131, 274 [juris Rn. 40 mwN]).
Rz. 33
II. Der angefochtene Beschluss ist materiell rechtmäßig, insbesondere ermessensfehlerfrei ergangen. Die von den Beschwerdeführerinnen gerügten materiell-rechtlichen Mängel liegen nicht vor. Das Bundeskartellamt hat gemäß § 19a Abs. 1 GWB zutreffend angenommen, dass Amazon in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten gemäß § 18 Abs. 3a GWB tätig ist (nachfolgend 1 und 2) und dem Konzern eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt (nachfolgend 3). Der Beschluss, für dessen Rechtmäßigkeit es auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt, ist nicht durch zwischenzeitliche Sachverhaltsänderungen rechtswidrig geworden (nachfolgend 4). Auch seine Befristung ist rechtmäßig und ermessensfehlerfrei (nachfolgend 5).
Rz. 34
1. Amazon ist auf mehrseitigen Märkten gemäß § 18 Abs. 3a GWB tätig.
Rz. 35
a) Ein mehrseitiger Markt oder der damit synonym verwendete Begriff der Plattform (vgl. BT-Drucks. 18/10207, S. 47) ist ein Markt, auf dem mindestens zwei unterschiedliche Nutzergruppen zusammenkommen. Dadurch entstehen (positive) indirekte Netzwerkeffekte, wenn sich für jede Nutzergruppe ein Zusatznutzen dadurch ergibt, dass die Zahl der Nutzer der anderen Nutzergruppe steigt. Indirekte Netzwerkeffekte können mit der zunehmenden Größe einer Plattform wachsen und sich verstärken (BT-Drucks. 18/10207, S. 49 f.; BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 42 - Facebook I; Monopolkommission, Policy Brief Ausgabe 4, Januar 2020, S. 2; Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 18a GWB Rn. 46 ff., 51 ff.; Götting in BeckOK Kartellrecht, Stand 1. Juni 2020, § 18a GWB Rn. 62). Der Betrieb einer Vermittlungsplattform gemäß § 18 Abs. 3b GWB, auf der der Intermediär auch als Nutzer und mithin in einer Doppelrolle tätig ist, ist eine Tätigkeit "auf" mehrseitigen Märkten (vgl. zur Intermediärsmacht Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 150a ff.). Der Gesetzgeber wollte mit § 19a GWB gerade auch die Gefahren für den Wettbewerb adressieren, die sich aus einer außerordentlich starken Stellung des Intermediärs ergeben (Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 34, 38, 49 f.).
Rz. 36
b) Amazon betreibt Amazon Marketplace und damit eine Plattform, auf der Dritthändler und Endkunden zusammenkommen. Je mehr Endkunden Amazon Store - auch wegen der hybriden Verknüpfung mit dem dort ebenfalls von Amazon betriebenen Einzelhandelsgeschäft - aufsuchen, desto attraktiver wird es für Dritthändler, ihre Produkte über Amazon Marketplace anzubieten, und dafür eine Grundgebühr und Umsatzprovisionen an Amazon zu zahlen. Amazon vermittelt zudem - auch in Deutschland - Versandaufträge zwischen der Nutzergruppe der dritten Online-Händler und der Nutzergruppe der Versanddienstleister (Buy Shipping) und Werbeflächen zwischen Anbietern von Werbeflächen und Werbekunden (Amazon Advertising).
Rz. 37
2. Die Tätigkeit von Amazon auf mehrseitigen Märkten weist einen erheblichen Umfang im Sinn von § 19a Abs. 1 Satz 1 GWB auf.
Rz. 38
a) Das Kriterium der Erheblichkeit soll sicherstellen, dass von der Vorschrift keine Unternehmen erfasst werden, bei denen die Tätigkeit als Plattform oder Netzwerk im Vergleich zu ihrer sonstigen Tätigkeit nur eine vollkommen untergeordnete Rolle spielt, oder die auf den betreffenden Märkten im Vergleich zu ihren Wettbewerbern nur eine untergeordnete Bedeutung haben (BT-Drucks. 19/23492, S. 74; vgl. auch Wagner-von Papp in BeckOK Kartellrecht, Stand 1. April 2024, § 19a GWB Rn. 38; Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a GWB Rn. 18). Der Vergleich mit den Wettbewerbern setzt nach dem Sinn und Zweck der Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb keinen auf bestimmte Märkte bezogenen Vergleich und folglich auch keine Marktabgrenzung voraus (BT-Drucks. 19/25868, S. 113; Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 89 f.).
Rz. 39
b) Nach diesen Maßgaben hat das Bundeskartellamt zutreffend angenommen, dass die Tätigkeit von Amazon auf mehrseitigen Märkten sowohl bezogen auf die erzielten Umsätze als auch bezogen auf die aktiven Endnutzer und aktiven gewerblichen Nutzer von Amazon Marketplace weltweit und in Deutschland einen erheblichen Umfang aufweist. Aus den getroffenen Feststellungen zu den mit den Vermittlungsdienstleistungen einschließlich der Logistikdienstleistungen auf Amazon Marketplace sowie mit Amazon Advertising weltweit und in Deutschland erzielten Umsätzen, der Anzahl der aktiven Dritthändler, der monatlich sowohl weltweit als auch in Deutschland aktiven Nutzer und der Zahl der auf Amazon Marketplace als Teil von Amazon Store von Dritthändlern angebotenen Artikel ergibt sich, dass die Tätigkeit von Amazon auf mehrseitigen Märkten nicht von vollkommen untergeordneter Bedeutung ist. Auch kann auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht angenommen werden, dass das Unternehmen im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Dies zeigt sich etwa daran, dass Amazon laut seiner Mitteilung an die Europäische Kommission vom 3. Juli 2023 in den Geschäftsjahren 2020 bis 2022 mindestens 45 Millionen in der Europäischen Union niedergelassene oder aufhältige monatlich aktive Endnutzer und mindestens 10.000 in der Europäischen Union niedergelassene jährlich aktive gewerbliche Nutzer jeweils auf den in jedenfalls drei Mitgliedstaaten bereitgestellten Plattformen Amazon Marketplace und Amazon Advertising hatte (vgl. Kommissionsentscheidung vom 5. September 2023 - C(2023) 6104 final, DMA.100018 Amazon - online intermediation services - marketplaces, DMA.100016 Amazon - online advertising services Rn. 23, 38 f., die nationalen Handelsplattformen in Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Polen, Spanien und Schweden betreffend).
Rz. 40
c) Die Ansicht der Beschwerdeführerinnen, ein erheblicher Umfang der Tätigkeit auf mehrseitigen Märkten im Sinn des § 19a GWB liege nicht vor, weil die mit Amazon Marketplace und Amazon Advertising erzielten Umsätze weniger als 30 % des Gesamtumsatzes ausmachten und Amazons vorrangiges Geschäft der Einzelhandel sei, trifft demgegenüber nicht zu. Erheblichkeit im Sinn von § 19a Abs. 1 Satz 1 GWB ist nach dem Ausgeführten nicht erst dann gegeben, wenn mit der Tätigkeit auf mehrseitigen Märkten mindestens 30 % der Gesamtumsätze erzielt werden. Eine "vollkommen untergeordnete" Bedeutung kann bei Umsatzanteilen von 22 % (Amazon Marketplace weltweit 2021) sowie % (Amazon Marketplace Deutschland 2020) der jeweiligen Gesamtumsätze nicht angenommen werden. Die gemeinsamen Umsätze von Amazon Marketplace und Amazon Advertising ( % der weltweiten Gesamtumsätze 2021) erreichen zudem % der weltweiten Gesamtumsätze.
Rz. 41
3. Zu Recht hat das Bundeskartellamt festgestellt, dass Amazon eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb im Sinn von § 19a Abs. 1 Satz 1 GWB zukommt.
Rz. 42
a) Bei der Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung eines Unternehmens für den Wettbewerb sind gemäß § 19a Abs. 1 Satz 2 GWB insbesondere zu berücksichtigen seine marktbeherrschende Stellung auf einem oder mehreren Märkten (Nr. 1), seine Finanzkraft oder sein Zugang zu sonstigen Ressourcen (Nr. 2), seine vertikale Integration und seine Tätigkeit auf in sonstiger Weise miteinander verbundenen Märkten (Nr. 3), sein Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten (Nr. 4) und die Bedeutung seiner Tätigkeit für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten sowie sein damit verbundener Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter (Nr. 5). Diese bei der erforderlichen Gesamtabwägung (vgl. BT-Drucks. 19/23492, S. 75) heranzuziehenden Kriterien sind nicht abschließend ("insbesondere"). Die Feststellung nach § 19a Abs. 1 GWB setzt weder voraus, dass sie alle gleichermaßen erfüllt sind, noch kommt der Reihenfolge ihrer Nennung Bedeutung zu (BT-Drucks. 19/23492, S. 75; Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 105; Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a GWB Rn. 21; Wagner-von Papp in BeckOK Kartellrecht, Stand 1. April 2024, § 19a GWB Rn. 39; vgl. auch Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 107 ff.). Die Kriterien geben ein Prüfprogramm für die Beurteilung vor, ob ein auf mehrseitigen Märkten in erheblichem Umfang tätiges Unternehmen über Ressourcen verfügt und eine strategische Positionierung erreicht hat, die es ihm ermöglicht, erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter zu nehmen, oder die eigene Geschäftstätigkeit in immer neue Märkte und Sektoren auszuweiten, und das daher über die besonderen Gefährdungspotentiale verfügt, die durch die Vorschrift adressiert werden sollen (BT-Drucks. 19/23492, S. 73 ff.).
Rz. 43
aa) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen setzt die Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung gemäß § 19a Abs. 1 GWB nicht voraus, dass die Tätigkeit des betroffenen Unternehmens eine konkrete Gefahr für den Wettbewerb begründet oder ihn bereits beeinträchtigt.
Rz. 44
(1) Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich ein solches Erfordernis nicht. Die gemäß § 19a Abs. 1 Satz 2 GWB bei der erforderlichen Gesamtabwägung heranzuziehenden Kriterien knüpfen an die Eigenschaften und nicht an ein bestimmtes Marktverhalten des Unternehmens an und haben überwiegend beschreibenden Charakter. Sie stellen lediglich auf die strategischen und wettbewerblichen Möglichkeiten des Unternehmens ab. Auch die Gesetzesbegründung nimmt (nur) die Fähigkeit des Unternehmens in den Blick, wettbewerbliche Vorteile zu erzielen oder Marktzugänge zu kontrollieren (vgl. BT-Drucks. 19/23492, S. 73, 74 f.). Eine Feststellung gemäß § 19a Abs. 1 GWB enthält lediglich eine Beurteilung der wettbewerblichen Möglichkeiten des betroffenen Unternehmens, keine Bewertung seines Marktverhaltens.
Rz. 45
(2) Das Erfordernis einer konkreten Gefahr für den Wettbewerb entspricht auch weder Sinn und Zweck des § 19a Abs. 1 GWB noch der systematischen Stellung der Vorschrift.
Rz. 46
(a) § 19a GWB soll dem Bundeskartellamt eine effektivere Kontrolle derjenigen großen Digitalkonzerne ermöglichen, denen eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt. Die Vorschrift zielt auf einen kleinen Kreis von Unternehmen, die nicht nur häufig eine beherrschende Stellung auf einzelnen Plattform- und Netzwerkmärkten gemäß § 18 Abs. 3a GWB innehaben, sondern deren Ressourcen und strategische Positionierung ihnen ermöglichen, erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter zu nehmen sowie die eigene Geschäftstätigkeit in immer neue Märkte und Sektoren auszuweiten (BT-Drucks. 19/23492, S. 73). Eine solche überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb erfordert nach der Gesetzesbegründung eine besondere Missbrauchsaufsicht, die nicht nur an eine auf Einzelmärkten bereits vorliegende Marktbeherrschung und daraus entstehende Verhaltensspielräume anknüpft, sondern den Wettbewerbsprozess auch im Hinblick auf noch nicht beherrschte Märkte weitergehend schützen kann. Begründet wird dies zum einen damit, dass Märkte der digitalen Wirtschaft insbesondere aufgrund von Netzwerkeffekten, Datenvorteilen und damit verbundenen Selbstverstärkungseffekten starke und schnell einsetzende Konzentrationstendenzen aufweisen können, was bei Fehlentwicklungen ein frühzeitiges Eingreifen erfordert. Diese Umstände sowie Größen- und Ressourcenvorteile der etablierten Unternehmen können auch dazu führen, dass vorhandene starke Marktstellungen nur noch erschwert angreifbar sind. Zum anderen nehmen einzelne Unternehmen mit ihren Angeboten zentrale strategische Positionen ein, die zu vielfältigen Abhängigkeiten anderer Marktteilnehmer führen und es den so positionierten Unternehmen erlauben, den Wettbewerbsprozess zum eigenen Vorteil zu verfälschen und ihre Marktmacht auf andere Märkte zu übertragen. Diese besonderen Gefährdungspotentiale, insbesondere in Folge verstärkter Möglichkeiten einer vertikalen und konglomeraten Ausnutzung wirtschaftlicher Macht, sollen durch § 19a GWB adressiert werden.
Rz. 47
(b) Daraus ergibt sich bereits, dass eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb nur bei wenigen großen Unternehmen und nur dann vorliegen kann, wenn den Gefährdungspotentialen, denen § 19a GWB entgegenwirken soll, ein erhebliches Gewicht zukommt (vgl. Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 71, 81). Gerade auf dynamischen oder neu entstehenden Märkten soll dadurch sichergestellt werden, dass Unternehmen mit leistungswettbewerblichen Mitteln um Marktanteile und Kunden konkurrieren können und Machtstellungen bestreitbar bleiben. Es soll gewährleistet werden, dass vor allem auf den in Bewegung befindlichen digitalen Märkten lebendiger Wettbewerb möglich bleibt und Innovationen nicht durch Behinderungspraktiken gehemmt werden (BT-Drucks. 19/23492, S. 73 ff.).
Rz. 48
(c) Bei der zweistufig aufgebauten Vorschrift des § 19a GWB ist eine (konkrete) Wettbewerbsgefahr oder Wettbewerbsbeeinträchtigung erst für Verfügungen nach dessen Absatz 2 erforderlich. Diese setzen grundsätzlich eine Erstbegehungs- oder Wiederholungsgefahr voraus, wenn nicht unter Berücksichtigung der Besonderheiten der digitalen Wirtschaft ein früheres Eingreifen erforderlich erscheint (BT-Drucks. 19/23492, S. 75; Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 76, 131; Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a GWB Rn. 35; enger Wagner-von Papp in BeckOK Kartellrecht, Stand 1. April 2024, § 19a GWB Rn. 33). Dagegen reicht für die Feststellung nach § 19a Abs. 1 GWB das Vorliegen der strategischen und wettbewerblichen Möglichkeiten eines Unternehmens mit überragender marktübergreifender Bedeutung, deren abstraktes Gefährdungspotential durch die Vorschrift adressiert wird. Ob das betroffene Unternehmen die ihm dadurch vermittelten Wettbewerbsvorteile nutzt und durch seine Aktivitäten Wettbewerbsprozesse tatsächlich zulasten der Wettbewerber konkret gefährdet oder bereits beeinträchtigt sind, spielt dafür keine Rolle (Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 99; Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a GWB Rn. 16). Einer Verfügung nach § 19a Abs. 1 GWB kommt vor diesem Hintergrund die Funktion zu, rechtsbeständig diejenigen Unternehmen zu benennen, die die von der Vorschrift adressierten strukturellen und wettbewerblichen Möglichkeiten und mithin die vom Gesetzgeber erkannten erheblichen Gefährdungspotentiale aufweisen, damit sodann bei tatsächlich eintretenden Wettbewerbsgefahren oder -beeinträchtigungen durch Verfügungen nach § 19a Abs. 2 GWB schneller eingegriffen werden kann. Das mit der Zweistufigkeit verfolgte gesetzgeberische Ziel, dem Bundeskartellamt bei Fehlentwicklungen ein frühzeitiges Eingreifen zu ermöglichen und die Verfahren zu beschleunigen, könnte aber - was auch durch den Umfang und die Dauer des vorliegenden Verfahrens eindrucksvoll belegt wird - nicht erreicht werden, wenn bereits die Feststellung der Adressateneigenschaft den Nachweis einer konkreten Gefahr oder Wettbewerbsbeeinträchtigung voraussetzte.
Rz. 49
(d) Das Bestimmtheitsgebot erfordert entgegen der Beschwerde keine einschränkende Auslegung des Tatbestandsmerkmals der überragenden marktübergreifenden Bedeutung in diesem Sinn. Es verstößt nicht gegen die rechtsstaatlichen Grundsätze der Normklarheit und Justitiabilität, dass ein Gesetz unbestimmte, der Auslegung und Konkretisierung bedürftige Gesetzesbegriffe verwendet.Allerdings muss das Gesetz so bestimmt sein, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. Erforderlich ist, dass die von der Norm Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können. Sie müssen in zumutbarer Weise feststellen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Rechtsfolge vorliegen (st. Rspr., BVerfG, Beschlüsse vom 3. Juli 1973 - 1 BvR 153/69, BVerfGE 35, 348 [juris Rn. 27]; vom 23. April 1974 - 1 BvR 6/74, BVerfGE 37, 132 [juris Rn. 26]; vom 7. Mai 2001 - 2 BvK 1/00, BVerfGE 103, 332 [juris Rn. 164 f.]; vom 8. September 2017 - 1 BvR 1657/17, juris Rn. 10). Der Begriff der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb in § 19a Abs. 1 Satz 1 GWB ist nach seinem Wortlaut und Regelungszweck sowie der Gesetzesbegründung einer Auslegung ohne weiteres zugänglich (so auch Wagner-von Papp in BeckOK Kartellrecht, 1. April 2024, § 19a GWB Rn. 34; Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 71), zumal er durch die Kriterien des § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 GWB eine Konkretisierung erfährt. Insofern unterscheidet er sich nicht von zahlreichen weiteren im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verwendeten Begriffen wie etwa des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gemäß § 19 GWB, des sachlich und räumlich relevanten Markts im Sinn des § 18 Abs. 1 GWB oder der erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs gemäß § 36 Abs. 1 GWB.
Rz. 50
bb) Die Anwendbarkeit von § 19a Abs. 1 GWB wird auch nicht grundsätzlich dadurch in Frage gestellt, dass Endkunden und Dritthändler andere Online-Marktplätze, sowie Dritthändler andere Vertriebskanäle und Endkunden andere Einkaufsmöglichkeiten nutzen (können). Dabei können in Bezug auf die Nutzung anderer Online-Marktplätze, Vertriebskanäle und Einkaufsmöglichkeiten die Ergebnisse der von den Beschwerdeführerinnen vorgelegten Studien, der Amazon Seller Survey und ihrer Auswertungen sowie der Amazon Buyer Survey, als zutreffend unterstellt werden.
Rz. 51
(1) Die Beschwerdeführerinnen machen unter Berufung auf ein ökonomisches Privatgutachten geltend, Amazon falle von vornherein aus dem Anwendungsbereich des § 19a GWB heraus. Die Vorschrift ziele nur auf die Betreiber eines digitalen Ökosystems mit einer Gatekeeper-Stellung, was auf Amazon nicht zutreffe. Ein wettbewerbsrelevantes Ökosystem setze voraus, dass es eine große Anzahl sich stark ergänzender Waren und Dienstleistungen und zudem hohe Wechselkosten aufweise, die es den Kunden erschwerten, ganz oder teilweise zu einem anderen Anbieter zu wechseln und konkurrierende Angebote zu nutzen. Daran fehle es in Bezug auf die von Amazon erbrachten Vermittlungsdienstleistungen. Amazon übe über die Interoperabilität zwischen verschiedenen Produkten keine Kontrolle aus. Die Inanspruchnahme verschiedener Plattformen verursache weder für die Endkunden noch für die Dritthändler hohe Wechselkosten, was sich daran zeige, dass Endkunden und Dritthändler empirisch nachgewiesen zahlreiche weitere Einkaufsmöglichkeiten und Vertriebskanäle nutzten. Weder Endkunden noch Dritthändler seien in einem von Amazon betriebenen digitalen Ökosystem wettbewerblich eingeschlossen (sogenannter Lock-in-Effekt). Zudem sei die Geschäftstätigkeit von Amazon als eines Einzelhändlers durch einen großen Aufwand an Fläche, Personal und Logistik gekennzeichnet, während die Tätigkeit (echter) digitaler Unternehmen eine hohe Skalierbarkeit aufweise. § 19a GWB sei daher auf Amazon nach seinem Sinn und Zweck schon nicht anwendbar.
Rz. 52
(2) Dieser Vortrag ist nicht geeignet, die Anwendbarkeit von § 19a GWB im Streitfall in Frage zu stellen.
Rz. 53
(a) Der - von § 19a GWB nicht verwendete, aber seiner Ratio zugrundeliegende (BT-Drucks. 19/23492, S. 73; Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 15, 29) - Begriff des digitalen Ökosystems ist ein etablierter Begriff der Digitalwirtschaft. Er bezeichnet technische und soziale Systeme, die Produkte, Daten und Dienstleistungen vernetzen (Schweitzer/Haucap/Kerber/Welker, Modernisierung der Missbrauchsaufsicht für marktmächtige Unternehmen, 2018, S. 130, 140), und wird insbesondere für Vermittlungsplattformen verwendet, auf denen verschiedene Marktseiten zusammentreffen, was wiederum dem Betreiber der Vermittlungsplattform die sogenannte Gatekeeper-Stellung verschafft (ebenda S. 8, 118). Dadurch kommt es zu marktübergreifenden Verbundvorteilen, die insbesondere im (ausschließlichen) Zugang zu Daten bestehen (ebenda, S. 84 ff.). Die Monopolkommission fasst etwa unter den Begriff des digitalen Ökosystems sowohl Multi-Produkt-Ökosysteme als auch Multi-Akteur-Ökosysteme. Dabei wird unter einem Multi-Produkt-Ökosystem auch nach dem von den Beschwerdeführerinnen vorgelegten ökonomischen Gutachten ein System verstanden, dessen Produkte in hohem Maße oder stark komplementär sind, dessen Betreiber die Interoperabilität zwischen den Produkten kontrolliert und bei dem die Substitution eines Produkts aus diesem Ökosystem durch ein Produkt außerhalb des Systems hohe Wechselkosten verursacht. Ein Multi-Akteur-Ökosystem ist demgegenüber ein Plattformdienst, der durch eine Doppelrolle des Plattformdienstbetreibers gekennzeichnet ist. Amazon wird in diesem Zusammenhang als Betreiber eines digitalen Ökosystems ausdrücklich genannt (Monopolkommission, Sondergutachten 82, Empfehlungen für einen effektiven und effizienten Digital Markets Act, 2021, S. 18 bis 20; Policy Brief, Ausgabe 8, Juli 2021, S. 2, 3; XXIV. Hauptgutachten 2022, Kapitel V, Rn. 478; vgl. auch BT-Drucks. 19/25868, S. 112 und den dortigen Verweis auf den Bericht des US-Repräsentantenhauses, Subcommittee on Antitrust, Commercial and Administrative Law of the Committee on the Judiciary, Investigation of Competition in digital markets, 2020, S. 11, S. 259 f. "Amazon ecosystem", S. 256, 313 "gatekeeper"). Die von ihm eingenommene Doppelrolle erlaubt dem Plattformbetreiber umfassenden und ausschließlichen Zugang zu den Daten sowohl der Endkunden als auch seiner Wettbewerber auf Anbieterseite und führt zu erheblichen Rückkopplungseffekten, die sich umso mehr verstärken, je mehr die Zahl der Nutzer steigt (Monopolkommission, Sondergutachten 82, Empfehlungen für einen effektiven und effizienten Digital Markets Act, 2021, Kapitel 5, Rn. 75 ff.). Die auf Grundlage einer großen Nutzerbasis verfügbaren Daten können ferner die Ausdehnung der Aktivitäten auf neue Märkte für - um den Kernmarkt herumgruppierte - weitere Dienste und Produkte erleichtern (Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, § 19a GWB Rn. 3). Dagegen beschränkt die Beschwerde den in der genannten Literatur und dieser folgend auch vom Gesetzgeber in einem deutlich weiteren Sinn verwendeten Begriff des digitalen Ökosystems (BT-Drucks. 19/23492, S. 73) zu Unrecht auf den besonderen Fall des Multi-Produkt-Ökosystems unter Ausschluss des Multi-Akteur-Ökosystems (siehe Monopolkommission, Sondergutachten 82, 2021, S. 19 oben). Gatekeeper in diesem Sinn ist aber - wovon das Bundeskartellamt zutreffend ausgeht - entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen nicht nur, wer darüber entscheidet, ob Produkte miteinander vereinbar sind.
Rz. 54
(b) Auch der Umstand, dass Endkunden weitere Einkaufsmöglichkeiten und Dritthändler weitere Vertriebskanäle nutzen, schließt die Anwendbarkeit von § 19a GWB im vorliegenden Fall nicht von vornherein aus. Die Nutzung einer Plattform für ein bestimmtes Produkt oder einen bestimmten Dienst wird als Single Homing und die parallele Nutzung mehrerer Plattformen für ein bestimmtes Produkt oder einen bestimmten Dienst, wie etwa die parallele Nutzung mehrerer Messengerdienste, wird als Multi Homing bezeichnet (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 45 - Facebook I; Bekanntmachung der Europäischen Kommission über die Abgrenzung des relevanten Markts im Sinne des Wettbewerbsrechts der Union vom 8. Februar 2024 (C/2023/6789 final), ABl. EU C/2024/1645 vom 22. Februar 2024, Rn. 94 f., nachfolgend Bekanntmachung Marktabgrenzung; zu § 18 Abs. 3a Nr. 2 GWB vgl. BT-Drucks. 18/10207, S. 50; Götting in BeckOK Kartellrecht, Stand 1. Juni 2020, § 18 GWB Rn. 66; Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 145b). Die Beschwerdeführerinnen verwenden den Begriff des Multi Homing aber über seine Bedeutung hinaus (unzutreffend) für alle analog und digital verfügbaren Vertriebskanäle und Einkaufsmöglichkeiten wie etwa stationäre Ladengeschäfte und händlereigene Online-Shops. Solche mit der Nutzung eines Online-Marktplatzes nicht vergleichbaren Vertriebs- und Einkaufsmöglichkeiten sind aber - ebenso wenig wie die Möglichkeit der Recherche in (analogen) Bibliotheken anstelle der Nutzung eines Suchmaschinendiensts oder der Versendung von Briefen anstelle der Nutzung eines Messengerdiensts - nicht geeignet, die Amazon zukommende Gatekeeper-Stellung im obigen Sinn entfallen zu lassen. § 19a GWB adressiert vielmehr ausdrücklich auch die dem Konzern aufgrund des Betriebs von Amazon Store als Vermittlungsplattform zukommende Intermediärsmacht. Soweit durch die parallele Nutzung anderer Online-Marktplätze und damit vergleichbarer Dienste (echtes) Multi Homing der Endkunden und Dritthändler stattfindet, ist dies erst beim Tatbestandsmerkmal der überragenden marktübergreifenden Bedeutung im Einzelnen zu berücksichtigen (siehe Rn. 143 bis 145).
Rz. 55
(c) Schließlich lassen die Beschwerdeführerinnen außer Acht, dass das Tätigwerden weiterer Dritthändler auf Amazon Store - ähnlich wie etwa das Anlegen weiterer Kundenkonten auf den von jenen Unternehmen betriebenen Plattformen, die von den Beschwerdeführerinnen als "echte" digitale Unternehmen angesehen werden - eine sehr hohe Skalierbarkeit aufweist. Zusätzlich entstehende Kosten, wie etwa Logistikkosten, werden nicht von Amazon, sondern von den Dritthändlern getragen.
Rz. 56
cc) Der Feststellung einer überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb steht ferner nicht entgegen, dass andere (Einzelhandels-)Unternehmen ähnlich vorgehen wie Amazon, also etwa einheitliche Produktdetailseiten mit Werbung betreiben, sowie über eine hervorragende Finanzausstattung oder einen guten Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten verfügen. Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass es für die Feststellung nach § 19a Abs. 1 GWB lediglich darauf ankommt, ob das Unternehmen nach der Art seiner Geschäftstätigkeit, seinen Ressourcen und seiner Größe, Bedeutung und Reichweite über die besondere wettbewerbliche Machtstellung verfügt, die mit der Vorschrift adressiert werden soll (vgl. auch Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a GWB Rn. 19).
Rz. 57
b) Dies vorausgeschickt, hat das Bundeskartellamt zu Recht und ermessensfehlerfrei angenommen, dass Amazon eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb im Sinn des § 19a Abs. 1 GWB zukommt. Das beruht auf den in erheblichem Maße vertikal integrierten und in konglomerater Weise verbundenen Geschäftstätigkeiten des weltweit tätigen Konzerns (§ 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 GWB, dazu sogleich), seiner überragenden Finanzkraft (§ 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GWB, unten c), seinem überragenden Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten (§ 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 GWB, unten d), der erheblichen Bedeutung seiner (weltweiten) Tätigkeiten für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten (§ 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, unten e) und auf seiner marktbeherrschenden Stellung auf dem deutschen Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen (§ 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GWB, unten f), die diese Feststellung in der Gesamtbetrachtung rechtfertigen (dazu unten g).
Rz. 58
aa) Der Beschreibung der vertikalen und miteinander verbundenen Geschäftstätigkeiten des Konzerns im angegriffenen Beschluss sind die Beschwerdeführerinnen nicht entgegengetreten.
Rz. 59
(1) Amazon betreibt den unter anderem aus seinem Einzelhandelsgeschäft und Amazon Marketplace bestehenden Amazon Store, der - wie sich aus den obigen Feststellungen ergibt - in Bezug auf das Warenangebot, die auf ihm aktiven Endkunden und Dritthändler und die generierten Umsätze sowohl weltweit als auch in Deutschland eine überragende Größe und Bedeutung aufweist.
Rz. 60
(2) Daneben ist Amazon vorgelagert in erheblichem Umfang und zunehmend als Hersteller physischer und digitaler Produkte tätig. 2020 wurden unter Amazon-Eigenmarken physische Produkte unter fast Produktidentifikationsnummern (ASINs, Amazon Standard Identification Number) angeboten, die Anzahl der Eigenmarken belief sich auf und die damit erzielten Nettoumsätze betrugen EUR. Amazon ist auch im Hinblick auf digitale Medieninhalte zunehmend vertikal integriert und (ko-)produziert mit den Tochterunternehmen Amazon Studios und MGM Filme und Serien, mit Audible Studios Hörbücher, unter anderem mit Amazon Games Videospiele und verlegt mit Amazon Publishing Bücher als Taschenbuch, eBook und Hörbuch.
Rz. 61
(3) Amazon ist Anbieter, Vermittler und Nachfrager von Leistungen der Warenlogistik, insbesondere von Versanddienstleistungen. Der Konzern verfügt nach den getroffenen Feststellungen über eine eigene umfangreiche Logistikinfrastruktur. Für die Beförderung zum Endkunden beauftragt Amazon andere Transportdienstleister oder sogenannte Zustellpartner mit eigenem Personal und Fahrzeugen (Amazon Logistics), wobei das Sendungsvolumen, das über Amazon Logistics mittels Zustellpartnern befördert wird, 2020 deutlich auf etwa % gegenüber noch knapp % 2018 angestiegen ist. Aufbauend auf seiner Logistikinfrastruktur bietet Amazon mit seinen optionalen Logistik- und Versandprogrammen Dritthändlern auf Amazon Marketplace ein breites Angebot an Logistikdienstleistungen an. Im Amazon Fulfillment Network (AFN) übernimmt Amazon beim Fulfillment by Amazon Programm (FBA) die Abwicklung der Bestellung, die Lagerung, die Kommissionierung, die Verpackung und den Versand der Ware an den Endkunden sowie die Abwicklung von Retouren oder Rückerstattungen. Amazon erhebt hierfür Versand- und Lagergebühren sowie Gebühren für die Bearbeitung von Kundenrücksendungen, wobei die erzielten Umsätze von etwa EUR im Jahr 2018 um % auf insgesamt etwa EUR im Jahr 2020 gestiegen sind. Über das AFN-Programm wurden 2020 Sendungen versandt. Auf der Grundlage der Schätzungen in der Studie Kurier-, Express-, Paketdienste 2021 des Bundesverbandes Paket- und Expresslogistik e.V. (KEP-Studie 2021) entsprach dies % des Sendungsvolumens des gesamten deutschen KEP-Marktes und % desjenigen des deutschen Marktes für Privatkundenpakete ("Business-to-Consumer"). Führen Dritthändler ihre Bestellungen selbst aus (Merchant Fulfilled Network oder MFN), können sie die Versanddienstleistung über Amazon als Vermittler beim Versanddienstleister kaufen und das Versandlabel von Amazon beziehen (Buy Shipping). Das Seller-Fulfilled-Prime-Programm (SFP) ermöglicht Dritthändlern bei Einhaltung bestimmter Qualitätskriterien, ihre Produkte auf dem Online-Marktplatz unter dem Prime-Label und im Prime-Versand anzubieten, wobei ihre Sendungen durch von Amazon zugelassene Versanddienstleister befördert werden (zu den durch die Anwendung des Digital Markets Act und die Kommissionsentscheidung vom 20. Dezember 2022 eingetretenen Veränderungen siehe unten Rn. 159 bis 161; 188 bis 190). Für die Versanddienstleister setzt die Beförderung von Sendungen im Rahmen aller vorgenannten Programme eine verpflichtende Integration in die informationstechnischen Systeme von Amazon voraus.
Rz. 62
(4) Amazon Advertising baut auf den Geschäftstätigkeiten des Konzerns auf, da Amazon über unterschiedliche Angebote hinweg - vor allem über Amazon Store - Werbeflächen für konzerninterne oder dritte Werbung zur Verfügung stellen kann. Der Umsatz von Amazon Advertising in Deutschland ist von EUR 2017 auf EUR 2020, mithin um knapp % gestiegen, weltweit in diesem Zeitraum um % von EUR auf EUR. Daneben bietet Amazon Streaming-TV-Werbung und Online-Videowerbung sowohl auf eigenen Webseiten, Geräten und Angeboten wie Fire TV, IMDb.com und Twitch als auch auf externen Webseiten, sowie Audiowerbung bei Amazon Music an. Werbetreibende können ihre Werbung über mehrere Werbekanäle von Amazon gleichzeitig und diensteübergreifend schalten. Für interessenbasierte Werbung verwendet Amazon pseudonymisierte Informationen zu Suchanfragen, Produktkäufen oder Produktansichten auf Amazon Store, Informationen aus anderen Amazon Diensten und weitere Informationen, um genau definierte Zielgruppen zu bilden. Zudem ist Amazon mit Amazon Demand Side Plattform und Amazon Publisher Services im Bereich der Vermittlung von Werbeflächen zwischen Anbietern und Nachfragern von Werbeflächen tätig.
Rz. 63
(5) Der eigenständige Geschäftsbereich Amazon Web Services stellt die informationstechnische Infrastruktur für den Konzern und dessen digitale Angebote bereit. Daneben bietet er dritten Unternehmen über 200 verschiedene nach Branchen und Technologien - wie Datenverarbeitung, Speicher, Datenbanken, Netzwerke, Analytics, Robotik, maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz und Internet of Things - geordnete Cloud-Computing-Dienste an. Amazon Web Services gehört zu den weltweit wichtigsten Anbietern in diesem Bereich. Mit seinen Diensten, unter anderem der Bereitstellung von sicheren skalierbaren Rechenkapazitäten in der Cloud, einem Blockspeicherdienst und einem relationalen Datenbankdienst erzielte der Konzern 2020 Umsätze von insgesamt etwa EUR. Zu den Kunden zählen zahlreiche international tätige Unternehmen und Organisationen der öffentlichen Verwaltung.
Rz. 64
(6) Amazon Pay ist ein Zahlungsabwicklungsdienst, mit dem Amazon-Kunden (kostenlos) auf teilnehmenden externen Webseiten und Anwendungen unter Nutzung der im Amazon-Kundenkonto hinterlegten Bezahlmethoden - auch über den Sprachassistenten Alexa - bezahlen können. Aufgrund des erhöhten Sicherheitsgefühls der Kunden bei dieser Bezahlmethode können Händler die Hemmschwelle für den Kauf in einem unbekannten Online-Shop senken. Händler zahlen eine Autorisierungsgebühr von 0,35 EUR je Transaktion sowie eine Bearbeitungsgebühr von unter 2 % des Warenwerts. Der weltweite Gesamtumsatz mit Amazon Pay betrug im Jahr 2020 EUR (davon in Deutschland EUR), womit Amazon Pay in Deutschland der drittmeistgenutzte Online-Zahlungsdienst nach PayPal und Klarna ist.
Rz. 65
bb) Die dargestellten Geschäftstätigkeiten sind in vielfältiger Weise vertikal integriert sowie konglomerat miteinander verbunden (vgl. allgemein zur vertikalen Integration und konglomeraten Verbundenheit auch Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 116, 117).
Rz. 66
(1) Endkunden erhalten fast alle angebotenen Waren und Dienste einheitlich über Amazon Store und ihr Kundenkonto. Sie können ihren Bedarf im Bereich des vornehmlich privaten Konsums über Amazon weitreichend decken, wobei die Angebote in verschiedener Hinsicht miteinander verbunden sind oder verbunden werden können. Amazon Store stellt dabei aufgrund der Größe des Endkundenstamms einen wichtigen Vertriebskanal für die Dienste und Produkte von Amazon dar, wobei die Angebote von Amazon grundsätzlich prominent als eigene Kategorie dargestellt werden. Amazon kann daher bei den meisten seiner Geschäftstätigkeiten auf den großen Kundenstamm, die Infrastruktur und die Organisation von Amazon Store zurückgreifen, zumal für die angebotenen digitalen Produkte oder Dienste vielfach ähnliche Inputfaktoren - etwa die informationstechnische Infrastruktur und die erforderlichen Daten - benötigt werden. Zudem kann Amazon positive indirekte Netzwerkeffekte, die durch die Verbindung seiner Geschäftstätigkeiten mit Amazon Store entstehen, nutzen und diese gezielt fördern, da die wettbewerbliche Bedeutung von Angeboten etwa im Logistik- und Werbebereich häufig maßgeblich von der Zahl der Endnutzer auf Amazon Store abhängt. Das Einzelhandelsgeschäft profitiert von der hybriden Struktur, da durch die Zulassung von Dritthändlern ein breites Sortiment an Produkten von mehreren Händlern angeboten wird. Dadurch werden wegen der damit verbesserten Such- und Vergleichsmöglichkeiten mehr Endkunden für Amazon Store und damit auch für sein Einzelhandelsgeschäft gewonnen.
Rz. 67
(2) Das Werbegeschäft von Amazon basiert maßgeblich auf den Werbeflächen auf Amazon Store. Diese sind für Dritthändler besonders interessant, weil viele Endkunden aufgrund des breiten Produktsortiments und der Vielzahl der Angebote ihre Produktsuche im Amazon Store beginnen. Amazon Pay nutzt das Amazon Store Kundenkonto und die dort angegebenen Zahlungsmittelinformationen und profitiert von dem Vertrauen der Konsumenten gegenüber Amazon Store.
Rz. 68
(3) Amazon hat erhebliche Vorteile durch seine auf nahezu allen Geschäftsfeldern bestehende Doppelrolle als Anbieter und zugleich konzerninterner Nachfrager seiner eigenen Dienste. So kann Amazon etwa die Nachfrage der Dritthändler nach Versanddienstleistungen zusammen mit der eigenen Nachfrage als Einzelhändler bündeln und gegenüber den Versanddienstleistern, denen für einen großen Teil der über Amazon Store ausgelösten Sendungen nur noch ein sehr starker Nachfrager gegenübersteht, mengenbedingte Preisvorteile auch für sein eigenes Angebot erzielen. Der Konzern kann zudem Einfluss auf die Geschäftstätigkeit von Wettbewerbern nehmen und von deren Erfolg profitieren (siehe Rn. 92).
Rz. 69
(4) Die verschiedenen Angebote von Amazon im Audio-, Video- und Buchbereich in Verbindung mit der Nutzung von Amazon Store als Vertriebskanal erlauben es Amazon zudem, seine Kunden durch Werbung sowie die bewusste Platzierung seiner Angebote von einem Angebotsformat zum anderen zu lenken. Im Bereich des Home Entertainment bietet Amazon Geräte und digitale Dienste in benachbarten Märkten an, sodass Verbraucher ihre Nachfrage nach digitalen Medieninhalten und den dazu komplementären Abspielgeräten in den Bereichen Video, Audio und Buch einheitlich bei Amazon decken können. Ähnliche Verbindungen bestehen zwischen Alexa und Amazon Store sowie Smart-Home-Geräten der Echo- und Fire-TV-Reihen. Amazon kann seine Geräte und Dienste auf verschiedene Weise bündeln oder über Vorinstallationen miteinander verknüpfen. Aufgrund seines konglomeraten Leistungsangebots verfügt das Unternehmen über vielfältige Zugänge zu den Endkunden. Dadurch ergeben sich angebots- und diensteübergreifende Möglichkeiten der Monetarisierung und Querfinanzierung der verschiedenen Dienste und Geräte, etwa durch Werbeangebote an andere Unternehmen oder Erlöse in anderen Geschäftsbereichen.
Rz. 70
(5) Die Verbundenheit der verschiedenen Angebote Amazons und damit einhergehende Verbundvorteile zeigen sich insbesondere bei Amazon Prime. Durch die Mitgliedschaft werden unterschiedliche Produkte wie Versanddienstleistungen, das Streaming von Filmen, Serien und Sportübertragungen sowie Amazon Music gebündelt. Für Amazon Prime Kunden bestehen daher verschiedene Anreize, ihre Nachfrage über Amazon zu decken und hierfür in dessen Ökosystem zu verbleiben. Der Abonnement-Charakter von Amazon Prime regt durch die pauschale Gebühr, die beispielsweise sämtliche Versandkosten abdeckt, zu einer umfassenden Nutzung der Vorteile an.
Rz. 71
cc) Die gegen die Beurteilung des Bundeskartellamts erhobenen Einwände der Beschwerdeführerinnen greifen nicht durch.
Rz. 72
(1) § 19a Abs. 1 GWB setzt nicht voraus, dass der Normadressat von Leistungen anderer Unternehmen (vollständig) unabhängig ist. Es ist daher unerheblich, dass Amazon nach wie vor auf andere Transportdienstleister angewiesen ist, auf die zusammen etwa % des Versandvolumens von Amazon entfallen, und diese Transportdienstleister auch andere Kunden haben. Maßgeblich ist vielmehr, das Amazon seit etwa 2010 in der Lage war, in Deutschland eine eigene Logistikinfrastruktur aufzubauen, die mittlerweile den größten Teil des eigenen Geschäfts abdeckt, kontinuierlich wächst und den Versanddienstleistern erhebliche Konkurrenz macht. Das zeigt, dass Amazon auch in benachbarte Märkte vordringen kann. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, dass die Monopolkommission - wie die Beschwerdeführerinnen unter Hinweis auf das 13. Sektorgutachten Post der Monopolkommission geltend machen - eine Hebelung von Macht auf dem Markt für Online-Marktplätze in den Paketmarkt bisher nicht feststellen konnte und von einer Belebung des Wettbewerbs durch Amazon ausgeht (Monopolkommission, Post 2023, 13. Sektorgutachten, S. 4, 22 f.). Wie dargelegt, ist eine konkrete Wettbewerbsgefahr oder Wettbewerbsbeeinträchtigung für § 19a Abs. 1 GWB keine Voraussetzung. Zudem schließt die Monopolkommission eine mögliche Wettbewerbsgefahr nicht aus. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass - sollte es zukünftig zu missbräuchlichem Verhalten kommen - das allgemeine Wettbewerbsrecht auf nationaler Ebene mit § 19a GWB und auf europäischer Ebene mit dem Digital Markets Act gute Instrumente biete (ebenda S. 23).
Rz. 73
(2) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen setzt § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 GWB nicht voraus, dass kein (Rand-)Wettbewerb mehr stattfindet. Es kommt daher nicht darauf an, dass beispielsweise Amazon Pay mit anderen Zahlungsanbietern im Wettbewerb steht. Maßgeblich ist vielmehr, dass Amazon Pay von der erheblichen Kundenbasis des Amazon Store profitiert, weil es von Dritthändlern auch bei Käufen außerhalb von Amazon Store Gebühren erhält, wenn Amazon Pay verwendet wird. Gleiches gilt für Logistikgebühren, sofern Dritthändler die Logistikdienstleistungen von Amazon auch für Verkäufe außerhalb des Amazon Marketplace nutzen.
Rz. 74
(3) Die Annahme, aus den miteinander verbundenen Geschäftstätigkeiten des Konzerns ergäben sich erhebliche Wettbewerbsvorteile, Möglichkeiten für marktübergreifende Strategien mit großem Gefährdungspotential für den Wettbewerb und dadurch wettbewerblich nicht kontrollierte Verhaltensspielräume, wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Amazon Web Services und Amazon Store unabhängig voneinander betrieben werden und verschiedene Kundengruppen ansprechen, Amazon Web Services nicht zwischen Dienstleistungen für Wettbewerber von Amazon und für andere Kunden unterscheidet und sein Zugang zu Kundeninhalten durch Vereinbarungen mit diesen, durch die AWS-Datenschutzerklärung sowie durch technische und organisatorische Maßnahmen beschränkt ist. Zu der von § 19a Abs. 1 GWB vorausgesetzten besonderen Machtstellung trägt vielmehr entscheidend bei, dass Amazon seine gesamte technische Infrastruktur vertikal integriert von anderen Unternehmen unabhängig betreibt und damit zugleich ein weiteres überragend wichtiges Geschäftsfeld erschlossen hat. So entfielen 56 % der Gewinne 2021 auf Amazon Web Services. Das erlaubt es dem Unternehmen, seine Tätigkeiten quer zu subventionieren und zu stabilisieren.
Rz. 75
(4) Der Umstand, dass die Markteinführung einiger Produkte und Dienste, wie etwa Amazon Tickets, eines Smartphones, Amazon Restaurants und Amazon Fresh und des Videokonferenz-Tools Amazon Chime, erfolglos war, steht der Beurteilung des Bundeskartellamts nicht entgegen. Es kommt auf die bestehende geschäftliche Aufstellung und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten an, nicht aber darauf, ob alle vergangenen Markteintritte des Konzerns erfolgreich waren.
Rz. 76
c) Zutreffend hat das Bundeskartellamt angenommen, dass Amazon über eine überragende Finanzkraft (auch im Vergleich mit allen deutschen Einzelhandelsunternehmen) sowie einen hervorragenden Zugang zu sonstigen Ressourcen im Sinne von § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GWB verfügt. Soweit die Beschwerdeführerinnen demgegenüber geltend machen, die Finanzkraft von Amazon sei kein Wettbewerbsvorteil, der dem Unternehmen einen vom Wettbewerb nicht kontrollierten Handlungsspielraum verschaffe, und die meisten seiner Wettbewerber verfügten über erhebliche finanzielle Mittel, stellt das die Bewertung des Bundeskartellamts nicht in Frage.
Rz. 77
aa) Der in § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und § 18 Abs. 3 Nr. 2 GWB verwendete Begriff der Finanzkraft umfasst die Gesamtheit der finanziellen Mittel und Möglichkeiten eines Unternehmens, insbesondere die Finanzierungsmöglichkeiten unter Einbeziehung von Eigen- und Fremdfinanzierung, sowie seinen Zugang zum Kapitalmarkt. Indikatoren sind der Cash-Flow, Fremdfinanzierungsmöglichkeiten, nach der Bilanz verfügbare liquide Mittel und Ertragskennziffern wie Jahresüberschüsse, Umsätze und die historische Investitionstätigkeit (vgl. Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a GWB Rn. 25, § 18 GWB Rn. 35a; Töllner in Bunte, Kartellrecht, 14. Aufl., § 18 GWB Rn. 135 ff.; Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 111; Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 125 f.). Das in beiden Vorschriften gleichlautende und im Ausgangspunkt gleich auszulegende Kriterium hat allerdings wegen der unterschiedlichen Normzwecke der §§ 19, 18 Abs. 1, 3, 3a und 3b GWB einerseits und § 19a GWB anderseits bei der Anwendung dieser Vorschriften jeweils eine eigenständige Bedeutung (zu dem Kriterium der Finanzkraft bei § 18 Abs. 3 Nr. 2 GWB siehe unten Rn. 140). § 19a GWB soll - wie ausgeführt - nach Sinn und Zweck die Unternehmen erfassen, die über Größen- und Ressourcenvorteile und eine zentrale strategische Positionierung verfügen, die ihnen erlauben, erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter zu nehmen sowie die eigene Geschäftstätigkeit in immer neue Märkte und Sektoren auszuweiten. Zentrales Ziel der Vorschrift ist eine Effektivierung und Beschleunigung der Kartellverwaltungsverfahren mit Bezug zu großen digitalen Plattformen (BT-Drucks. 19/23492, S. 1, S. 55; BT-Drucks 19/25868, S. 5, 104, 120). Der Finanzkraft sowie dem Zugang zu sonstigen Ressourcen ist insbesondere Gewicht beizumessen, wenn diese einem Unternehmen erhebliche marktübergreifende Verhaltensspielräume eröffnen, etwa, wenn aufgrund verfestigter Marktstellung, hoher Reichweite und niedriger Grenzkosten Finanzmittel in so hohem Umfang generiert werden, dass mögliche Wettbewerber mit hochpreisigen Übernahmen aufgekauft werden können (vgl. Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 111 f.). Aufgrund der notwendigen marktübergreifenden Betrachtung ist schon aus Rechtsgründen entgegen dem von den Beschwerdeführerinnen vorgelegten ökonomischen Gutachten nicht erforderlich, dass es (gar) keine Wettbewerber (mehr) gibt, deren Finanzkraft ihnen den Versuch erlauben würde, mit dem Normadressaten auf bestimmten (Teil-)Märkten in Wettbewerb zu treten. Da § 19a GWB auf die wettbewerblichen Möglichkeiten der Normadressaten abstellt, ist ferner keine Feststellung dahin erforderlich, dass das Unternehmen Strategien zur Abschreckung von Wettbewerbern tatsächlich verfolgt (vgl. dazu, dass § 19a Abs. 1 GWB keine konkrete Wettbewerbsgefahr oder -beeinträchtigung voraussetzt, oben Rn. 43 bis 49).
Rz. 78
bb) Nach diesen Maßgaben verfügt Amazon über eine überragende Finanzkraft. Amazon gehört nach den vom Bundeskartellamt getroffenen und nicht angegriffenen Feststellungen zu den umsatzstärksten, profitabelsten und wertvollsten Unternehmen weltweit, wobei die außergewöhnliche Steigerung der Kennzahlen in den letzten Jahren die Wachstums- und Expansionsmöglichkeiten verdeutlicht. Seine überragende Finanzkraft lässt sich schon an den oben genannten Konzernumsätzen weltweit und in Deutschland und deren Steigerungen festmachen. Von 2012 bis 2021 konnte der Konzern seine Umsatzerlöse um rund 670 % steigern, wobei er auch mit Erreichen immer höherer Umsätze weiterhin hohe Zuwachsraten erzielte und ein jährliches durchschnittliches Umsatzwachstum von meist über 20 % beibehalten konnte. Der von Amazon im Geschäftsjahr 2021 erzielte Gewinn ist mit 33,4 Mrd USD beträchtlich und steigerte sich seit 2017 um 1013 %. 2020 lag Amazon mit einem Jahresüberschuss von 21,3 Mrd USD im weltweiten Unternehmensvergleich nach Gewinnen auf dem 16. Rang. Auch der Operating Cash-Flow und Free Cash-Flow des Unternehmens waren in den vergangenen Jahren dauerhaft hoch und wiesen mit Ausnahme von 2021 einen starken Anstieg auf. Amazon konnte seine Finanzkraft in erheblichem Umfang nutzen, um durch Unternehmenskäufe bestehende Marktpositionen abzusichern, auszuweiten oder auf bisher nicht besetzten Märkten eine Geschäftstätigkeit aufzunehmen. Seit 1998 hat Amazon über 100 Unternehmen in den Bereichen Einzelhandels- und Marktplatzgeschäft, digitale Inhalte und Geräte sowie Cloud-Computing, Software und Robotik erworben, teilweise zu Kaufpreisen im dreistelligen Millionen- oder Milliardenbereich. Im Bereich digitaler Inhalte und Geräte nutzte Amazon die Geschäftstätigkeit erworbener Unternehmen - wie etwa LoveFilm und MGM für Prime Video, Audible, Twitch im Games-Streamingbereich, Blink und Ring im SmartHome Bereich, Wondery - als Grundlage für neue oder zur Erweiterung bestehender Geschäftstätigkeiten. Amazon hat vor allem dort, wo mit finanziellen Ressourcen eine Wettbewerbsposition befördert werden kann, erhebliche Spielräume und kann diese für Wettbewerbsvorteile nutzen. Das zeigt sich etwa an der Höhe der Investitionen zum Aufbau von Amazons Logistikgeschäft in Deutschland ( EUR binnen 10 Jahren). Zudem ermöglichen die vertikal integrierten und vielfältigen Geschäftstätigkeiten marktübergreifende Ausgleichsstrategien, da Amazon unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen in einzelnen Geschäftsbereichen intern ausgleichen kann.
Rz. 79
cc) Amazon hat nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Bundeskartellamts auch einen hervorragenden Zugang zu sonstigen Ressourcen, wobei insbesondere der Zugang zu der festgestellten hohen Anzahl von Amazon Kunden bei digitalen Geschäftsmodellen von besonderer Bedeutung ist. Die Möglichkeiten, die sich Amazon dadurch und durch die Vielzahl an Berührungspunkten mit Endkunden bieten, um sie übergreifend anzusprechen und für verschiedene Angebote des Konzerns zu gewinnen, werden etwa bei Amazon Prime, für Bundling-Angebote oder interne Werbemaßnahmen genutzt. Amazon ist nach den Feststellungen des Bundeskartellamts einer der größten Arbeitgeber weltweit und verfügt über einen sehr guten Zugang zu personengebundenem Know-how und personellen Ressourcen. Der Konzern ist in den unterschiedlichsten Forschungsgebieten tätig, so etwa in den Bereichen Cloud-Lösungen und -Systeme, Computer Vision, dialogorientierte künstliche Intelligenz und Verarbeitung natürlicher Sprache, Maschinelles Lernen, Quantum-Technologie, Robotik sowie Suche und Informationsbeschaffung. Schließlich weist die Marke Amazon eine überragende Bekanntheit und Reputation auf und gehört zu den wertvollsten Marken weltweit, wobei der Markenwert auf 684 Mrd USD im Jahr 2021 geschätzt wurde.
Rz. 80
dd) Diesen im angefochtenen Beschluss getroffenen Feststellungen sind die Beschwerdeführerinnen in der Sache nicht entgegengetreten. Soweit sie geltend machen, die Finanzkraft von Amazon sei kein zusätzlicher Wettbewerbsvorteil, der Amazon einen vom Wettbewerb nicht kontrollierten Handlungsspielraum verschaffe, insbesondere nicht auf dem vermeintlich relevanten Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler, und die meisten seiner Wettbewerber verfügten über erhebliche finanzielle Mittel, stellt dies die Bewertung des Bundeskartellamts nicht in Frage.
Rz. 81
(1) Aus dem Vortrag der Beschwerdeführerinnen ergibt sich schon nicht, dass die Finanzkraft der von den Beschwerdeführerinnen genannten Wettbewerber - Schwarz-Gruppe, eBay, Zalando, Ceconomy AG und Otto Group - an diejenige von Amazon heranreicht; das ist auch nicht ersichtlich. So belaufen sich die in der Beschwerdebegründung genannten Umsätze der Schwarz-Gruppe 2021 weltweit auf 153,8 Mrd USD (133,6 Mrd EUR) und damit auf weniger als die Hälfte von Amazons Umsätzen, sowie diejenigen der Ceconomy AG auf knapp 10 Mrd EUR (Geschäftsjahr 2020/2021). Die Höhe der Umsätze und Gewinne der übrigen Wettbewerber werden nicht genannt; angesichts der obigen Feststellungen ist indes ausgeschlossen, dass ihre Finanzkraft mit derjenigen von Amazon vergleichbar sein könnte.
Rz. 82
(2) Im Übrigen kommt es darauf auch nicht an. Denn dass einige Unternehmen - etwa die Schwarz-Gruppe, Zalando, Ceconomy AG und Otto Group - in den Aufbau von Online-Marktplätzen investieren und dafür erhebliche finanzielle Mittel aufwenden, sowie auch durch Unternehmenskäufe und die Vereinbarung von Joint Ventures gewachsen sind, steht der Beurteilung des Bundeskartellamts schon aus Rechtsgründen nicht entgegen. Da § 19a Abs. 1 GWB eine konkrete Wettbewerbsgefahr nicht voraussetzt, musste das Bundeskartellamt entgegen der Beschwerde keine Feststellungen zu etwaigen Strategien von Amazon zur Abschreckung von Wettbewerbern treffen.
Rz. 83
d) Das Bundeskartellamt hat im angefochtenen Beschluss zu Recht angenommen, dass Amazon über einen hervorragenden Zugang zu einer außerordentlich großen Menge wettbewerbsrelevanter Daten im Sinn des § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 GWB verfügt.
Rz. 84
aa) Der in § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, § 18 Abs. 3 Nr. 3 und § 18 Abs. 3a Nr. 4 GWB verwendete und im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen nicht definierte Begriff der wettbewerbsrelevanten Daten ist im Ausgangspunkt in allen genannten Vorschriften gleich auszulegen. Nach Sinn und Zweck sowohl des § 19a GWB als auch des § 18 GWB sind damit maschinenlesbare und speicherbare ("digitale") Informationen gemeint, unabhängig davon, ob sie personenbezogen (Art. 4 Nr. 1 DSGVO) oder nicht personenbezogen sind, aus welcher Quelle sie stammen und ob es sich um Rohdaten oder durch Verarbeitung gewonnene Daten handelt (vgl. BT-Drucks. 19/23492, S. 69, 74; Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 126d; Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 119; Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 18 GWB Rn. 60). Wettbewerbsrelevant im Sinn der Vorschriften können nur digitale Informationen sein, die von dem jeweiligen Normadressaten aufgrund der leichten Speicherbarkeit und Übertragbarkeit in hohen Volumina und mit großer Geschwindigkeit verarbeitet, ausgewertet und zusammengeführt werden können. Das Kriterium des Zugangs zu wettbewerbsrelevanten Daten gewinnt sodann wegen der unterschiedlichen weiteren Voraussetzungen von §§ 19, 18 Abs. 1, 3, 3a und 3b GWB einerseits und § 19a GWB anderseits bei der Anwendung dieser Vorschriften jeweils eine eigenständige Bedeutung. Für die Anwendung von §§ 19, 18 Abs. 1, 3, 3a und 3b GWB kommt es auf die Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern auf einem bestimmten Markt und in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Datenzugangs für die Tätigkeit auf diesem Markt an. Dagegen sind bei der Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung gemäß § 19a Abs. 1 GWB alle Möglichkeiten des Datenzugangs relevant, die einem Unternehmen auf allen seinen Tätigkeitsfeldern zur Verfügung stehen, sowie die (marktübergreifenden) Größen- und Ressourcenvorteile, die ihm dadurch erwachsen können. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen ist dabei keine genaue Quantifizierung der durch die Datennutzung ermöglichten Verstärkung von Marktmacht gegenüber Wettbewerbern erforderlich. Diese Voraussetzung stünde weder mit dem Wortlaut noch Sinn und Zweck von § 19a Abs. 1 GWB der Norm in Einklang. Es reicht für die Erfüllung des Kriteriums vielmehr aus, dass ein Unternehmen durch seine überragenden Größen- und Ressourcenvorteile und durch seine besondere strategische Positionierung Zugang zu einer außerordentlichen Menge wettbewerbsrelevanter Daten hat und diese Datenvorteile ihm erlauben, die Daten marktübergreifend einzusetzen (vgl. Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a Rn. 27).
Rz. 85
bb) Danach verfügt Amazon über einen überragenden Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten.
Rz. 86
(1) Der Konzern erhebt Daten seiner Kunden und Geschäftspartner (Nutzerdaten), Daten über die auf Amazon Store angebotenen Produkte und weitere Daten von und über Drittunternehmen. Amazon führt die Daten dienste- und quellenübergreifend zusammen. Diese (Roh-)Daten werden von Amazon - auch unter Anwendung von ökonometrischen Modellen - aggregiert und analysiert. Amazon setzt Daten auch in einer Vielzahl von Machine-Learning-Tools zur Unterstützung der Geschäftstätigkeit ein und leitet daraus weitergehende Informationen für Geschäftsentscheidungen ab.
Rz. 87
(a) Bei den Nutzerdaten handelt es sich um persönliche Informationen, Daten aus Such- und Bestellvorgängen, Standortinformationen, IP-Adressen, Geräteprotokolldateien und -konfigurationen, Interaktionen mit dem Alexa-Sprachdienst in Form von Sprachaufzeichnungen und anderen Amazon-Geräten oder -Diensten, Kommunikation mit Amazon, Downloads, Streams oder Uploads von Bildern, Videos oder anderen Dateien auf Prime Fotos, Amazon Drive oder anderen Amazon Services, Playlisten, Watchlisten, Wunschlisten, Geschenkverzeichnisse, Kundenbewertungen und die Nutzung des Benachrichtigungsservice für noch nicht erschienene Produkte, Unternehmens- und Finanzinformationen, Informationen zur Kreditgeschichte und Mehrwertsteuernummern. Gemäß der Datenschutzerklärung des Amazon Store erfasst und analysiert Amazon ferner unter anderem die Bestell- und Inhaltsnutzungshistorie des Nutzers, den kompletten Uniform Resource Locator (URL)-Clickstream zu, durch und aus der Webseite amazon.de sowie Informationen über Computer, Geräte und Verbindungen. Ferner nutzt Amazon Gerätekennungen, Cookies und ähnliche Technologien auf Geräten, Apps und den von Amazon betriebenen Webseiten, um Browsing-, Nutzungs- und andere Informationen zu erheben.
Rz. 88
(b) Amazon erhält zudem Informationen von Dritten, wie aktualisierte Informationen über Bestell- und Lieferadressen von Transportunternehmen, über Konten, Kauf- und Zahlungsverhalten, Page View Informationen oder andere Informationen über Nutzerinteraktionen mit Dritten, mit denen Amazon gemeinsame Angebote unterhält oder für die Amazon technische, Erfüllungs-, Zahlungs-, Werbe- oder andere Dienstleistungen anbietet, Informationen über Nutzerinteraktionen mit Produkten und Dienstleistungen von Amazon, Suchergebnisse und Links, einschließlich bezahlter Listungen, Informationen über mit dem Internet verbundene Geräte und Dienste, die Nutzer mit Alexa verbunden haben, und Auskünfte von Kreditauskunfteien bezüglich der Kreditgeschichte von Nutzern.
Rz. 89
(c) Amazon steht ferner eine Vielzahl von Daten über auf Amazon Store angebotene Produkte zur Verfügung. Neben öffentlichen Informationen wie etwa Angebotspreisen, Produktbeschreibungen, Rankings, Kundenbewertungen, Produkteigenschaften, Steuern und unverbindlichen Preisempfehlungen der Hersteller hat Amazon vor allem im Zusammenhang mit Amazon Store und damit verbundenen Diensten auch Zugriff auf nicht öffentliche Daten wie etwa Seitenaufrufe der jeweiligen Produktdetailseiten (sogenannte Glance Views), Verkaufszahlen und -mengen, Kostenbestandteile von Produkten (variable Betriebskosten, Fixkosten der Logistikzentren, Marketingzuschüsse und Kosten im Zusammenhang mit der Rückgabe von Waren und dem Kundendienst) sowie den Nachbestellstatus.
Rz. 90
(d) Über diese sich aus dem Betrieb von Amazon Store ergebenden Informationsquellen hinaus erlangt Amazon auch auf anderen Wegen in erheblichem Umfang Daten. Amazon erhält Daten mittels seines Sprachassistenten Alexa, wenn Geräte Dritter diesen nutzen und zu diesem Zweck integrieren, etwa Informationen über den Gerätetyp, die Konfiguration von Komponenten, die Art der Audioauslösung und die verwendete Alexa-Softwareversion, sowie - bei Verknüpfung des Geräts mit dem Alexa-Dienst - Informationen über den Typ, die Funktionen und den Betriebsstatus des Geräts. Bei den für sein eigenes Einzelhandelsgeschäft und für die Dritthändler bereitgestellten Logistikdienstleistungen erhält Amazon von Versanddienstleistern diverse Sendungsinformationen über eine Datenschnittstelle, wie etwa die Sendungsverfolgungshistorie, voraussichtliches Zustelldatum, Beschreibung der Zustellung sowie über das Programm Buy Shipping eine Beschreibung der angebotenen Versandarten, Tarife und andere Gebühren für Transportdienstleistungen, Transportbedingungen und Informationen zur Paketversicherung. Über das Programm Advertiser Audience bekommt Amazon von Werbetreibenden pseudonymisierte Zielgruppeninformationen, die durch auf Webseiten platzierte Pixel entstehen. Durch den Betrieb von Amazon Web Services hat der Konzern Zugang zu Daten über deren Nutzer und Angebote, etwa die Nutzung der Angebote, Auftreten technischer Fehler, Diagnoseberichte, Einstellungspräferenzen, Backupinformationen, Protokolldateien, Daten zu den von den Nutzern angesehenen oder gesuchten Inhalten, Angaben zur Seiteninteraktion und sonstigen Interaktionen mit Inhalten.
Rz. 91
(2) Die erhebliche Wettbewerbsrelevanz der von Amazon erhobenen und verarbeiteten Daten ergibt sich daraus, dass Amazon Zugriff auf eine außerordentlich große Menge von Daten hat, die sich aus vielen verschiedenen Datenquellen speisen, eine Vielzahl an Datenarten abdecken und auch im Hinblick auf Genauigkeit, Vollständigkeit und Konsistenz, mithin Verlässlichkeit und Aussagekraft (sogenannte "Datenwahrhaftigkeit"), von hoher Qualität sind.
Rz. 92
(a) Amazon kann angesichts seiner festgestellten weltweiten Nutzerzahlen (Endkunden, Dritthändler, Werbekunden, Logistikunternehmen) und der Zahl der auf Amazon Store angebotenen Produkte Daten von und über eine überragend große Anzahl von Nutzern und Produkten in zahlreichen Märkten erheben. Die Nutzerzahlen von mit Amazon Store im Wettbewerb stehenden Plattformen und die Anzahl der dort erhältlichen Produkte reichen an diejenigen von Amazon wie dargestellt nicht heran. Der Zugang zu Daten in diesem Umfang und dieser Qualität ist für Amazons Geschäftsmodell insbesondere wegen den daraus resultierenden Möglichkeiten für die stetige Verbesserung und Ausweitung seiner Dienste sowie für Empfehlungssysteme und die Personalisierung der Dienste von großer Bedeutung. Dazu trägt insbesondere bei, dass Amazon Daten dienstübergreifend erheben, miteinander kombinieren, auch in anderen Tätigkeitsfeldern einsetzen und dadurch datengetriebene indirekte Netzwerkeffekte ausnutzen kann. Diese erleichtern und fördern zudem Innovationen und die Erweiterung der Geschäftstätigkeiten Amazons auf weiteren Märkten. Wettbewerber, die nicht über einen solchen Datenzugang verfügen, können datengetriebene indirekte Netzwerkeffekte nicht in gleichem Maße nutzen. Darüber hinaus können sich wettbewerbliche Vorteile auch daraus ergeben, dass Amazon auf verschiedenen miteinander verbundenen Märkten in Doppelrollen tätig ist, etwa als Intermediär und als Anbieter.
Rz. 93
(b) Zielgerichtete Werbung kann durch den Einsatz solcher Daten optimiert werden und profitiert von Verbundvorteilen, etwa um Neu- und Bestandskunden eines Angebots über einen anderen Kanal zu erreichen. Amazon kann dritten Werbetreibenden sowohl kontextbezogene Werbung anbieten, für die gerätebezogene Informationen wie Betriebssystem und Geolokalisierung verwendet werden, als auch interessenbasierte und personalisierte Werbung, für die Amazon Nutzerdaten wie Informationen über die Suche nach und den Kauf von Produkten oder Dienstleistungen auf Amazon Store zur Bildung von Zielgruppen verwendet. Dabei wird dieses Angebot umso wertvoller, je mehr Daten erhoben und je mehr Daten aus verschiedenen Quellen kombiniert werden können, wobei Amazon auch Interaktionen der Kunden mit anderen Amazon-Diensten berücksichtigen kann. Die Effizienz und der Wert der Werbung können anhand verschiedener Daten gemessen und dabei umso besser bestimmt werden, je mehr Daten über Werbemaßnahmen vorliegen.
Rz. 94
(c) Die Amazon zugänglichen Daten ermöglichen auch die Erweiterung des Dienste- und Produktportfolios, wobei der Eintritt in andere Märkte durch Größen- und Verbundeffekte erleichtert wird, wie etwa die Verfügbarkeit einer ausgereiften informationstechnischen Infrastruktur, dem umfassenden Zugang zu Nutzerprofilen und dem daraus folgenden Wissen über Konsumentenpräferenzen. Ferner erlauben Nutzerprofile und Erkenntnisse zum Nutzerverhalten und zu Nutzerpräferenzen eine Individualisierung von Produkten und Diensten und die Anzeige von Produkt- oder Kaufempfehlungen. Steigern diese den Nutzen, erhöhen sich die Wechselkosten für die Nutzer, sofern Nutzerprofile nicht ohne weiteres portiert werden können. Amazon profitiert auch von Verbundvorteilen, da Software-Tools für Empfehlungen auf Amazon Store Informationen über Inhalte von einzelnen Amazon-Diensten berücksichtigen, die heruntergeladen, gestreamt oder angesehen werden. Je granularer der Datensatz ist, welcher für Empfehlungssysteme zur Verfügung steht, umso relevanter werden die erstellten Empfehlungen. Zusätzliche Daten über einen Nutzer oder ein Produkt üben dabei eine positive Externalität auf andere Nutzer aus, da deren Empfehlungen dadurch ebenfalls präziser werden. Danach bestehen erhebliche datengetriebene Netzwerkeffekte und Nutzer-Feedbackschleifen.
Rz. 95
cc) Den dargestellten Möglichkeiten von Amazon, Daten zu erheben, zu verarbeiten, zu aggregieren und zu nutzen, treten die Beschwerdeführerinnen in der Sache nicht entgegen (zu den durch die Anwendung des Digital Markets Act und die Kommissionsentscheidung vom 20. Dezember 2022 eingetretenen Beschränkungen siehe unten Rn. 159 bis 161; 188 bis 190). Ihre gegen die Beurteilung des Bundeskartellamts erhobenen Einwände greifen nicht durch.
Rz. 96
(1) Es trifft nicht zu, dass sich die Position von Amazon qualitativ nicht von derjenigen der Wettbewerber unterscheidet. Zwar nutzen alle Unternehmen ihnen zugängliche Daten, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen. Dabei kann unterstellt werden, dass Wettbewerber wie Otto, die Schwarz-Gruppe und eBay ebenfalls Zugang zu quantitativ und qualitativ hochwertigen Daten haben und die Analyse der nachgelagerten Auswirkungen bestimmter Handlungen (Downstream Impact) oder des Lebenszeitwerts eines Produkts oder einer Kundenbeziehung weit verbreitete datenwissenschaftliche Modelle darstellen. Es kann ferner davon ausgegangen werden, dass die Verwendung von Kundeninformationen für Video-Streaming-Dienste zur Erstellung von Vorschlägen auf Grundlage des bisherigen Nutzerverhaltens marktübliche Praxis ist, dasselbe für das Sprachtraining des Sprachassistenten Alexa gilt, Logistikdienstleister zur Abschätzung der Nachfrage hochentwickelte Modelle und Annahmen auf Grundlage jahrzehntelanger regionaler, nationaler und internationaler Erfahrung und den insoweit vorliegenden Daten verwenden und auch andere Arten der Datennutzung, wie die Geolokalisierung zur Generierung von Empfehlungen, marktüblich sind.
Rz. 97
(2) Die Beschwerdeführerinnen lassen aber außer Acht, dass Amazon aufgrund der Größen- und Ressourcenvorteile des Konzerns und der Vielfalt seiner Geschäftstätigkeiten Zugang zu einer überragenden Menge von Daten aus den verschiedensten Geschäftsfeldern hat, die miteinander kombiniert, ausgewertet und marktübergreifend genutzt werden können. Entsprechende Möglichkeiten stehen Wettbewerbern, die nicht in vergleichbarem Maße vertikal integriert sind und deren Geschäftstätigkeiten keine vergleichbare Breite erreichen, nicht zur Verfügung. Angesichts der Datenbreite und Datentiefe, über die Amazon verfügt, kommt es auch nicht darauf an, dass mehr Daten aus mehr Einkaufsvorgängen nicht zwingend zu einem wesentlichen zusätzlichen Erkenntnisgewinn oder einer besseren datenbasierten Entscheidungsfindung führen. Das mag sein, stellt aber die überragende Qualität und Quantität der für den Konzern verfügbaren Daten nicht in Frage.
Rz. 98
(3) Die von den Beschwerdeführerinnen geforderte, über die Feststellungen zum qualitativen Vorsprung Amazons im Hinblick auf Datenbreite und Datentiefe hinausgehende Quantifizierung und der - weitergehende - Vergleich mit den Wettbewerbern des Konzerns sind bei der Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung eines Unternehmens für den Wettbewerb gemäß § 19a Abs. 1 GWB nicht erforderlich. Insbesondere ist nicht im Einzelfall nachzuweisen und zu quantifizieren, dass die Daten zur Verstärkung von Marktmacht im Wettbewerb mit anderen Unternehmen führen oder zur Hebelung von Marktmacht in neue Geschäftsaktivitäten genutzt werden können. Es ist daher unschädlich, dass der Beschluss nicht im Einzelnen darlegt, auf welche Weise Amazon Händlerinformationen nutzt, um sein Eigenmarkenangebot oder die Einführung neuer Produkte zu optimieren. Auch musste das Bundeskartellamt über die getroffenen Feststellungen hinaus keine Analyse vornehmen, über welche Daten die Wettbewerber in welchen Märkten (genau) verfügen, ob sie benötigte Daten erwerben können, und ob die Amazon zugänglichen Daten ein unüberwindbares Hindernis für den Markteintritt von Wettbewerbern darstellen (dazu, dass § 19a Abs. 1 GWB keine konkrete Wettbewerbsgefahr oder -beeinträchtigung voraussetzt, vgl. oben Rn. 43 bis 49). Das Vorbringen der Beschwerde, Amazon gleiche Datenvorteile gegenüber Händlern und anderen Geschäftspartnern aus, indem Amazon sie, etwa durch das Teilen von Informationen, in die Lage versetze, ihre Geschäfte auszubauen und auf dem Markt zu konkurrieren, ist aus diesem Grund nicht geeignet, die Wertung des Bundeskartellamts in Frage zu stellen.
Rz. 99
e) Zutreffend hat das Bundeskartellamt angenommen, die Tätigkeit von Amazon habe erhebliche Bedeutung für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten und erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter im Sinn von § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 GWB. Das gilt nach den Feststellungen des Bundeskartellamts im angefochtenen Beschluss für den Zugang von Dritthändlern (einschließlich der Markenhersteller) zu Amazon Marketplace, für den Zugang zu Absatz- und Beschaffungsmärkten für Versand- und Logistikdienstleistungen sowie im Bereich des sogenannten Internet of Things. Die dagegen erhobenen Einwände der Beschwerdeführerinnen, insbesondere, die Geschäftstätigkeit von Amazon sei angesichts der verschiedenen Vertriebskanäle, über die Dritthändler (einschließlich der Markenhersteller) Kunden erreichen könnten, für den Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten nicht relevant, sowie die von Amazon gesetzten Standards seien aufgrund der technischen Funktionalität, im Kundeninteresse oder zur Erfüllung rechtlicher Anforderungen erforderlich, sind nicht geeignet, die Bewertung des Bundeskartellamts in Frage zu stellen.
Rz. 100
aa) Das Kriterium des § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 GWB nimmt - ebenso wie § 18a Abs. 3b GWB - die Abhängigkeit der Geschäftspartner des Normadressaten in den Blick (Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 123). Ihm kommt im Hinblick auf den Sinn und Zweck des § 19a GWB, eine besondere Missbrauchsaufsicht über den kleinen Kreis von Unternehmen zu gewährleisten, deren Ressourcen und strategische Positionierung es ihnen ermöglichen, erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter zu nehmen, besondere Bedeutung zu. Auch hier ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ("die Bedeutung seiner Tätigkeit", "sein damit verbundener Einfluss"), dass es lediglich auf die wettbewerblichen Möglichkeiten ankommt, die durch Intermediärs- und Regelsetzungsmacht entstehen. Insbesondere ist kein Nachweis erforderlich, dass die Machtstellung in wettbewerbswidriger, unfairer oder diskriminierender Weise genutzt wird, also eine konkrete Wettbewerbsgefahr oder -beeinträchtigung besteht (siehe oben Rn. 43 bis 49). Die Annahme einer (überragenden) Bedeutung für den Zugang Dritter zu Absatz- und Beschaffungsmärkten und eines (überragenden) Einflusses auf ihre Geschäftstätigkeit wird daher entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen nicht dadurch ausgeschlossen, dass in Ausübung der Intermediärs- und Regelsetzungsmacht verwendete Allgemeine Geschäftsbedingungen gleiche Bedingungen für alle gewährleisten, das Kundeninteresse an der Qualität des Marktplatzangebots befriedigen und ein sogenanntes "Trittbrettfahren" verhindern sollen. Die Intermediärs- und Regelsetzungsmacht kann bemessen werden nach der Anzahl und wirtschaftlichen Relevanz der vermittelten Geschäfte, insbesondere ihrem Anteil am Gesamtvolumen und der den Geschäftspartnern zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, stattdessen vergleichbare Dienste zu nutzen (vgl. Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a GWB Rn. 28). Bestehen für die Nutzer solche Ausweichmöglichkeiten, kann dies - aus den gleichen Erwägungen wie bei § 18 Abs. 3a Nr. 2 GWB - eine bestehende Regelsetzungsmacht abschwächen. Dabei muss es sich allerdings um vergleichbare Dienste handeln. Das ist nicht der Fall, wenn mehrere Dienste für unterschiedliche Bedürfnisse verwendet werden (vgl. BT-Drucks. 18/10207, S. 50; Götting in BeckOK Kartellrecht, Stand 1. Juni 2020, § 18 GWB Rn. 66; Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 145b).
Rz. 101
bb) Danach hat das Bundeskartellamt zutreffend angenommen, dass Amazons Tätigkeit als Betreiber von Amazon Marketplace erhebliche Bedeutung für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten hat. Entgegen der Beschwerde geht es dabei nicht davon aus, dass Amazon in allen Fällen, in denen der Konzern Allgemeine Geschäftsbedingungen verwendet, unangemessen in die Rechte der Dritthändler eingreift.
Rz. 102
(1) Amazon verfügt als Betreiber von Amazon Marketplace weltweit und in Deutschland über eine Schlüsselposition für den Zugang von Einzelhändlern zu Absatzmärkten und kann erheblichen Einfluss auf die Vertriebstätigkeit von Dritthändlern ausüben. Amazon gestaltet über seine Allgemeinen Geschäftsbedingungen den Zugang zu Amazon Marketplace einschließlich der Zahlungsabwicklung. Der Konzern trifft ferner Regelungen, die die kaufvertraglichen Beziehungen der Dritthändler zu den Endkunden betreffen. Nach den Feststellungen des Bundeskartellamts, denen die Beschwerde in der Sache nicht entgegengetreten ist, müssen etwa Inhalt und Umfang der Käuferrechte teilweise dem Standard entsprechen, den Amazon selbst seinen Käufern als Einzelhändler gewährt. Amazon stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, Dritthändler zu veranlassen, Regelungen zu beachten, so etwa die Verhängung vertraglicher Sanktionen, Sperrungen oder nach Kündigung der dauerhafte Ausschluss vom Vertrieb über Amazon Marketplace. Einflussmöglichkeiten bestehen ferner durch die Festlegung der Kriterien für die Ranking- und Auswahlprozesse bei der Hervorhebung eines bestimmten Angebots (sogenanntes Featured Offer oder "Buy Box") einschließlich der Preisgestaltung (zu den durch die Kommissionsentscheidung vom 20. Dezember 2022 und den Digital Markets Act seit Erlass des angefochtenen Beschlusses eingetretenen Veränderungen siehe unten Rn. 159 bis 161; 188 bis 190). Der Einwand der Beschwerdeführerinnen, dies sei kein Ausdruck von Regelsetzungsmacht, sondern das Featured Offer diene dem Kundeninteresse daran, schnell ein passendes Angebot aufzufinden, ist nicht geeignet, Amazons Regelsetzungsmacht in Frage zu stellen. Durch die von Amazon entwickelten Kriterien für den Ranking- und Auswahlprozess kann Amazon die Geschäftstätigkeit der Dritthändler maßgeblich beeinflussen. Darauf, wie dies geschieht und welche Ziele mit dem Featured Offer verfolgt werden, kommt es bei Anwendung des § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 GWB nicht an. Es erlangt (erst) bei hier nicht gegenständlichen Verfügungen nach § 19a Abs. 2 GWB Bedeutung.
Rz. 103
(2) Die Anzahl und die wirtschaftliche Relevanz der von Dritthändlern über Amazon Marketplace durchgeführten Transaktionen und die Amazon dadurch vermittelte Intermediärs- und Regelsetzungsmacht ist erheblich. Wie ausgeführt waren allein auf Amazon Marketplace Deutschland etwa Artikel erhältlich, Amazon Marketplace Deutschland hatte monatlich aktive Kunden, und im 4. Quartal 2020 waren Dritthändler registriert. Amazon Store Deutschland wies 2020 ein Gesamthandelsvolumen (alle Nettoumsätze aus sämtlichen Kauftransaktionen auf der Handelsplattform ohne Versandkosten, Kosten für Verpackungen und Erstattungen) von knapp EUR auf, wobei etwa EUR auf Amazons Einzelhandelsgeschäft und EUR auf Amazon Marketplace entfielen. Das auf anderen Handelsplattformen erzielte Gesamthandelsvolumen blieb weit dahinter zurück. eBay erreichte bezogen auf das Gesamthandelsvolumen aller Dritthändler 2020 einen Marktanteil von [20-30] %, die übrigen Marktplätze Marktanteile zwischen [0-5] %. Darauf, dass - wie die Beschwerdeführerinnen geltend machen - Dritthändler für ihren Zugang zu Einzelhandelsmärkten nicht von Amazon abhängig seien, weil sie über eine Vielzahl von alternativen Vertriebskanälen und Einkaufsmöglichkeiten verfügten, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an, weil es sich dabei nicht um vergleichbare Dienste handelt (siehe dazu unten Rn. 114 bis 131). Die angesichts der Anzahl und wirtschaftlichen Bedeutung der über Amazon Marketplace vermittelten Geschäfte bestehende erhebliche Regelsetzungsmacht Amazons könnte nur dadurch geschwächt werden, dass Dritthändler auf anderen Online-Marktplätzen ohne weiteres Umsätze erzielen, die ihren Umsätzen auf Amazon Marketplace gleichkommen oder sie übertreffen. Das ergibt sich aber nicht aus den von den Beschwerdeführerinnen vorgelegten Beweismitteln. Die in Tabelle 13 der Amazon Seller Survey (Auswertung 2023) genannten Umsatzanteile entsprechen vielmehr im Wesentlichen den vom Bundeskartellamt in der Marktplatzbefragung ermittelten und oben nach dem Gesamthandelsvolumen dargestellten Marktanteilen. Dies sowie die nach den festgestellten Nutzer- und Umsatzzahlen sowie Gesamthandelsvolumina anzunehmende hohe Reichweite, Kundenbindung und wirtschaftliche Bedeutung von Amazon Marketplace rechtfertigen den vom Bundeskartellamt gezogenen Schluss, Amazon Marketplace werde vorrangig und in einem solch starken Maß genutzt, dass eine tatsächlich bestehende Wechselmöglichkeit in dem Sinn, dass ein Händler auf Amazon Marketplace verzichten könnte, nicht anzunehmen ist (siehe auch unten Rn. 143 bis 145).
Rz. 104
(3) Zu Recht hat das Bundeskartellamt ferner angenommen, dass Amazon auch gegenüber Herstellern, insbesondere auch Markenherstellern, über erhebliche Einflussmöglichkeiten verfügt, beispielsweise durch das Markenregistrierungsprogramm (Amazon Brand Registry Program) und die von Amazon verwendete sogenannte Herstellerrichtlinie.
Rz. 105
(a) Das Bundeskartellamt geht zutreffend davon aus, dass es für Hersteller angesichts der großen Zahl von Endkunden, die Amazon Marketplace zur Suche oder zum Kauf nutzen, wichtig ist, dass ihre Marken und Produkte dort angeboten werden, damit sie wahrgenommen und bei Kaufentscheidungen berücksichtigt werden können. Zudem bietet Amazon nach den Feststellungen des Bundeskartellamts, denen die Beschwerdeführerinnen nicht entgegengetreten sind, mittlerweile in fast allen Produktkategorien eine beständig zunehmende Anzahl von Produkten unter eigener Marke an. Dabei handelt es sich neben Geräten wie etwa Fire TV und Echo um Produkte in den Kategorien Home und Softline Private Label. Da Amazon die Möglichkeit hat, seine eigenen Produkte im Amazon Store verstärkt zu bewerben, nimmt das Bundeskartellamt ferner zu Recht an, es werde auch aus diesem Grund für andere Hersteller immer wichtiger, auch ihre Produkte auf Amazon Marketplace anzubieten und dort die Präsentation und den Vertrieb ihrer Produkte sowie die Darstellung ihrer Marke zu steuern. Auch insoweit bestehen nach den Feststellungen des Bundeskartellamts Einflussmöglichkeiten von Amazon, weil Amazon Herstellern in einem von Amazon gesetzten Rahmen unter anderem Möglichkeiten einer Steuerung und Kontrolle der Präsentation ihrer Marke und ihrer Produkte im Amazon Store eröffnet und Hersteller damit einhergehend bestimmten Verpflichtungen unterwirft.
Rz. 106
(b) Dass Markeninhaber demgegenüber den Verkauf ihrer Produkte auf Online-Marktplätzen regelmäßig zu verhindern suchen, wie die Beschwerdeführerinnen geltend machen, ergibt sich nicht aus den in Anlage 102 vorgelegten Stellungnahmen. Der Stellungnahme von Brands for Europe (Rn. 123) lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass es für Hersteller wesentlich ist, auf Online-Marktplätzen vertreten zu sein und ein wichtiger Teil der Verkäufe auf Online-Marktplätzen stattfindet. Aus weiteren Stellungnahmen ergibt sich nur, dass Hersteller oft eigene Online-Shops betreiben (Deutscher Handelsverband e.V., S. 3), oder dass eine Klärung der Rechtslage im Hinblick auf die Entscheidung des Unionsgerichtshofs vom 6. Dezember 2017 (C-230/16 - Coty) gewünscht wird (European Brands Association, S. 74). Lediglich Hersteller von Luxusgütern, wie etwa bestimmter Marken der Parfümerie und Kosmetik, sprechen sich für die Möglichkeit eines Verbots von Verkäufen auf Online-Marktplätzen aus.
Rz. 107
(c) Die Behauptung der Beschwerdeführerinnen, Markeninhaber suchten den Verkauf ihrer Produkte auf Online-Marktplätzen regelmäßig zu verhindern, wird auch nicht durch ihren Verweis auf Art. 4 Buchst. e der Verordnung (EU) 2022/720 der Kommission vom 10. Mai 2022 über die Anwendung des Artikels 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen (ABl. EU Nr. L 134 vom 11. Mai 2022; nachfolgend: Vertikal-GVO) und Randnummern 206 ff. der Leitlinien für vertikale Beschränkungen (2022/C 248/01, ABl. EU C 248 vom 30. Juni 2022, S. 1 bis 85) bestätigt. Diese sehen bei einem Alleinvertriebssystem oder einem selektiven Vertriebssystem (vgl. Art. 4 Buchst. b, c, d, e Vertikal-GVO) lediglich die Möglichkeit vor, Vertriebshändlern den Verkauf auf Online-Marktplätzen zu verbieten. Dass Markeninhaber regelmäßig von dieser Möglichkeit Gebrauch machten und den Verkauf ihrer Produkte auf Online-Marktplätzen regelmäßig zu verhindern suchten, ergibt sich daraus indes nicht. Das folgt auch nicht daraus, dass nach Art. 4 Buchst. e Vertikal-GVO in Verbindung mit Randnummern 206 ff. der Leitlinien die wirksame Nutzung des Internets zum Verkauf der Vertragswaren oder -dienstleistungen nicht (vollständig) verhindert werden darf. Entgegen der Beschwerde kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, die Leitlinien gingen (generell) davon aus, dass Markenhersteller und deren Händler auch ohne Marktplätze Kunden finden und Webverkehr auf ihre eigenen Webseiten lenken könnten, sowie, dass Online-Marktplätze für eine effektive Nutzung des Internets (gerade) nicht notwendig seien. Art. 4 Vertikal-GVO sieht auch hier lediglich die Möglichkeit vor, beim Alleinvertrieb oder selektiven Vertrieb Anforderungen in Bezug auf die Art und Weise vorzuschreiben, wie Vertragswaren oder -dienstleistungen online verkauft werden dürfen.
Rz. 108
cc) Das Bundeskartellamt hat auch zutreffend angenommen, indem Amazon den auf Amazon Marketplace tätigen Dritthändlern umfassende Logistikdienstleistungen anbiete, habe das Unternehmen für Dritthändler und Versanddienstleister erhebliche Bedeutung für den Zugang zu Absatz- und Beschaffungsmärkten für Versand- und Logistikdienstleistungen. Das ergibt sich schon aus dem oben dargestellten Geschäftsvolumen des Logistikbereichs sowie daraus, dass Amazon die Bedingungen für die Inanspruchnahme der Logistikdienstleistungen durch die Dritthändler bei der Inanspruchnahme des Fulfillment by Amazon Program (FBA) oder des Seller Fulfilled Prime Program (SFP) ausgestaltet. Im Buy Shipping müssen wiederum Versanddienstleister, um entsprechende Versandaufträge zu erhalten, eine Vermittlungsgebühr an Amazon zahlen und die Bedingungen, die Amazon für die Versandprogramme gesetzt hat, beachten. Dem sind die Beschwerdeführerinnen in der Sache nicht entgegengetreten. Soweit sie geltend machen, FBA und SFP seien keine Voraussetzungen für den Zugang zu Amazon Prime Kunden, für den Erhalt des Featured Offer und eine bessere Händlerbewertung, legt der Beschluss das nicht zugrunde. Er geht lediglich auf der Grundlage des insoweit von Amazon nicht bestrittenen Sachverhalts davon aus, dass Amazon Anreize zur Teilnahme an den Programmen setzt. Wie bereits ausgeführt, steht der Annahme von Regelsetzungsmacht indes nicht entgegen, dass Amazon sachliche Gründe für die Ausgestaltung seiner Qualitäts- und Programmkriterien hat. Es kommt auch nicht darauf an, ob Amazon Dritthändler dabei benachteiligt.
Rz. 109
dd) Schließlich kommt der Tätigkeit von Amazon nach den zutreffenden Annahmen des angefochtenen Beschlusses auch im Bereich des Internet of Things für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten Bedeutung zu und hat Amazon auch insoweit Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter.
Rz. 110
(1) Wie ausgeführt ist Amazon mit Alexa einer von drei führenden Anbietern von Sprachassistenten. Es sind über 100.000 Sprachanwendungen über Alexa verfügbar, und Alexa ist mit über 140.000 Smart-Home-Produkten kompatibel. Das Bundeskartellamt hat zutreffend angenommen, Anbieter von Sprachassistenten könnten den technischen und inhaltlichen Rahmen vorgeben, den andere Unternehmen erfüllen müssen, um die Kompatibilität ihrer Produkte mit den Sprachassistenten zu gewährleisten und dadurch Endverbraucher zu erreichen. Sie können den Kontakt von Sprachanwendungen sowie Geräteanbietern zu Endkunden und den Zugang zu kundenbezogenen Daten beeinflussen. Durch die Voreinstellung eines (konzerneigenen) Dienstes wie etwa Amazon Musicoder Alexa Shopping sowie durch Kriterien und Algorithmen, die die Auswahl des Verbrauchers entscheidend beeinflussen können, entsteht für Anbieter von Sprachassistenten eine Regelsetzungsmacht.
Rz. 111
(2) Soweit die Beschwerdeführerinnen demgegenüber einwenden, das Geräteportfolio von Amazon und die perspektivische Bedeutung von Alexa für den Geschäftserfolg Dritter verschaffe Amazon nicht die Möglichkeit, den Zugang zum Internet of Things zu kontrollieren, Amazon komme daher keine entsprechende Gatekeeper-Rolle und Regelsetzungsmacht zu, sondern die Interoperabilität, die Förderung des Multi Homing und die von Apple und Google errichteten Hürden stünden einer überragenden marktübergreifenden Bedeutung Amazons entgegen, kommt es darauf für § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 GWB nicht an. Es reicht aus, dass Amazon über die Voreinstellungen des Sprachassistenten Alexa und die Zertifizierungs- und Qualitätsanforderungen Bedeutung für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten hat und Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter nehmen kann. Bei der Gesamtwürdigung ist zu beurteilen, ob die Regelsetzungsmöglichkeiten einen Umfang und ein Gewicht erreichen, das in der Gesamtschau die Annahme einer überragenden marktübergreifenden Bedeutung rechtfertigt. Aus diesem Grund war eine Einordnung der genannten Nutzerzahl von Alexa im Verhältnis zu den Wettbewerbern im Beschluss nicht erforderlich. Schließlich spielen auch die Gründe für bestimmte Voreinstellungen des Sprachassistenten keine Rolle. Diese können allenfalls bei der Anwendung von § 19a Abs. 2 GWB Bedeutung erlangen.
Rz. 112
f) Das Bundeskartellamt hat auf der Grundlage der dafür erforderlichen Gesamtbetrachtung (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 37 mwN - Facebook I) zutreffend angenommen, dass Amazon über eine marktbeherrschende Stellung (§ 18 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3, 3a und 3b GWB) auf dem räumlich auf Deutschland begrenzten Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler verfügt und damit auch das Kriterium des § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GWB erfüllt ist. Marktbeherrschend ist ein Unternehmen nach § 18 Abs. 1 GWB, wenn es als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen auf dem sachlich und räumlich relevanten Markt ohne Wettbewerber ist, keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist oder eine im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern überragende Marktstellung hat.
Rz. 113
aa) Die vorgenommene Marktabgrenzung ist nicht zu beanstanden. Zutreffend legt das Bundeskartellamt als sachlich relevanten Markt den Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler zugrunde. Die von den Beschwerdeführerinnen dagegen erhobenen Einwände greifen nicht durch.
Rz. 114
(1) Der sachlich relevante Markt ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach dem Bedarfsmarktkonzept und damit aus der Sicht der Nachfrager abzugrenzen. Dem relevanten Markt sind danach alle Produkte und Dienstleistungen zuzurechnen, die aus Sicht der Nachfrager nach Eigenschaft, Verwendungszweck und Preislage zur Deckung eines bestimmten Bedarfs austauschbar sind (st. Rspr., siehe etwa BGH, Beschlüsse vom 4. März 2008 - KVR 21/07, BGHZ 176, 1 Rn. 15 - Soda-Club II; vom 2. Februar 2010 - KVZ 16/09, WUW/E DE-R 2879 [juris Rn. 42] - Kosmetikartikel; vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 23 mwN - Facebook I; Urteile vom 14. Dezember 2021 - KZR 23/18, NZKart 2022, 154 Rn. 10 - Kabelkanalanlagen II, vom 8. Februar 2022 - KZR 8/21, juris Rn. 41 - Trassenentgelte Sachsen/Thüringen).
Rz. 115
(2) Danach ist das Bundeskartellamt zutreffend davon ausgegangen, dass es für die sachliche Marktabgrenzung auf die Dienstleistungen ankommt, die gewerblichen Händlern auf einem Online-Marktplatz angeboten werden.
Rz. 116
(a) Das Leistungsangebot eines Online-Marktplatzes besteht in der Bereitstellung einer Transaktionsplattform sowie korrespondierenden Leistungen für die Händler wie der Bereitstellung von informationstechnischen Dienstleistungen für Produktpräsentation, Verkaufsauswertungen, Zahlungsabwicklung und Beschwerdemanagement. Für das Leistungsangebot verlangen Online-Marktplätze - teilweise neben pauschalen Grundgebühren - transaktionsbezogene Verkaufsprovisionen und gegebenenfalls weitere Gebühren für Zusatzleistungen wie Versanddienstleistungen. Kern der Leistung ist damit die Eröffnung des Zugangs zu einem wegen seines digitalen Charakters räumlich (jedenfalls) ein ganzes Staatsgebiet umfassenden (zur räumlichen Marktabgrenzung siehe unten Rn. 132 bis 138) und zeitlich durchgehend geöffneten digitalen Marktplatz mit einem bestimmten Kundenstamm, auf dem unmittelbar Transaktionen erfolgen können. Online-Marktplätze bieten Endkunden ein als sicher empfundenes Einkaufsumfeld mit zahlreichen Vorteilen. Die Endkunden profitieren von dem großen Produktangebot und der damit einhergehenden Möglichkeit eines umfassenden Produkt- und Preisvergleichs, den beim Marktplatzanbieter hinterlegten Lieferdaten und ihrer Bestellhistorie sowie von den umfangreichen Produktinformationen, einschließlich der bereitgestellten Produkt- und Verkäuferbewertungen und den einheitlichen Standards wie etwa bei der Abwicklung von Kundenbeschwerden. Ferner müssen die persönlichen Angaben für die gewählte Zahlungsmethode im Nutzerkonto nur einmal beim Online-Marktplatz und nicht bei vielen verschiedenen Online-Händlern hinterlegt werden.
Rz. 117
(b) Nicht austauschbar mit diesem Leistungsangebot nach Eigenschaft, Verwendungszweck und Preis ist damit aus der (objektiven) Sicht der gewerblichen Händler der stationäre Vertrieb, mit dem Kunden nur bis etwa 30 km um das Ladengeschäft herum erreicht werden können. Der Aufbau und Betrieb eines oder mehrerer stationärer Ladengeschäfte ist mit teilweise hohen Investitions- und Betriebskosten verbunden, die anders als die transaktionsbezogenen Verkaufsprovisionen auf Online-Marktplätzen schwerer planbar sind (vgl. LG München, Urteil vom 12. Mai 2021 - 37 O 32/21, juris Rn. 70 - Amazon Kontensperrung II). Aufgrund der Unterschiede im Leistungsangebot und in der Kostenstruktur hat das Bundeskartellamt zutreffend angenommen, dass der stationäre Vertrieb und der Vertrieb über den Online-Marktplatz für den Einzelhändler verschiedene Vertriebsmodelle sind. Auch der Vertrieb über den eigenen Online-Shop - gegebenenfalls unter Inanspruchnahme von Softwaretools wie etwa Shopify - ist kein oder nur ein sehr eingeschränktes Substitut für den Einzelhändler, denn auf Online-Marktplätzen kann der Händler einer großen Zahl potentieller und auf das Einkaufsumfeld vertrauender Kunden seine Produkte zugänglich machen, während der eigene Online-Shop regelmäßig keine solche Reichweite hat und seine Nutzung für die Kunden wegen des Fehlens der Vorteile eines Online-Marktplatzes in verschiedener Hinsicht aufwendiger ist (vgl. auch LG München, Urteil vom 12. Mai 2021 - 37 O 32/21, juris Rn. 69 - Amazon Kontensperrung II). Das gilt ebenfalls für den (ergänzenden) Einsatz von Maßnahmen der Online-Verkaufsförderung durch die Nutzung von Produkt- und Preisvergleichsdiensten, bezahlte Suchmaschinenwerbung, Werbung auf Social-Media-Plattformen und Suchmaschinenoptimierung. Abgesehen davon, dass diese Maßnahmen das Vorhandensein eines Online-Shops voraussetzen, unterscheiden sie sich erheblich hinsichtlich ihrer Funktionsweise und des Gebührenmodells von Online-Marktplatzdienstleistungen. Bei Produkt- und Preisvergleichsdiensten, bezahlter Suchmaschinenwerbung und Werbung auf Social-Media-Plattformen werden nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Bundeskartellamts unabhängig vom Zustandekommen einer Transaktion Gebühren für jeden Click auf das Produktangebot fällig sowie teilweise zusätzlich Auktionssysteme genutzt. Zudem kann die Suchmaschinenoptimierung lediglich dazu führen, dass sich das Ranking der Webseite des Online-Shops des Händlers verbessert (zu Produkt- und Preisvergleichsdiensten EuG, Urteil vom 10. November 2021 - T-612/17, juris Rn. 466 ff.; 479 ff., 493 - Google Shopping; Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache C-48/22 P vom 11. Januar 2024 - Google Shopping; vgl. auch LG München, Urteil vom 12. Mai 2021 - 37 O 32/21, juris Rn. 68 - Amazon Kontensperrung II).
Rz. 118
(3) Soweit die Beschwerdeführerinnen demgegenüber meinen, alle Vertriebskanäle, die einem gewerblichen Händler zur Verfügung stehen, seien mit den Dienstleistungen eines Online-Marktplatzbetreibers austauschbar, verkennen sie das Bedarfsmarktprinzip. Sie stellen bei der Prüfung der Substituierbarkeit nicht auf den konkreten Bedarf für die von Amazon angebotene Leistung (Angebot von Online-Marktplatzdienstleistungen) ab, sondern legen alle Möglichkeiten zugrunde, die gewerblichen Händlern zur Verfügung stehen, um ihre Kunden zu erreichen. Dabei handelt es sich aber um Substitutionswettbewerb und damit um Wettbewerbswirkungen außerhalb des nach dem Bedarfsmarktprinzip abgegrenzten Markts, die erst bei der Frage der Marktbeherrschung zu berücksichtigen sind (BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 22 - Facebook I). Letztlich führt die Sichtweise der Beschwerdeführerinnen - wie die Beschwerdeerwiderung zu Recht geltend macht - nicht zur Ermittlung von mit Online-Marktplatzdienstleistungen austauschbaren Leistungen, sondern dazu, dass der konkrete Bedarf hinweggedacht wird (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Dezember 2018 - VI-Kart 3/18, NZKart 2019, 53 [juris Rn. 37 ff.]; Töllner in Bunte, Kartellrecht, 14. Aufl., § 18 Rn. 35 mwN).
Rz. 119
(4) Dem kann auch nicht mit dem Hinweis darauf begegnet werden, der Bedarf der Endkunden müsse Ausgangspunkt für die Analyse sein.
Rz. 120
(a) Für die Austauschbarkeit maßgebend ist grundsätzlich die Sicht der unmittelbaren Abnehmer. Nur ausnahmsweise kommt es auf den Bedarf der Endabnehmer an, insbesondere, wenn nicht der Endkunde eine Kaufentscheidung trifft, sondern für ihn als "Verbrauchsdisponent" ein Dritter (vgl. Thomas in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl., § 36 GWB Rn. 73; Töllner in Bunte, Kartellrecht, 14. Aufl., § 18 Rn. 28). So liegt es hier aber nicht, weil Dritthändler Online-Marktplatzdienstleistungen nicht für die Endkunden, sondern allein für sich selbst nachfragen.
Rz. 121
(b) Soweit Amazon im Amazon Store selbst Waren anbietet und verkauft, deckt Amazon bei den Endkunden einen anderen Bedarf als bei den Dritthändlern. Auf der Seite der Endkunden richtet sich der Bedarf auf den Erwerb eines konkreten Produkts oder auch die Recherche danach. Der Bedarf soll auf einem Online-Marktplatz durch Schaffung eines zeitlich unbegrenzt verfügbaren und als sicher empfundenen Einkaufsumfelds mit den genannten zahlreichen Vorteilen, die nicht (unmittelbar) zu vergüten sind, gedeckt werden (Kommissionsentscheidung vom 20. Dezember 2022 - AT.40462/AT.40703 Rn. 61 f., 78 f. - Amazon Marketplace/Amazon Buy Box). Das ist ein anderer Bedarf als derjenige der Dritthändler, der wie dargestellt im Zugang zu einem Kundenpotential besteht.
Rz. 122
(5) Das Bundeskartellamt hat auch nicht verkannt, dass bereits bei der Marktabgrenzung eine etwaige Angebotsumstellungsflexibilität zu berücksichtigen ist, wenn die Anbieter ähnlicher Produkte und Dienstleistungen bereit und in der Lage sind, ihr Leistungsangebot kurzfristig und mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand umzustellen (BGH, Beschlüsse vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 26 - Facebook I; vom 16. Januar 2007 - KVR 12/06, BGHZ 170, 299 Rn. 20 - National Geographic II). Es hat diese Voraussetzungen aber in nicht zu beanstandender Weise im Hinblick auf Online-Shops sowie Produkt- und Preisvergleichsdienste verneint. Durchgreifende Einwände haben die Beschwerdeführerinnen dagegen nicht erhoben.
Rz. 123
(6) Der Verweis der Beschwerdeführerinnen auf die Bekanntmachung Marktabgrenzung der Europäischen Kommission ist nicht geeignet, die Erforderlichkeit einer anderen Marktabgrenzung aufzuzeigen. Vielmehr hat die Kommission (noch in Anwendung der Bekanntmachung vom 9. Dezember 1997, ABl. EU C 372, S. 5 bis 13) in einer auf Amazon bezogenen Entscheidung als sachlich relevanten Markt ebenfalls den Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen für Händler angesehen (Entscheidung vom 20. Dezember 2022 - AT.40462/AT.40703 Rn. 77, 80 - Amazon Marketplace/Amazon Buy Box).
Rz. 124
(a) Die Kommission geht in der Bekanntmachung grundsätzlich davon aus (Rn. 25), dass die Substituierbarkeit von Produkten aus Sicht des Kunden zu beurteilen ist (Nachfragesubstitution). Eine hinreichend starke Nachfragesubstitution besteht, wenn die Kunden ohne Weiteres von den Produkten des beteiligten Unternehmens zu leicht verfügbaren alternativen Produkten wechseln würden. Diese Produkte werden unter Berücksichtigung vielfältiger Anhaltspunkte bestimmt. Dazu zählen etwa Produktmerkmale, Preise, Produktfunktionen und Verwendungszweck sowie Hindernisse für einen Anbieterwechsel und die Kosten eines Anbieterwechsels oder Anhaltspunkte für eine hypothetische Substitution (Rn. 26, 48 der Bekanntmachung). Zu ermitteln ist, in welchem Umfang und zu welchen leicht verfügbaren Substituten (falls vorhanden) die Kunden bei einer Verschlechterung der Angebotsbedingungen wechseln würden. Dabei können aus der Sicht eines Kunden beim Kauf eines bestimmten Produkts auch Unterschiede zwischen Vertriebskanälen (online und offline) Bedeutung haben, wenn sie unterschiedliche Merkmale aufweisen, etwa in Bezug auf Preisniveau, Kundendienstqualität, Lieferzeiten und Logistikkosten, Öffnungszeiten, oder die Notwendigkeit, das Produkt vor dem Kauf zu erleben (vgl. Rn. 50 der Bekanntmachung und Kommission, Entscheidung vom 1. März 2018 - Case M.8394 Rn. 83 ff., 139 - Essilor/Luxottica).
Rz. 125
(b) Besonderheiten gelten für mehrseitige Plattformen. Sie ermöglichen Interaktionen zwischen verschiedenen Nutzergruppen und führen dazu, dass die Nachfrage einer Nutzergruppe die Nachfrage der anderen Nutzergruppen beeinflusst (Rn. 94 der Bekanntmachung). Im Falle mehrseitiger Plattformen kann die Kommission einen sachlich relevanten Markt für sämtliche von einer Plattform angebotenen Produkte abgrenzen, der alle (oder mehrere) Nutzergruppen umfasst, oder sie kann für die auf jeder Seite der Plattform angebotenen Produkte getrennte (wenn auch miteinander verbundene) sachlich relevante Märkte abgrenzen. Die Kommission kann dabei unter anderem verhaltensbezogene Faktoren wie Homing-Entscheidungen jeder Nutzergruppe und die Art der Plattform berücksichtigen (beispielsweise, ob es sich um eine Transaktions- oder um eine Matching-Plattform handelt; Rn. 95 der Bekanntmachung).
Rz. 126
(c) Nach diesen Grundsätzen gilt nichts Anderes als das zum Bedarfsmarktkonzept Ausgeführte. Der Betrieb eigener Ladengeschäfte und eigener Online-Shops kann aus der Sicht des hier maßgeblichen Kunden - des gewerblichen Verkäufers - nicht als "leicht verfügbare" Alternative zum Verkauf über einen Online-Marktplatz angesehen werden. Mit einem Online-Marktplatz erreicht ein gewerblicher Verkäufer andere Kunden als über ein eigenes Ladengeschäft oder einen eigenen Online-Shop. Ein eigenes Ladengeschäft oder ein eigener Online-Shop sind daher andere Vertriebsmodelle, für die mit dem Leistungsangebot von Amazon nicht austauschbare Produkte bezogen werden müssen, wie etwa Geschäftsräume und deren Einrichtung oder Dienstleistungen eines Webseitendesigners. Soweit die Beschwerdeführerinnen die Nutzung verschiedener Vertriebskanäle durch gewerbliche Händler wie etwa Online-Marktplätze, Ladengeschäfte und eigene Online-Shops als Multi Homing ansehen, entspricht dies wie oben dargestellt (Rn. 54) bereits nicht der von der Kommission verwendeten Definition, wonach Multi Homing nur die parallele Nutzung verschiedener Plattformen für ein bestimmtes Produkt ist.
Rz. 127
(d) Gleiches gilt für die Nutzung verschiedener Einkaufskanäle durch die Nutzergruppe der Endkunden. Endkunden kaufen bestimmte Produkte in Ladengeschäften, auf Online-Marktplätzen und in Online-Shops. Im Fall eines Online-Marktplatzes geht es aber darum, dass ein von der Nutzergruppe der Endkunden zu unterscheidender Markt für die Nutzergruppe der gewerblichen Händler abzugrenzen ist. Letztere fragen spezifische Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler bei Online-Marktplatzbetreibern nach. Davon zu unterscheiden sind die verschiedenen Produktmärkte, auf denen die den Marktplatz nutzenden Endkunden bestimmte Produkte erwerben.
Rz. 128
(7) Die von den Beschwerdeführerinnen mit der Amazon Seller Survey sowie deren Auswertungen vorgelegten Ergebnisse sind nicht geeignet, Anhaltspunkte für einen weiter gefassten Markt zu begründen.
Rz. 129
(a) Bei dem zur sachlichen Marktabgrenzung angewandten Preisheraufsetzungstest (SSNIP-Test [small but significant non-transitory increase in price] oder hypothetischer Monopolistentest; vgl. Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 51 ff. mwN; Töllner in Bunte, Kartellrecht, 14. Aufl., § 18 GWB Rn. 29 f.), der die Marktzugehörigkeit eines Alternativprodukts davon abhängig macht, ob die Nachfrager bei einer geringen, aber nicht unerheblichen und nicht nur vorübergehenden Erhöhung des Preises für das Ausgangsprodukt zum Alternativprodukt wechseln, handelt es sich um eine Modellerwägung, die für die Marktabgrenzung eine Hilfestellung liefern, diese aber nicht als ausschließliches Kriterium bestimmen kann (BGH, Beschluss vom 4. März 2008 - KVR 21/07, BGHZ 176, 1 Rn. 18 mwN - Sodaclub II; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Dezember 2018 - VI-Kart 3/18, NZKart 2019, 53 [juris Rn. 45 f.]; Töllner in Bunte, Kartellrecht, 14. Aufl., § 18 GWB Rn. 30 mwN). Auch die Kommission geht in der Bekanntmachung davon aus, dass keine Verpflichtung zur empirischen Anwendung des SSNIP-Tests besteht (Rn. 31). Führt das Bedarfsmarktkonzept daher zu dem eindeutigen Ergebnis, dass es kein mit dem angebotenen Produkt vergleichbares anderes Produkt gibt, kann das Ergebnis eines Preisheraufsetzungstests keine andere Beurteilung rechtfertigen (vgl. auch Töllner in Bunte, Kartellrecht, 14. Aufl., § 18 GWB Rn. 30).
Rz. 130
(b) Schon aus diesem Grund sind die vorgelegten Beweismittel aus Rechtsgründen nicht geeignet, eine andere Marktabgrenzung zu begründen. Zudem stößt der Preisheraufsetzungstest bei mehrseitigen Märkten auf besondere Schwierigkeiten, weil er Rückkopplungseffekte zwischen den verschiedenen Marktseiten nicht zuverlässig erfassen kann (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Dezember 2018 - VI-Kart 3/18, NZKart 2019, 53 [juris Rn. 46]; LG München, Urteil vom 12. Mai 2021 - 37 O 32/21, juris Rn. 73 - Amazon Kontensperrung II; Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 51a; Töllner in Bunte, Kartellrecht, 14. Aufl., § 18 GWB Rn. 30 mwN; Höppner/Grabenschröer NZKart 2015, 162, 164; Podszun/Schwalbe, NZKart 2017, 98, 102; Lohse, ZHR 2018, 321, 334 f.). Auch die Kommission geht davon aus, dass die Anwendung des SSNIP-Tests bei Vorliegen indirekter Netzwerkeffekte schwieriger ist (Bekanntmachung Rn. 96). Zu Recht weist daher die Beschwerdeerwiderung darauf hin, dass ein hypothetischer Rückgang der Verkäufe von Dritthändlern im Anschluss an eine hypothetische Erhöhung der Vermittlungsprovision um 10 %, wie sie die Amazon Seller Survey sowie deren Auswertungen zeigen sollen, keine Aussagekraft besitzt. Es kann angesichts der komplexen Wirkungsmechanismen einer mehrseitigen Plattform nicht vorhergesagt werden, ob ein solcher Rückgang mit einem Umsatzverlust des Online-Marktplatzanbieters einhergeht. Da die durch Kundenbindungsprogramme wie Amazon Prime sowie die Vereinfachung durch ein einheitliches Kundenkonto dargestellten Anreize für Endkunden, auf einem bestimmten Online-Marktplatz zu verbleiben, erheblich sind, spricht bei einer Handelsplattform mit einer außerordentlich hohen Nutzerzahl und großen Reichweite viel dafür, dass die Nachfrage auf dem Online-Marktplatz auch bei dem genannten hypothetischen Rückgang der Verkäufe einzelner Dritthändler unverändert bleibt. Aufgrund des erheblichen Preiswettbewerbs auf Online-Marktplätzen, auf denen jeweils auch der Betreiber des Marktplatzes gleichzeitig als Händler tätig ist, ist zudem nicht anzunehmen, dass die Endkundenseite einer (wesentlichen) Preiserhöhung durch die Dritthändler ausgesetzt würde. Wird der Bedarf der Endkunden aber durch die auf dem Online-Marktplatz verbliebenen Händler und durch den ebenfalls als Händler tätigen Marktplatzbetreiber gedeckt, hat der Marktplatzbetreiber keine transaktionsbezogenen Umsatzverluste hinzunehmen. Seine Umsatzverluste beschränken sich in diesem Fall auf die pauschalen monatlichen Grundgebühren derjenigen Händler, die die Plattform verlassen. Da nach den Ergebnissen der Amazon Seller Survey sowie deren Auswertungen % der Stichprobe mit den gesamten Umsätzen und % der Stichprobe mit einem Teil ihrer Umsätze auf dem Marktplatz verbleiben würden, wären die zu erwartenden Umsatzverluste auf den Ausfall von monatlichen Grundgebühren für % der Stichprobe beschränkt. Diese sehr überschaubaren Verluste könnten zudem durch gegebenenfalls gestiegene Umsätze in Amazons Einzelhandelsgeschäft ausgeglichen werden.
Rz. 131
(c) Schließlich ist auch die von Amazon im vorliegenden Fall konkret gestellte SSNIP-Frage nicht geeignet, Anhaltspunkte für eine hypothetische Substitution zu begründen. Es handelt sich dabei nicht um eine vollständige Modellrechnung im Sinne eines hypothetischen Monopolistentests (SSNIP-Tests), sondern um eine einfache sogenannte SSNIP-Frage, durch die eine mögliche Substitution ermittelt werden soll. Die Einschätzung von Marktteilnehmern bezüglich der Wahrscheinlichkeit oder der Größenordnung des Wechsels zu einem alternativen Produkt ist allerdings mit erheblichen Unsicherheiten behaftet und möglicherweise für die Schätzung der Elastizitäten nicht zuverlässig, umfassend oder genau genug, weil sie für die Befragten folgenlos ist (Bekanntmachung Rn. 54). Das gilt hier in besonderem Maß. Die Umfrage umfasste insgesamt 42 Fragen (wobei die Zahl der Fragen sich angesichts verschiedener alternativer Antwortwege reduzieren konnte), für deren Beantwortung nach der eingangs erfolgten Angabe etwa 10 Minuten erforderlich sein sollten. In Bezug auf die SSNIP-Frage wiesen die Fragestellung und die verfügbaren Antwortmöglichkeiten eine erhebliche Schwierigkeit auf. Eine Antwort auf die Frage, ob der Händler bei einer Erhöhung der Provision um 10 % keine, einige oder alle Verkäufe auf andere Kanäle verlegen würde, und im Falle der Antwort "einige", die Antwort auf die folgende Frage, welchen Prozentsatz des Umsatzes er auf welche andere Kanäle verlagern würde, ist von erheblicher Komplexität. Die Möglichkeit einer solchen teilweisen Umsatzverlagerung hängt nämlich davon ab, wo die Endkunden kaufen, und ist vom Händler selbst nur mittelbar - etwa über die Preissetzung auf verschiedenen Vertriebskanälen (vgl. Privatgutachten S. 139 f.) oder die vollständige Herausnahme bestimmter Produktkategorien aus dem Angebot auf Amazon Marketplace - steuerbar. Ob Händler durch eine Preissenkung auf anderen Kanälen - was das ökonomische Privatgutachten ohne weiteres unterstellt - oder auch die Verkleinerung ihres Angebots auf Amazon Marketplace aber tatsächlich eine die Einbußen durch die Provisionserhöhung ausgleichende Umsatzverlagerung erreichen könnten, hängt von zahlreichen weiteren Faktoren ab. So müsste ermittelt werden, ob eine Umsatzerhöhung auf anderen Vertriebskanälen durch Preissenkung überhaupt möglich und geeignet wäre, die Einbußen durch die Provisionserhöhung zu übertreffen, und ob bisher auf Amazon Marketplace kaufende Endkunden sich dadurch bewegen ließen, auf andere Kanäle zu wechseln. Dass die befragten Händler in der Lage waren, ihr zukünftiges Verhalten vor diesem Hintergrund insbesondere angesichts der mit einer Verlagerung der Angebotstätigkeit verbundenen Reichweitenverluste binnen kurzer Zeit und ohne weitere Überlegungen und Ermittlungen sachgerecht zu prognostizieren, hält der Senat für ausgeschlossen. Hinzu tritt, dass die Dritthändler bei der SSNIP-Frage ausdrücklich darauf hingewiesen wurden, exakte Angaben seien nicht erforderlich, eine Schätzung genüge.
Rz. 132
bb) Das Bundeskartellamt ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass der räumlich relevante Markt auf Deutschland beschränkt ist.
Rz. 133
(1) Der räumlich relevante Markt umfasst das Gebiet, in dem die betreffenden Produkte oder Dienstleistungen regelmäßig angeboten und nachgefragt werden, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet (BGH, Beschluss vom 16. Januar 2008 - KVR 26/07, BGHZ 175, 333 Rn. 69 - Kreiskrankenhaus Bad Neustadt; Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 58; Töllner in Bunte, Kartellrecht, 14. Aufl., § 18 GWB Rn. 52).
Rz. 134
(2) Nach diesen Grundsätzen ist der Markt hier national abzugrenzen, da der Schwerpunkt der Leistungserbringung von Betreibern von Online-Marktplätzen weit überwiegend auf der Vermittlung von Transaktionen in dem Land liegt, auf das ihre Tätigkeit ausgerichtet ist. Endkunden kaufen aus sprachlichen Gründen und wegen der unterschiedlichen Nutzergewohnheiten und Bedarfe vorrangig bei Online-Marktplätzen ein, die eine länderspezifische Domain aufweisen und auf ihr Land ausgerichtet sind (siehe auch BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 35 - Facebook I).
Rz. 135
(a) Neben Amazon betreiben neun der vom Bundeskartellamt befragten 15 in Deutschland tätigen Online-Marktplätze ihren Marktplatz unter Verwendung einer länderspezifischen (deutschen) Domain. Dazu gehören die fünf größten Online-Marktplätze (Amazon, Otto, Zalando, eBay, Kaufland), die 2020 etwa 96 % des mit Dritthändlern generierten Handelsvolumens der befragten Online-Marktplätze auf sich vereint haben. Zu Recht geht das Bundeskartellamt davon aus, dass die weiteren Online-Marktplätze, die in Deutschland unter einer nicht-länderspezifischen Domain tätig sind, angesichts ihres geringen Anteils an dem mit Verkäufen durch Dritthändler generierten Gesamthandelsvolumen von unter 5 % keine die Marktverhältnisse prägende Bedeutung haben.
Rz. 136
(b) Amazon vermittelt mit Amazon Store Deutschland den diese Plattform nutzenden gewerblichen Händlern schwerpunktmäßig Transaktionen in Deutschland, erbringt also hier seine Dienstleistungen. Das Angebot von Amazon Store Deutschland ist vollständig auf Deutschland ausgerichtet. Die angegebenen Preise enthalten die deutsche Umsatzsteuer und es werden die für einen Versand in Deutschland bestehenden Liefermöglichkeiten und Lieferzeiten angezeigt. Das Angebot stellt sich daher nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Bundeskartellamts für Endkunden in Österreich und der Schweiz, denen nicht das vollständige Marktplatzangebot, sondern nur eine beschränkte, für diese Länder lokalisierte Version zur Verfügung steht, deutlich anders dar. Die Ausrichtung der unter einer deutschen Länderkennung betriebenen Online-Marktplätze auf in Deutschland ansässige Endkunden zeigt sich auch daran, dass der Anteil der Nutzerkonten im vierten Quartal 2020 von im Ausland ansässigen Kunden bei den unter deutscher Länderkennung betriebenen Online-Marktplätzen - mit Ausnahme des Marktplatzes von Amazon - im vierten Quartal 2020 unter 10 % liegt. Soweit % der Nutzerkonten bei Amazon von Endkunden außerhalb Deutschlands angelegt wurden, geht das Bundeskartellamt unwidersprochen davon aus, dass es sich vorrangig um Kunden in Österreich und der Schweiz handelt. Ohnehin reicht der Anteil von deutschen Nutzerkonten für die Annahme aus, dass der Online-Marktplatz auf die Vermittlung von Transaktionen mit deutschen Endkunden ausgerichtet ist.
Rz. 137
(c) Der Anteil des Handelsvolumens, das mit grenzüberschreitenden Verkäufen getätigt wurde, lag für Amazon Marketplace 2020 bei %. Dieser Anteil ist schon nicht hoch genug, um die Ausrichtung auf Deutschland in Frage zu stellen, auch wenn er höher ist als der durchschnittliche Anteil aller betrachteten Marktplatz-Betreiber ( %). Auch hier dürfte es sich allerdings (vorrangig) um Umsätze mit Kunden aus Österreich und der Schweiz handeln. Im Übrigen hat die Kommission (Kommissionsentscheidung vom 20. Dezember 2022 - AT.40462/AT.40703 Rn. 77, 80 - Amazon Marketplace/Amazon Buy Box) die Märkte ebenfalls national abgegrenzt.
Rz. 138
(3) Dem sind die Beschwerdeführerinnen in der Sache nicht entgegengetreten. Soweit sie einwenden, Händler, die über Amazon Marketplace Deutschland verkauften, verkauften auch über andere Verkaufsstellen (einschließlich Online-Marktplätze) ins Ausland, und Händler, die nicht in Deutschland ansässig sind, seien % aller Verkäufe im deutschen Amazon Store verantwortlich, während Händler, die in Deutschland ansässig sind, auch außerhalb von Deutschland verkauften, % von ihnen über fünf oder sechs andere nationale Amazon Stores im Binnenmarkt, steht das der Beurteilung des Bundeskartellamts nicht entgegen. Maßgeblich ist, dass der Bedarf, der in räumlicher Hinsicht durch Amazon Marketplace Deutschland und andere Online-Marktplätze in Deutschland gedeckt wird, in der Vermittlung von Geschäften mit Endkunden in Deutschland liegt. Das ist empirisch durch die Zahl der Nutzerkonten belegt. Dabei wird zu Recht auf die Erreichbarkeit einer bestimmten Endkundengruppe - nämlich Endkunden in Deutschland - für die auf Online-Marktplätzen tätigen gewerblichen Händler als Nachfrager der Vermittlungsleistung abgestellt. Das ist über ausländische Marktplätze nicht in gleicher Weise möglich, weshalb ein Ausweichen auf ausländische Plattformen regelmäßig nicht in Betracht kommt. Der Sitz der Händler und der Umstand, dass sie auch ins Ausland verkaufen, hat demgegenüber keine Bedeutung.
Rz. 139
cc) Zutreffend hat das Bundeskartellamt auf der Grundlage der erforderlichen Gesamtbetrachtung angenommen, dass Amazon auf dem so abgegrenzten nationalen Markt für die Erbringung von Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler nach § 18 Abs. 1, 3, 3a und 3b GWB marktbeherrschend ist.
Rz. 140
(1) Insoweit kann zunächst auf die Feststellungen zu den Marktanteilen (§ 18 Abs. 3 Nr. 1 GWB), verwiesen werden, die die Beschwerdeführerinnen als solches - die Marktabgrenzung zugrunde gelegt - nicht in Frage stellen, und die zudem die Vermutung der Marktbeherrschung nach § 18 Abs. 4 GWB begründen. Ferner wird auf die Ausführungen zur überragenden Finanzkraft des Konzerns (§ 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, § 18 Abs. 3 Nr. 2 GWB), zu seinem hervorragenden Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten (§ 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, § 18 Abs. 3 Nr. 3 sowie Abs. 3a Nr. 4 GWB) und zur erheblichen Bedeutung seiner Vermittlungstätigkeiten für den Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten (§ 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, § 18 Abs. 3b GWB) Bezug genommen. Daraus ergibt sich bereits, dass diese Merkmale auch hinsichtlich des hier gemäß § 18 GWB sachlich und räumlich relevanten Markts sowie im Verhältnis zu den danach maßgeblichen Wettbewerbern vorliegen. Die getroffenen Feststellungen rechtfertigen ferner die Annahme von erheblichen indirekten Netzwerkeffekten sowie von Amazons außerordentlichen Größenvorteilen im Zusammenhang mit Netzwerkeffekten gemäß § 18 Abs. 3a Nr. 1 und 3 GWB (siehe Rn. 66, 92, 94, 103). Zu Recht ist das Bundeskartellamt daher davon ausgegangen, dass für eine Marktbeherrschung von Amazon auch die erheblichen wechselseitigen positiven indirekten Netzwerkeffekte und dadurch verursachten Marktzutrittsschranken gemäß § 18 Abs. 3 Nr. 6 GWB sprechen, die durch die große Zahl der auf Amazon Store tätigen Endkunden und Dritthändler begründet und durch Amazon Prime verstärkt und abgesichert werden (siehe Rn. 70), wobei auch die von Amazon betriebene Logistikinfrastruktur zu erheblichen Marktzutrittsschranken beiträgt (Rn. 61).
Rz. 141
(2) Soweit die Beschwerdeführerinnen meinen, die Marktanteile seien unzutreffend berechnet, weil das Bundeskartellamt Dienste und Kanäle künstlich vom Markt ausschließe, die die gleiche Funktion - den Zugang zu Kunden - erfüllen, greift das, wie bereits dargelegt, nicht durch. Auch sind die Aktivitäten von Amazons Wettbewerbern im Online-Marktplatzgeschäft sowie die Eröffnung weiterer Online-Shops durch Einzelhändler entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen nicht geeignet, die Beurteilung des Bundeskartellamts in Frage zu stellen, dass die Marktposition Amazons nicht gefährdet ist, und zwar auch nicht durch innovationsgetriebenen Wettbewerbsdruck (§ 18 Abs. 3a Nr. 5 GWB). Das Bundeskartellamt hat dies aus den festgestellten hohen Marktanteilen und Marktanteilsabständen abgeleitet und zutreffend ausgeführt, von Substitutionswettbewerb wie etwa durch Vertriebskonzepte über Online-Shops und Social Media gehe kein ausreichender Wettbewerbsdruck aus (siehe Rn. 117, 153 bis 158).
Rz. 142
(3) Bei der Berücksichtigung der parallelen Nutzung mehrerer Dienste (Multi Homing; vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 45 - Facebook I) und des Wechselaufwands für die Nutzer gemäß § 18 Abs. 3a Nr. 2 GWB sowie des tatsächlichen oder potenziellen Wettbewerbs gemäß § 18 Abs. 3 Nr. 7 GWB und der Möglichkeiten der Marktgegenseite, auf andere Unternehmen auszuweichen (§ 18 Abs. 3 Nr. 9, vgl. Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 138 aE, 146), schließt weder das Multi Homing der Dritthändler noch die Nutzung verschiedener weiterer Vertriebskanäle durch die Dritthändler und Einkaufsmöglichkeiten durch die Endkunden die Annahme der Marktbeherrschung aus.
Rz. 143
(a) Dabei kann zunächst das auf Online-Marktplätze Dritter bezogene Multi Homing der Dritthändler im vorgetragenen Ausmaß unterstellt werden. Die von den Beschwerdeführerinnen gegen die vom Bundeskartellamt durchgeführte Händlerumfrage erhobenen Einwände können in diesem Zusammenhang dahinstehen. Denn zum einen hat das Bundeskartellamt berücksichtigt, dass ausschließlich bei Amazon tätige Händler befragt worden sind und die Umsatzangaben widersprüchlich waren. Zum anderen geht auch das Bundeskartellamt davon aus, dass Dritthändler mehrere Online-Marktplätze nutzen, wie dies die Beschwerdeführerinnen unter Bezugnahme auf die Amazon Seller Survey und deren Auswertungen geltend machen. Allein der Umstand, dass bei Amazon aktive Dritthändler auch auf anderen Online-Marktplätzen aktiv sind, ist aber nicht geeignet, die vermutete Marktbeherrschung in Frage zu stellen. Multi Homing (§ 18 Abs. 3a Nr. 2 GWB) schließt nicht unabhängig von den übrigen Strukturmerkmalen und generell als solches die Marktbeherrschung aus. Das wäre nur dann der Fall, wenn Dritthändler auf alternativen Marktplätzen Umsätze erzielen könnten, die im Vergleich zu den auf Amazon Marketplace Deutschland erzielten Umsätzen von Bedeutung sind. Das ist aber weder ersichtlich noch vorgetragen. Aus den dargestellten Gesamthandelsvolumina auf Online-Marktplätzen zusammen mit der Amazon Seller Survey und den entsprechenden Auswertungen ergibt sich, dass der Schluss des Bundeskartellamts zutrifft, wonach die Umsätze, die die befragten Händler auf Amazon Marketplace erzielt haben, im Durchschnitt etwa wie ihre Umsätze mit anderen Online-Marktplätzen (siehe Tabelle 13 der vertraulichen Anlage 133). Das wird durch das von den Beschwerdeführerinnen herangezogene 13. Sektorgutachten Post der Monopolkommission (Post 2023, S. 22) auch für das Jahr 2022 gestützt. Daraus ergibt sich, dass die Monopolkommission unter Rückgriff auf den Online Monitor 2023 des Handelsverbands Deutschland für 2022 davon ausgeht, dass 56 % aller Umsätze im Non-Food-Onlinehandel (einschließlich aller Online-Shops) über Amazon Store Deutschland generiert worden sind, mithin 47,32 Mrd EUR bei Gesamtumsätzen von 84,5 Mrd EUR. Soweit die Beschwerdeführerinnen die dem entsprechende und auf den HDE-Online Monitor 2021 gestützte Annahme des Bundeskartellamts in Bezug auf die Anteile des Amazon Store Deutschland am Handelsvolumen des deutschen Onlinehandels für das Jahr 2020 von 53 % (pauschal) in Zweifel gezogen haben, stellen die vom Handelsverband Deutschland mit sachverständiger Begleitung und unter Angabe der Methodik ermittelten Zahlen jedenfalls Näherungswerte dar, denen die Beschwerdeführerinnen in der Sache nicht ausreichend entgegengetreten sind. Die Nutzung anderer Online-Marktplätze durch Dritthändler stellt daher die marktbeherrschende Stellung Amazons nicht in Frage. Eine tatsächlich bestehende Wechselmöglichkeit in dem Sinn, dass ein Händler auf Amazon Marketplace Deutschland verzichten könnte, ist in der Gesamtschau und im Hinblick auf die vergleichsweise geringe Anzahl der auf anderen Marktplätzen tätigen Dritthändler und das im Vergleich geringe dort erzielte Gesamthandelsvolumen nicht anzunehmen. Weitere Ermittlungen in Bezug auf die Marktverhältnisse sind aus diesem Grund nicht erforderlich.
Rz. 144
(b) Das Bundeskartellamt hat auch den Wettbewerbsdruck ausreichend berücksichtigt, der sich aus Ausweichmöglichkeiten der Dritthändler auf andere Vertriebskanäle außerhalb des relevanten Markts ergibt (siehe auch unten Rn. 153 bis 158). Zu Recht hat es angenommen, dass dieser nicht geeignet ist, die marktbeherrschende Stellung Amazons in Frage zu stellen. Das gilt für eigene Ladengeschäfte schon wegen deren geringer Reichweite. Für den Betrieb eigener Online-Shops ergibt es sich aus den von den Beschwerdeführerinnen selbst sowie dem Bundeskartellamt herangezogenen Untersuchungen des Handelsverbands Deutschland (HDE Online Monitor 2021, 2022 und 2023). Ihnen lässt sich entnehmen, dass der Anteil von Amazon am Gesamthandelsvolumen des Onlinehandels gestiegen ist (von 48 % 2019 auf 56 % 2022), während der Anteil des durch Online-Shops generierten Umsatzes am Gesamthandelsvolumen gesunken ist (von 43 % 2019 auf 33 % 2022). Auch insoweit kann daher dahinstehen, ob die von den Beschwerdeführerinnen gegen die Händlerumfrage des Bundeskartellamts erhobenen Einwände durchgreifen. Die Annahme des Bundeskartellamts, dass der Substitutionswettbewerb durch eigene Online-Shops nicht geeignet ist, die Marktbeherrschung Amazons in Frage zu stellen, ist auf der Grundlage der durch den Handelsverband Deutschland ermittelten Zahlen jedenfalls nicht zu beanstanden.
Rz. 145
(c) Das gilt auch in Bezug auf eine etwaige parallele Nutzung weiterer Online-Marktplätze durch die Endkunden. Zwar könnte ein solches für die Endkunden kostenloses Multi Homing wegen der damit verbundenen indirekten Netzwerkeffekte grundsätzlich auch Auswirkungen auf die Ausweichmöglichkeiten der Dritthändler haben. Das Bundeskartellamt hat aber zu Recht angenommen, es liege nahe, dass Kunden dort einkaufen, wo sie ein Kundenkonto haben und zudem mehrere Produkte gleichzeitig erwerben können. Es hat ferner zutreffend auf einen erheblichen Bindungseffekt durch Amazon Prime abgestellt. Eine Prime-Mitgliedschaft regt nicht nur durch die bereits abgegoltenen Versandkosten zur wiederholten Nutzung von Amazon Store an, sondern erhöht nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Bundeskartellamts durch die Bündelung mit Amazon Video und Amazon Music auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie verlängert wird. Ein Amazon Prime Kunde bestellt im Schnitt jährlich etwa Produkte und gab im Jahr 2020 - die Angaben der Beschwerdeführerinnen zugrunde gelegt - dafür EUR aus, während sich die mit den Kunden ohne Prime-Abonnement erzielten Umsätze demgegenüber auf nur EUR beliefen. Amazon Prime Kunden generierten im Jahr 2020 etwa % des Gesamthandelsvolumens von Amazon Store Deutschland ( EUR von EUR) und % der Einzelhandelsumsätze ( EUR). Soweit die Beschwerdeführerinnen unter Berufung auf die Amazon Buyer Survey demgegenüber geltend machen, auch Amazon Prime Kunden nutzten in erheblichem Maß parallel andere Dienste, ist das angesichts der auf diese entfallenden Umsätze nicht geeignet, den vom Bundeskartellamt angenommenen Bindungseffekt in Frage zu stellen.
Rz. 146
dd) Schließlich ist auch die Europäische Kommission ausweislich der Entscheidung vom 20. Dezember 2022 (AT.40462/AT.40703 Rn. 86 ff., 95 - Amazon Marketplace/Amazon Buy Box) in einem Verfahren gegen Amazon wegen des möglichen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung aufgrund der systematischen Nutzung nichtöffentlicher Geschäftsdaten der auf Amazon Marketplace tätigen Dritthändler (vorläufig) davon ausgegangen, dass Amazon seit dem 1. Januar 2017 eine marktbeherrschende Stellung auf dem Markt für Online-Marktplatzdienste in Deutschland innehat.
Rz. 147
g) Das Bundeskartellamt hat die Feststellung nach § 19a Abs. 1 Satz 1 GWB in Bezug auf Amazon aufgrund der von ihm vorgenommenen Gesamtwürdigung zu Recht und ermessensfehlerfrei getroffen.
Rz. 148
aa) Die nach § 19a Abs. 1 Satz 2 GWB relevanten Kriterien begründen sämtlich die überragende marktübergreifende Bedeutung von Amazon für den Wettbewerb. Die Struktur des Konzerns und seiner weltweit entfalteten geschäftlichen Aktivitäten trägt dazu erheblich bei. Amazon hat als eines der weltweit größten, umsatzstärksten und profitabelsten Unternehmen aufgrund seiner weltweiten und vielfältig miteinander verbundenen Geschäftstätigkeiten, seiner erheblichen Bedeutung für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten und seines erheblichen Einflusses auf die Geschäftstätigkeit Dritter, seines weltweiten und überragenden Datenzugangs, seiner überragenden Finanzkraft und sonstigen Ressourcen sowie seiner marktbeherrschenden Stellung auf dem deutschen Markt für Online-Marktplatzdienste Größen- und Ressourcenvorteile, die ihm die von § 19a GWB adressierten wettbewerblichen und strategischen Möglichkeiten eröffnen. Das gilt (sogar) dann, wenn man entgegen den obigen Ausführungen nicht von einer marktbeherrschenden Stellung Amazons ausgehen wollte, da Amazon jedenfalls über eine außerordentlich starke Marktposition auf dem nationalen Markt für Online-Marktplatzdienste verfügt. Diese reicht in der Zusammenschau mit den Merkmalen nach § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 5 GWB aus, um die überragende marktübergreifende Bedeutung Amazons zu begründen. Entgegen den Beschwerdeführerinnen war eine weitergehende Analyse der (weltweit) betroffenen Märkte aus Rechtsgründen nicht erforderlich.
Rz. 149
bb) Anders als die Beschwerdeführerinnen meinen, liegt kein Ermessensfehler darin, dass das Bundeskartellamt die Eingriffsintensität zu Unrecht falsch bewertet hätte. Es ist im Gegenteil zutreffend davon ausgegangen, dass die Feststellungsverfügung gemäß § 19a Abs. 1 GWB keine Verhaltenspflichten begründet. Soweit die Beschwerdeführerinnen eine weitreichende Vorfeldwirkung geltend machen, die Amazon zum Verzicht auf Geschäftschancen und zur Vermeidung von Investitionen zwinge, ist dies nicht durch konkrete Angaben im Hinblick auf bestimmte Dienste oder Auswirkungen befürchteter Verfügungen unterlegt. Es ist weder dargetan noch ersichtlich, welche Investitionen und Geschäftschancen Amazon aufgrund der hier allein in Rede stehenden Feststellung nach § 19a Abs. 1 GWB bereits aufgegeben hat oder aufgeben muss, zumal das Bundeskartellamt, wie in der mündlichen Verhandlung unwidersprochen vorgetragen, für einen solchen Fall eine - bisher nicht in Anspruch genommene - Vorabklärung angeboten hat.
Rz. 150
cc) Dass das Bundeskartellamt nicht geprüft hat, ob von der Feststellungsverfügung bestimmte Marktsegmente oder Geschäftsbereiche auszunehmen sind, begründet keinen Ermessensausfall. Wie die Beschwerdeerwiderung zu Recht betont, ergibt sich klar aus Wortlaut sowie Sinn und Zweck von § 19a GWB, dass die Feststellungsverfügung das gesamte Unternehmen gemäß § 36 Abs. 2 GWB betrifft (vgl. auch Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a GWB Rn. 16). Anders als bei der Marktbeherrschung, die stets auf einen bestimmten Markt bezogen ist, kann die überragende marktübergreifende Bedeutung - entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen - nach Sinn und Zweck der Vorschrift nicht in Bezug auf Unternehmensteile festgestellt werden. Das ergibt sich bereits daraus, dass die Vorschrift zukunftsbezogen ist und zukünftige Entwicklungen ein Eingreifen auf verschiedenen Märkten erforderlich machen können. Entgegen den geäußerten Befürchtungen der Beschwerdeführerinnen scheidet aufgrund des Territorialitätsprinzips gemäß § 185 Abs. 2 GWB der Erlass von Verbotsverfügungen gemäß § 19a Abs. 2 GWB in Bezug auf in Drittstaaten befindliche Geschäftsbereiche aus.
Rz. 151
dd) Die Beurteilung des Bundeskartellamts, dass Amazon gemäß § 19a Abs. 1 GWB eine überragende marktübergreifende Bedeutung zukommt, wird dadurch gestützt, dass Amazon mit Amazon Marketplace und Amazon Advertising zwei Vermittlungsplattformen betreibt, die die Schwellenwerte des Digital Markets Act überschreiten, während kein anderes Unternehmen, das nach den obigen Ausführungen mit Amazon auf dem nationalen Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler im Wettbewerb steht, als Torwächter benannt worden ist. Das stellt ein starkes Indiz für die erhebliche Reichweite und Bedeutung der beiden Vermittlungsplattformen dar. Auf die rechtlichen Unterschiede zwischen § 19a GWB und dem Digital Markets Act kommt es dabei nicht an, weil sich das Indiz aus den der Torwächterbenennung zugrundeliegenden Tatsachen ergibt.
Rz. 152
4. Die Beschwerdeführerinnen und das Bundeskartellamt gehen übereinstimmend und zutreffend davon aus, dass die Feststellung ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist, für dessen Rechtmäßigkeit es auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Oktober 1997 - KVR 14/96, WRP 1998, 517 [juris Rn. 44] - Selektive Exklusivität sowie ferner BGH, Beschlüsse vom 12. Februar 1980 - KVR 3/79, BGHZ 76, 142 [juris Rn. 27, 33] - Valium II und vom 3. Juli 1976 - KVR 4/75, BGHZ 67, 104 [juris Rn. 40, 46] - Vitamin B 12; Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 19a GWB Rn. 11, 34; Grünwald, NZKart 2021, 496, 497). Das Beschwerdegericht ist jedoch auch bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung zu weiteren Ermittlungen über die Entwicklung nach Erlass der angefochtenen Verfügung nur dann verpflichtet, wenn sich aus dem Vortrag der Beteiligten hinreichende Anhaltspunkte für eine entscheidungserhebliche Veränderung ergeben oder wenn sich aus dem sonstigen Sachverhalt Hinweise auf eine derartige Änderung der Tatsachengrundlage der angefochtenen Entscheidung aufdrängen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Oktober 1997 - KVR 14/96, WRP 1998, 517 [juris Rn. 44 mwN] - Selektive Exklusivität; BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - KVR 69/19, BGHZ 226, 67 Rn. 19 - Facebook I). Das ist nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand nicht der Fall.
Rz. 153
a) Dass sich seit Erlass des Beschlusses am 5. Juli 2022 tatsächliche Veränderungen ergeben haben, die zum Entfallen der überragenden marktübergreifenden Bedeutung geführt haben, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Rz. 154
aa) Soweit die Beschwerdeführerinnen vortragen, es hätten kürzlich sehr erfolgreiche Markteintritte der Marktplatzbetreiber Temu und Shein stattgefunden und es werde für die Europäische Union von einem baldigen Markteintritt von TikTok ausgegangen, haben diese danach indes (noch) keine Online-Marktplätze in Deutschland eröffnet. Die Angaben der Beschwerdeführerinnen reichen auch nicht aus, um auf ihrer Grundlage im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen eine neue Beurteilung zu ermöglichen. Anhaltspunkte für entscheidungserhebliche Veränderungen ergeben sich daraus nicht.
Rz. 155
bb) Die Onlineeinzelhandelsaktivitäten von Rewe und H&M sind nicht Teil des relevanten Markts, weil es sich um Online-Shops und nicht um Online-Marktplätze handelt. Gleiches gilt für die Geschäftstätigkeiten des der Schwarz-Gruppe zugehörigen Einzelhandelsunternehmens Lidl, dem das von den Beschwerdeführerinnen vorgetragene Dienstleistungsangebot im Reise-, Telekommunikations- und Cloudbereich sowie das Kundenbindungsprogramm zuzurechnen ist. Soweit die Beschwerdeführerinnen geltend machen, auch Lidl treibe seine Omnichannel-Strategie weiter voran, ergibt sich aus der Anlage 146, dass damit lediglich die Integration der Filialen und Onlineshops und nicht die Eröffnung eines eigenen Online-Markplatzes gemeint ist.
Rz. 156
cc) Soweit das Bundeskartellamt bei seiner Beurteilung die Ceconomy AG außer Betracht gelassen hat, sind die Beschwerdeführerinnen dem Vortrag des Bundeskartellamts in der Beschwerdeerwiderung nicht entgegengetreten, dass sich angesichts der geringen Größe dieses Marktplatzes auch bei seiner Berücksichtigung keine Verschiebung der Marktanteile von Amazon ergeben hätte. Anderes ist auch nicht ersichtlich. Nach den Angaben der Beschwerdeführerinnen boten im Juni 2023 um die 1000 Dritthändler etwa eine Million Artikel im (zu Ceconomy gehörenden) MediaMarktSaturn-Marktplatz an. Diese Zahlen sind im Vergleich mit der Anzahl der auf Amazon Marketplace Deutschland tätigen Dritthändler und den dort erhältlichen Artikeln so gering, dass bei Einbeziehung dieses Marktplatzes in die Marktplatzauswertung keine Auswirkung auf die Marktanteile von Amazon zu erwarten wäre.
Rz. 157
dd) Dies gilt auch für die von den Beschwerdeführerinnen angeführte Erweiterung des Onlineshops von home24, auf dem seit 2009 etwa 250.000 Artikel (ausschließlich Eigenmarken im Bereich Möbel und Accessoires) angeboten werden, und der seit Sommer 2022 als kuratierter - mithin hinsichtlich der Aufnahme von Dritthändlern besonderen Vorgaben unterliegender - hybrider Marktplatz mit 100 Dritthändlern betrieben wird, und ebenso für den nach den vorgelegten Anlagen 152 und 153 seit 2023 auf dem deutschen Markt für - kuratierte - Online-Marktplatzdienstleistungen tätigen Schweizer Anbieter Galaxus mit 200 aktiven Dritthändlern und einem deutschen Umsatz von 286 Mio EUR. Es kann daher dahinstehen, ob kuratierte Online-Marktplätze Teil des sachlich relevanten Marktes sind.
Rz. 158
ee) Die hybriden Marktplätze von eBay, Otto, Zalando und Kaufland hat das Bundeskartellamt in seinem Beschluss berücksichtigt. Dass diese durch den Erwerb von weiteren Unternehmen laufend investieren und ihre Tätigkeiten erweitern, wäre für die Markstellung von Amazon nur dann von Bedeutung, wenn es sich auf die Marktanteile seit Erlass des Beschlusses am 5. Juli 2022 ausgewirkt hätte. Die Beschwerdeführerinnen tragen dazu nichts Erhebliches vor, obwohl ihnen dies im Hinblick auf die ihnen bekannten eigenen Umsätze und ihr eigenes Gesamthandelsvolumen sowie öffentlich verfügbare Statistiken und Berichte über die Umsätze von Otto, eBay und der Kaufland-Gruppe und über das Gesamthandelsvolumen im Onlinehandel wie etwa dem HDE-Online-Monitor möglich gewesen wäre. Soweit sie unter Vorlage der Anlage 148 geltend machen, der mit dem Marktplatzgeschäft von Zalando erzielte Umsatz sei 2023 von 4,4 Mrd EUR auf 4,9 Mrd EUR, also etwa um 12 % gewachsen, bezieht sich das schon nicht auf den hier räumlich relevanten Markt. Der Senat ist daher nach den obigen Grundsätzen nicht gehalten, weitere Ermittlungen, etwa zu Veränderungen bei den Marktanteilen, durchzuführen.
Rz. 159
b) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen sind die in den Verfahren AT.40462 und AT.40703 von Amazon am 20. Dezember 2022 und mithin nach Erlass des angefochtenen Beschlusses gegenüber der Kommission abgegebenen Zusagen (Case COMP/AT.40462 and Case COMP/AT.40703 - Amazon, Commitments to the European Commission sowie Kommissionsentscheidung vom 20. Dezember 2022 - AT.40462/AT.40703 - Amazon Marketplace/Amazon Buy Box) nicht geeignet, Amazons überragende marktübergreifende Stellung für den Wettbewerb gemäß § 19a Abs. 1 GWB entfallen zu lassen (zur nunmehrigen Anwendbarkeit der Vorgaben des Digital Markets Act unten Rn. 188 bis 190).
Rz. 160
aa) Amazon hat unter anderem in Bezug auf Amazon Store Deutschland für eine Zeit von fünf beziehungsweise sieben Jahren zugesagt, dass Amazons Einzelhandelsgeschäft und die dort beschäftigen Personen keine nichtöffentlichen Händlerdaten im Wettbewerb mit Händlern verwenden werden; Amazon objektiv überprüfbare, nicht-diskriminierende Bedingungen und Kriterien für die Entscheidung verwendet, welches Angebot als sogenanntes Featured Offer erscheint und dass Amazon eine Prime-Berechtigung nicht als solches Kriterium nutzen wird. Amazon hat ferner zugesagt, zusätzlich zum Featured Offer ein weiteres Angebot (Second Featured Offer) bei den Suchergebnissen zu zeigen, das sich ausreichend vom (ersten) Featured Offer unterscheidet; sicherzustellen, dass alle Händler, unabhängig davon, ob sie Fulfillment by Amazon oder Merchant Fulfilled Network nutzen, die Möglichkeit haben, sich auf der Grundlage von objektiv überprüfbaren und nicht diskriminierenden Bedingungen und Kriterien für die Prime-Berechtigung zu qualifizieren; sowie dass diejenigen Händler, die Merchant Fulfilled Network nutzen, in der Wahl ihres Versandunternehmens und bei der Verhandlung der Bedingungen mit diesem keinen Beschränkungen unterliegen. Soweit Amazon nach den Zusagen berechtigt ist, von Händlern und Versandunternehmen in diesem Zusammenhang die Übermittlung von erforderlichen Informationen zu fordern, hat Amazon zugesagt, diese Daten nicht für das Amazon Fulfillment Network zu nutzen.
Rz. 161
bb) Diese Zusagen begründen bestimmte Beschränkungen von Amazon bei der Verwendung von Händlerdaten und Daten der von ihnen beauftragten Versandunternehmen für Wettbewerbszwecke, sowie Verpflichtungen in Bezug auf das Featured Offer und die Inanspruchnahme von Logistikdienstleistungen durch Dritthändler. Sie werden bei etwaigen Verfügungen nach § 19a Abs. 2 GWB Bedeutung erlangen, lassen aber die überragende marktübergreifende Bedeutung Amazons für den Wettbewerb oder die marktbeherrschende Stellung auf dem nationalen Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen nicht entfallen. Denn zwar können tatsächliche und rechtliche Beschränkungen des Marktverhaltens - etwa aufgrund datenschutzrechtlicher Vorschriften oder vertraglicher Vereinbarungen - bei der Beurteilung der marktbeherrschenden Stellung gemäß § 18 Abs. 3 Nr. 3 und Abs. 3a Nr. 4 GWB zu berücksichtigen sein (Fuchs in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 18 Rn. 126e aE, 148c; Wolf in MüKoWettbR, 4. Aufl., § 18 GWB Rn. 61). Das gilt aber nicht für die sich aus Art. 102 AEUV, § 19 GWB ergebenden Verhaltenspflichten, denen ein marktbeherrschendes Unternehmen unterliegt. Diese Beschränkungen können nicht zum Entfallen der marktbeherrschenden Stellung führen, sondern folgen unmittelbar aus der Anwendung von Art. 102 AEUV, §§ 19, 18 GWB, nach denen eine marktbeherrschende Stellung vorausgesetzt ist. Da Amazon die Zusagen zur Beseitigung eines von der Kommission als Verstoß gegen Art. 102 AEUV angesehenen Verhaltens abgegeben hat (Kommissionsentscheidung vom 20. Dezember 2022 - AT.40462/AT.40703 Rn. 167 ff., 178 ff., 221 ff. - Amazon Marketplace/Amazon Buy Box) handelt es sich dabei (lediglich) um die Beachtung der Vorgaben von Art. 102 AEUV und § 19 GWB, die eine marktbeherrschende Stellung voraussetzen, nicht aber entfallen lassen. Auch die sich nunmehr aus dem Digital Markets Act ergebenden Verhaltenspflichten von Amazon sind für die Anwendung des § 19a Abs. 1 GWB unerheblich (siehe unten Rn 188 bis 190).
Rz. 162
5. Die gemäß § 19a Abs. 1 Satz 3 GWB erfolgte Befristung der Feststellungsverfügung ist sowohl materiell als auch verfahrensrechtlich fehlerfrei erfolgt.
Rz. 163
a) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen ist die der Verhältnismäßigkeit dienende Befristung nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift ("ist") zwingend. Sie soll die Belastung zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschränken und gewährleistet, dass nach Ablauf von fünf Jahren nach Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung eines Unternehmens für den Wettbewerb ihre Voraussetzungen durch das Bundeskartellamt erneut festgestellt werden müssen (vgl. BT-Drucks. 19/23492, S. 75 und BT-Drucks 19/25868, S. 112). Es liegt daher kein Ermessensfehler darin, dass der Bescheid sich nicht mit der Frage auseinandersetzt, ob eine kürzere Frist festzulegen wäre.
Rz. 164
b) Anders als die Beschwerdeführerinnen meinen, verstößt § 19a Abs. 1 Satz 3 GWB auch nicht deshalb gegen den durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Zugang zu den Gerichten, weil die Möglichkeit, dass sich im Falle eines erfolglosen Rechtsmittels der Zeitraum der Befristung verlängert, für die Betroffenen einen Anreiz setzen könnte, von der Einlegung einer Beschwerde gegen die Feststellungsverfügung abzusehen. Es ist schon nicht nachvollziehbar, dass ein großes Digitalunternehmen, das von der Rechtswidrigkeit der Feststellungsverfügung überzeugt ist, sich von der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes deshalb abhalten lässt, weil dies dazu führt, dass die Frist gemäß § 19a Abs. 1 Satz 3 GWB erst ab Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung zu laufen beginnt. Denn die Feststellungsverfügung kann nach Ablauf der Befristung ohne weiteres für einen neuen Zeitraum von fünf Jahren ergehen. Aus dem gleichen Grund liegt auch keine "Bestrafung" für die Inanspruchnahme von Rechtsschutz darin, dass der Fristbeginn an die Bestandskraft der Feststellungsverfügung gekoppelt ist. Dies hat vielmehr den sachlichen Grund, dass es für die Rechtmäßigkeit der Feststellung auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung ankommt. Wird auf diesen Zeitpunkt bezogen die überragende marktübergreifende Bedeutung festgestellt, ist nach Sinn und Zweck von § 19a Abs. 1 Satz 3 GWB eine Überprüfung erst wieder nach Ablauf von fünf Jahren geboten.
Rz. 165
III. Es liegen keine Verfahrensfehler darin, dass die Beschwerdeführerinnen keine Einsicht in die Rohdaten der vom Bundeskartellamt durchgeführten Händlerumfrage erhalten haben oder das Bundeskartellamt keine weiteren Ermittlungen durchgeführt hat.
Rz. 166
1. Gemäß § 56 Abs. 3 Satz 1 GWB können die Beteiligten bei der Kartellbehörde die das Verfahren betreffenden Akten einsehen, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Das Bundeskartellamt hat die Einsicht in die Unterlagen gemäß § 56 Abs. 4 Satz 1 GWB zu versagen, soweit dies aus wichtigen Gründen, insbesondere zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Erfüllung der Aufgaben der Behörde sowie zur Wahrung des Geheimschutzes oder von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen oder sonstigen schutzwürdigen Interessen des von der Einsicht Betroffenen geboten ist.
Rz. 167
2. Solche Gründe liegen hier vor, so dass das Bundeskartellamt die Akteneinsicht zu Recht versagt hat. Es hat den Beschwerdeführerinnen die gestellten Fragen, die aggregierten Antworten und die von ihm vorgenommene Plausibilisierung zur Verfügung gestellt und mit Schreiben vom 17. Juni 2021 weitere umfangreiche Fragen zur Datengrundlage beantwortet. Es hat unwidersprochen geltend gemacht, bei Offenlegung der Rohdaten sei auch bei einer Schwärzung der Firmennamen der befragten Unternehmen zu befürchten, dass die Beschwerdeführerinnen angesichts der ihnen zur Verfügung stehenden umfangreichen Händlerdaten auf die Identität der an der Umfrage teilnehmenden Händler zurückschließen können und daher sowohl wegen der offengelegten Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Dritthändler als auch wegen des öffentlichen Interesses an von einem Machtgefälle unbeeinflussten Antworten der Schutz der Dritthändler geboten ist. Den auch grundrechtlich durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Interessen der Dritthändler an der Wahrung ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse und dem Schutz ihrer Identität kommt erhebliches Gewicht zu. Demgegenüber besteht kein diese Interessen überwiegendes schutzwürdiges Interesse der Beschwerdeführerinnen an einer Einsicht in die Rohdaten, weil schon nicht dargelegt oder ersichtlich ist, dass diese Einsicht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) oder zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) erforderlich ist.
Rz. 168
a) Auf die Händlerumfrage kommt es nach dem Ausgeführten für den die Feststellungsverfügung tragenden Sachverhalt nicht an. Vielmehr können die Ergebnisse der von Amazon vorgelegten Amazon Seller Survey sowie deren Auswertungen zur Nutzung anderer Online-Marktplätze durch Dritthändler (Multi Homing) unterstellt werden, ohne dass dies die Bewertung des Bundeskartellamts in Frage stellt. Eine Einsicht in die Rohdaten der Händlerumfrage ist aus diesem Grund schon nicht erforderlich.
Rz. 169
b) Soweit die Beschwerdeführerinnen geltend machen, die Kenntnis der Rohdaten sei unerlässlich, um beurteilen zu können, ob die Ergebnisse der Befragung Aufschluss über den relevanten Markt, die Marktbeherrschung und andere für die Untersuchung relevanten Fragen geben, besteht auch insoweit kein schutzwürdiges Interesse. Die Beschwerdeführerinnen zeigen nicht auf, welche Überkreuzauswertungen welcher Fragen zu relevanten neuen Erkenntnissen führen könnten. Das wäre ihnen angesichts der ihnen zur Verfügung gestellten Fragen, aggregierten Antworten, der Plausibilisierung und den weiteren erbetenen umfangreichen Informationen aber möglich gewesen. Dass sich insoweit relevante Erkenntnisse ergeben könnten, ist auch nicht ersichtlich. Nach den obigen Ausführungen kommt es für die Marktabgrenzung nach dem Bedarfsmarktkonzept auf die Austauschbarkeit der nachgefragten Leistungen an. Fragen, die insoweit (nur) in einer Überkreuzauswertung Aufschluss in Bezug auf die Marktabgrenzung geben könnten, enthält die Händlerumfrage nicht.
Rz. 170
3. Weitere Ermittlungen gemäß § 75 Abs. 1 GWB sind aus den genannten Gründen nicht veranlasst.
Rz. 171
IV. § 19a Abs. 1 GWB sowie der hier auf Grund dieser Vorschrift erlassenen Feststellungsverfügung stehen keine unionsrechtlichen Gründe entgegen. Die Vorschrift verstößt nicht gegen Art. 1 Abs. 5 Satz 1 DMA, und auch die zwischenzeitlich erfolgte Benennung von Amazon als Torwächter steht ihrer Anwendung nicht entgegen (nachfolgend unter 1). Die aufgrund von § 19a Abs. 1 GWB ergangene Feststellungsverfügung steht ferner im Einklang mit dem sich aus § 3 Abs. 2 TMG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2000/31 ergebenden Verbot der Einschränkung des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat (nachfolgend unter 2). Es handelt sich bei § 19a GWB schließlich ferner nicht um eine technische Vorschrift, die gemäß Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2015/1535 vor ihrem Erlass hätte notifiziert werden müssen (nachfolgend unter 3). Die Anrufung des Unionsgerichtshofs ist nicht veranlasst (nachfolgend unter 4).
Rz. 172
1. Der Digital Markets Act steht weder § 19a GWB noch der Feststellungsverfügung entgegen.
Rz. 173
a) § 19a Abs. 1 GWB verstößt nicht gegen Art. 1 Abs. 5 Satz 1 DMA.
Rz. 174
aa) Nach Art. 1 Abs. 5 Satz 1 DMA erlegen die Mitgliedstaaten von der Kommission als Torwächter gemäß Art. 3 DMA benannten Unternehmen keine weiteren Verpflichtungen im Wege von Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf, um bestreitbare und faire Märkte zu gewährleisten. Unberührt bleibt durch den Digital Markets Act gemäß Art. 1 Abs. 6 Satz 2 Buchst. b DMA aber unter anderem die Anwendung nationaler Wettbewerbsvorschriften, mit denen andere Formen einseitiger Verhaltensweisen verboten werden, soweit Torwächtern damit weitere Verpflichtungen auferlegt werden. Die Erwägungsgründe 10 und 11 DMA lösen diesen vorgeblichen Widerspruch dahin auf, dass der Digital Markets Act, weil er die Vorschriften über die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts ergänzen soll, unbeschadet der nationalen Wettbewerbsvorschriften gelten soll, nach denen Marktstellungen und einseitige Verhaltensweisen einschließlich ihrer tatsächlichen und möglichen Auswirkungen und des genauen Gegenstands der verbotenen Verhaltensweisen im Einzelfall zu prüfen sind, und nach denen Unternehmen Effizienz und objektive Rechtfertigungsgründe als Argumente für derartige Verhaltensweisen anführen können. Der Digital Markets Act verfolgt nach Erwägungsgrund 11 ein Ziel, das das im Wettbewerbsrecht definierte Ziel, den unverfälschten Wettbewerb auf bestimmten Märkten zu schützen, ergänzt, sich aber davon unterscheidet. Er soll ungeachtet der tatsächlichen, möglichen oder vermuteten Auswirkungen des in ihm geregelten Verhaltens durch frühzeitiges Eingreifen sicherstellen, dass Märkte, auf denen Torwächter tätig sind, bestreitbar und fair sind und bleiben. Er schützt daher ein anderes rechtliches Interesse als dasjenige, das durch die Vorschriften des nationalen Wettbewerbsrechts geschützt wird.
Rz. 175
bb) Nach diesen Maßgaben erlegt § 19a Abs. 1 GWB Torwächtern nicht entgegen Art. 1 Abs. 5 DMA weitere Verpflichtungen auf, sondern ist eine Vorschrift des nationalen Wettbewerbsrechts im Sinn von Art. 1 Abs. 6 Satz 2 Buchst. b DMA, deren Anwendung zulässig ist.
Rz. 176
(1) § 19a GWB ist darauf gerichtet, den von der Vorschrift erfassten Unternehmen andere Formen einseitiger Verhaltensweisen (Art. 1 Abs. 6 Satz 2 Buchst. b DMA) zu untersagen. Mit dem Begriff der überragenden marktübergreifenden Bedeutung ist in qualitativer Hinsicht etwas Anderes vorausgesetzt als die Marktbeherrschung auf einem Markt oder mehreren Märkten (BT-Drucks. 19/25868, S. 113). Er beschreibt eine Wettbewerbsposition, die besondere Gefahren für den Wettbewerb in sich birgt, an welche die Befugnis zur Anordnung der Verhaltenspflichten nach § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 7 GWB anknüpft (Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 32).
Rz. 177
(2) § 19a GWB ist entgegen der Ansicht der Beschwerde eine Vorschrift des nationalen Wettbewerbsrechts. Die Schutzzwecke des § 19a GWB stimmen weitgehend mit denen des Art. 102 AEUV überein. Art. 102 AEUV untersagt den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und dient nach der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs nicht nur dem Schutz der Interessen einzelner Wettbewerber oder Verbraucher, sondern auch der Struktur des Markts und damit des Wettbewerbs als solchem (EuGH, Urteile vom 21. Februar 1973, Rs. 6/72, Slg. 1973, 215 Rn. 26 - Continental Can; vom 4. Juni 2009, C-8/08, Slg. 2009, I-4529 Rn. 38 - T-Mobile Netherlands). In dieses Schutzkonzept fügt sich § 19a GWB als gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. EU Nr. L 1 vom 4. Januar 2003, S. 1 bis 25) zulässige strengere innerstaatliche Vorschrift nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck ein.
Rz. 178
(a) Aus dem Wortlaut ("überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb") lässt sich entnehmen, dass der Schutz des Wettbewerbs vor dem besonderen Gefährdungspotential der Unternehmen mit der beschriebenen besonderen Wettbewerbsstellung auf digitalen Märkten Ziel der Vorschrift ist (BT-Drucks 19/23492, S. 73). Das ergibt sich ferner aus der Ergänzung des allgemeinen Behinderungsverbots des § 19 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 GWB durch die qualifizierten Behinderungsverbote nach § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 GWB, und das gegenüber den allgemeinen Diskriminierungsverboten des Art. 102 Abs. 2 Buchst. c AEUV und des § 19 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 GWB erweiterte Verbot der Vorzugsbehandlung eigener Angebote nach § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GWB.
Rz. 179
(b) Auch die Gesetzessystematik lässt erkennen, dass es sich bei § 19a GWB um eine Vorschrift des Wettbewerbsrechts handelt. Der Gesetzgeber hat die Vorschrift im Kapitel 2 (Marktbeherrschung, sonstiges wettbewerbsbeschränkendes Verhalten) in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen eingefügt und damit die unmittelbare Nähe zu den wettbewerbsrechtlichen Verbotstatbeständen deutlich gemacht (vgl. Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 27).
Rz. 180
(c) § 19a GWB soll dazu dienen, den Wettbewerbsprozess - insbesondere im Hinblick auf noch nicht beherrschte Märkte - zu schützen (BT-Drucks. 19/23492, S. 73), indem nicht von Leistungswettbewerb getragenen Konzentrations- und Expansionstendenzen entgegengewirkt und bestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen verhindert werden, die in besonderer Weise befähigt sind, ihre Machtposition über Marktgrenzen hinweg auszudehnen und die Unangreifbarkeit ihrer marktübergreifenden Stellung abzusichern (ebenda S. 77; BT-Drucks. 19/25868, S. 112). Die Vorschrift will die Freiheit des Wettbewerbs, die Begrenzung wirtschaftlicher Machtstellungen, die Offenhaltung von Märkten und den Schutz wettbewerblicher Prozesschancen gewährleisten (BT-Drucks. 19/23492, S. 77). Im Gegensatz zum Regelungsansatz des Digital Markets Act, nach dem im Wesentlichen aufgrund von Umsatz- und Endnutzerschwellen zu designierende Torwächter (Art. 3 DMA) bestimmten Verhaltenspflichten (Art. 5 bis 7 DMA) ohne weitere Prüfung und Rechtfertigungsmöglichkeit im Einzelfall (Erwägungsgrund 23) unterliegen, ist nach § 19a GWB eine auf den Einzelfall bezogene Bewertung sowohl der Wettbewerbsstellung bestimmter Unternehmen als auch der von ihrem Verhalten ausgehenden Gefährdung wettbewerbsrechtlicher Schutzgüter vorzunehmen.
Rz. 181
(d) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen handelt es sich bei § 19a GWB auch nicht deshalb um eine regulierungsrechtliche Norm, weil die Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb etwa der Qualifikation eines Unternehmens als Sektorunternehmen in einem regulierten Sektor entspräche. § 19a Abs. 1 GWB steht vielmehr in engem Zusammenhang mit § 19 Abs. 1 GWB, der ebenfalls eine bestimmte Marktstellung des Normadressaten voraussetzt, ohne dass die Norm deshalb als regulierungsrechtliche Regelung anzusehen wäre. Regulierungsrecht ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Marktbereiche generell einem Regulierungsregime unterworfen werden, weil insoweit die Gefahr unzureichender Marktverhältnisse besteht, der nicht allein mit den Mitteln des allgemeinen Wettbewerbsrechts begegnet werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2011 - 1 BvR 1932/08, BVerGK 19, 229 Rn. 48). Darum handelt es sich hier aber bereits nicht. Im Gegenteil geht es - wie auch bei der Marktbeherrschung - um die besondere Machtstellung einzelner weniger großer Unternehmen, der mit Mitteln des Wettbewerbsrechts begegnet werden soll. Dabei werden nicht ein Marktsektor und alle dort tätigen Akteure einheitlichen Regulierungsregeln unterworfen, sondern es ist im jeweiligen Einzelfall und bezogen auf ein bestimmtes Unternehmen eine kartellrechtliche Prüfung zu leisten.
Rz. 182
(3) § 19a GWB verlangt zudem, wie in Art. 1 Abs. 6 Satz 2 Buchst. b DMA in Verbindung mit den Erwägungsgründen 10 und 11 vorausgesetzt, eine Würdigung der Marktstellung und Verhaltensweisen einschließlich ihrer tatsächlichen und möglichen Auswirkungen und des genauen Gegenstands der verbotenen Verhaltensweisen im Einzelfall.
Rz. 183
(a) Die Prüfung, ob vom Unternehmen Verhaltensweisen ausgehen, wie sie im abschließenden Katalog des § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 7 GWB genannt sind (vgl. BT-Drucks. 19/23492, S. 75), erfordert eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls. Das folgt zunächst daraus, dass der Erlass der Verbotsverfügung im Ermessen des Bundeskartellamts steht und die Behörde bei der Ausübung dieses Ermessens an den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden ist (BT-Drucks. 19/23492, S. 75). Daher sind die möglichen Auswirkungen und das Schädigungspotenzial des beanstandeten Verhaltens im Hinblick darauf zu überprüfen, ob das Verbot zur Erreichung des mit der Vorschrift verfolgten Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist. Auch wenn ein konkretes Verhalten die Voraussetzungen eines Regelbeispiels erfüllt und damit einen Verbotstatbestand nach § 19a Abs. 2 GWB indiziert, erfordert ein Verbot daher die umfassende Würdigung der Umstände des konkreten Einzelfalls.
Rz. 184
(b) Zudem ist eine etwaige sachliche Rechtfertigung, die von den Umständen des Einzelfalls abhängt, beim Erlass einer Verfügung nach § 19a Abs. 2 Satz 2 GWB stets zu prüfen (BT-Drucks. 19/25868, S. 113). Dabei ist eine Interessenabwägung erforderlich, bei der auch Effizienzgesichtspunkte und mögliche wettbewerbsfördernde Elemente eines Verhaltens zu berücksichtigen sind (BT-Drucks. 19/23492, S. 77; 19/25868, S. 113). Bei der Anwendung des § 19a Abs. 2 GWB kommt es damit auch auf die möglichen tatsächlichen Auswirkungen an, die das mögliche Wettbewerbsverhalten des betroffenen Unternehmens auf bestimmten Märkten hat. Auch dies unterscheidet die Vorschrift von einer ganze Sektoren betreffenden Regulierung.
Rz. 185
(4) § 19a GWB erfasst schließlich Verhaltensweisen, die über die im Digital Markets Act geregelten Verhaltensweisen hinausgehen. Zwar bestehen zwischen den nach Art. 5 bis 7 DMA verbotenen und den gemäß § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 7 GWB im Einzelfall zu untersagenden Verhaltensweisen Überschneidungen. § 19a Abs. 2 GWB enthält aber auch eigenständige Regelungsbefugnisse und weitergehende Untersagungsmöglichkeiten als der Digital Markets Act.
Rz. 186
(a) Die Tatbestände der Art. 5 bis 7 DMA enthalten bestimmte Vorgaben, während die Untersagungstatbestände des § 19a Abs. 2 GWB allgemeiner formuliert sind. Die dort genannten Verhaltenspflichten werden durch eine jeweils nicht abschließende Aufzählung von Regelbeispielen konkretisiert. Bestimmte Regelungsbefugnisse gehen über diejenigen hinaus, die im Digital Markets Act vorgesehen sind. So kann nach § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GWB - über Art. 6 Abs. 5 DMA hinaus - nicht nur die Vorzugsbehandlung der eigenen Angebote des Normadressaten beim Ranking, der Indexierung und dem Auffinden untersagt werden, sondern grundsätzlich jede Vorzugsbehandlung der eigenen Angebote gegenüber denen von Wettbewerbern beim Vermitteln des Zugangs zu Beschaffungs- und Absatzmärkten. Nach § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a GWB kann - über Art. 6 Abs. 3 Satz 1 DMA hinaus - Normadressaten untersagt werden, Maßnahmen zu ergreifen, die zu einer ausschließlichen Vorinstallation oder Integration von Angeboten des Unternehmens führen. Nach § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 GWB kann grundsätzlich jede Behinderung anderer Unternehmer oder von Wettbewerbern untersagt werden. Derartig weit gefasste Behinderungsverbote und auch eine dem Anzapfverbot nach § 19a Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 GWB vergleichbare Verhaltenspflicht kennt der Digital Markets Act nicht (vgl. Monopolkommission, XXIV. Hauptgutachten 2022, Kapitel V Rn. 509).
Rz. 187
(b) Danach greifen die von den Beschwerdeführerinnen vorgebrachten Einwände nicht durch. Sie beruhen auf der unzutreffenden Prämisse, dass § 19a Abs. 2 GWB ungeachtet der tatsächlichen, möglichen oder vermuteten Auswirkungen des Verhaltens eines Unternehmens mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb Anwendung findet. Das ist indes nicht der Fall. Wie dargelegt (Rn. 43 bis 49), setzen Verfügungen nach § 19a Abs. 2 GWB regelmäßig eine Gefahr für den Wettbewerb oder eine bereits eingetretene Wettbewerbsbeeinträchtigung und eine umfassende Prüfung der Umstände des Einzelfalls voraus (BT-Drucks. 19/23492, S. 75; vgl. Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 131). Lediglich in Bezug auf die diese Verfügungen vorbereitende Feststellungsverfügung des § 19a Abs. 1 GWB, die selbst keine Verhaltenspflichten begründet, gilt dies nicht. Das entspricht § 19 GWB, da auch nach dieser Vorschrift Voraussetzung für konkrete, auf den Einzelfall bezogene Verhaltenspflichten eine besondere Machtstellung - dort: marktbeherrschende Stellung gemäß § 18 GWB - des Unternehmens ist.
Rz. 188
b) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen gibt der Umstand, dass Amazon aufgrund der Benennung als Torwächter nunmehr in Bezug auf seine Plattformen Amazon Marketplace und Amazon Advertising die Vorgaben des DMA zu erfüllen hat, nach den dafür geltenden Maßgaben (siehe oben Rn. 152) keinen Anlass zu weiteren Ermittlungen.
Rz. 189
aa) Bei den gemäß Art. 5 ff. DMA für diese Plattformen zu erfüllenden Vorgaben handelt es sich um Beschränkungen, die - wovon auch die Beschwerdeführerinnen ausgehen - Amazon nach ihrem Regelungsgehalt und auf Deutschland beschränkt auch gemäß § 19a Abs. 2 GWB hätten auferlegt werden können. Sie führen zwar dazu, dass die nach Art. 5 ff. DMA zu erfüllenden Verpflichtungen die wettbewerblichen und strategischen Möglichkeiten von Amazon in bestimmter Hinsicht seit dem 7. März 2024 einschränken. Das lässt die überragende marktübergreifende Bedeutung des Unternehmens für den Wettbewerb gemäß § 19a Abs. 1 GWB nach seinem Sinn und Zweck aber nicht entfallen. Wie dargelegt, ist die Vorschrift des § 19a GWB gemäß Art. 1 Abs. 6 Satz 2 Buchst. b DMA als nationale Wettbewerbsvorschrift neben dem Digital Markets Act anwendbar. Dabei ist der mögliche Anwendungsbereich des § 19a GWB in persönlicher Hinsicht weiter, weil nach § 19a GWB auch Vorgaben für andere Unternehmen als die nach Art. 3 benannten Torwächter möglich sind. Während die Normadressaten nach Art. 5, 6 DMA nur im Hinblick auf die im Benennungsbeschluss nach Art. 3 Abs. 9 DMA aufgeführten zentralen Plattformdienste den besonderen Verhaltenspflichten unterliegen, erfasst die Feststellung nach § 19a Abs. 1 GWB das Unternehmen insgesamt, weshalb sich die Verhaltensgebote und -verbote nach § 19a Abs. 2 GWB auf sämtliche von ihm angebotenen Waren und Dienstleistungen beziehen können (vgl. Monopolkommission, XXIV. Hauptgutachten 2022, Kapitel V Rn. 509). Ferner erlaubt § 19a GWB dem Bundeskartellamt, Verhaltensweisen zu verbieten, die durch den Digital Markets Act nicht erfasst werden, bei denen aber gemäß Art. 12, 16 und 19 DMA eine Erweiterung seines Anwendungsbereichs geboten sein könnte (vgl. Monopolkommission, XXIV. Hauptgutachten 2022, Kapitel V Rn. 510). Vor diesem Hintergrund kann die Anwendbarkeit des Digital Markets Act schon deshalb nicht zum Wegfall der überragenden marktübergreifenden Bedeutung führen, weil ansonsten die vom Gesetzgeber bezweckte parallele und gegebenenfalls überschießende Anwendung der Vorschrift verhindert würde. Hier liegt es ebenso wie im Fall der Marktbeherrschung, bei der ein Wegfall der marktbeherrschenden Stellung wegen der dem Marktbeherrscher obliegenden besonderen Verhaltenspflichten offensichtlich sinnwidrig wäre.
Rz. 190
bb) Die Anwendbarkeit des Digital Markets Act wird daher erst bei etwaigen Verbotsverfügungen gemäß § 19a Abs. 2 GWB Bedeutung erlangen. Im Hinblick auf § 19a Abs. 1 GWB wird dagegen die von den Beschwerdeführerinnen behauptete - geringe (siehe Rn. 149) - Vorfeldwirkung von § 19a Abs. 1 GWB wegen der nach dem Digital Markets Act ohnehin bewirkten Einschränkungen des Betriebs der betroffenen Plattformen (noch) geringer. Danach liegt auch ein Ermessensfehler wegen der von den Beschwerdeführerinnen gerügten fehlenden Berücksichtigung des Digital Markets Act bei Erlass der Feststellungsverfügung nicht vor.
Rz. 191
2. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen verstößt die auf der Grundlage von § 19a Abs. 1 GWB ergangene Feststellungsverfügung auch nicht mangels Notifizierung gemäß § 3 Abs. 5 TMG (in der bis zum 13. Mai 2024 geltenden Fassung; nunmehr § 3 DDG) in Verbindung mit Art. 3 Abs. 4 Buchst. b Richtlinie 2000/31 gegen das sich aus § 3 Abs. 2, 5 und 6 TMG (§ 3 Abs. 2, 5 und 6 DDG) in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2000/31 ergebende Verbot der Einschränkung des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat.
Rz. 192
a) Nach § 3 Abs. 2 TMG (§ 3 Abs. 2 DDG) wird der freie Dienstleistungsverkehr von Telemedien, die innerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinie 2000/31 in Deutschland von Diensteanbietern, die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen sind, geschäftsmäßig angeboten oder verbreitet werden, vorbehaltlich der in den Absätzen 5 und 6 enthaltenen Ausnahmen nicht eingeschränkt. Diese Vorschrift setzt Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2000/31 um. Danach dürfen die Mitgliedstaaten den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat nicht aus Gründen einschränken, die in den koordinierten Bereich fallen. "Koordinierter Bereich" bezeichnet dabei die für die Anbieter von Diensten der Informationsgesellschaft in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten festgelegten Anforderungen in Bezug auf die Aufnahme der Tätigkeit eines Dienstes der Informationsgesellschaft, die Ausübung der Tätigkeit eines Dienstes der Informationsgesellschaft und betreffend die Verantwortlichkeit des Diensteanbieters, ungeachtet der Frage, ob sie allgemeiner Art oder speziell für sie bestimmt sind (vgl. auch die Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in den Rechtssachen C-662/22 bis C-667/22 vom 11. Januar 2024, Rn. 155). Die Mitgliedstaaten können gemäß § 3 Abs. 5 TMG (§ 3 Abs. 5 DDG) in Verbindung mit Art. 3 Abs. 4 Richtlinie 2000/31 Maßnahmen ergreifen, die im Hinblick auf einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft davon abweichen, wenn die Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit, der öffentlichen Sicherheit oder zum Schutz der Verbraucher erforderlich sind, einen bestimmten Dienst betreffen, der die Schutzziele beeinträchtigt oder eine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr für diese Ziele darstellt und die Maßnahmen angemessen sind. Weitere Voraussetzung ist danach, dass der Mitgliedstaat vor Ergreifen der Maßnahmen den anderen Mitgliedstaat aufgefordert hat, Maßnahmen zu ergreifen und dieser dem nicht nachgekommen ist, sowie die Kommission und den anderen Mitgliedstaat von seiner Absicht, Maßnahmen zu ergreifen, unterrichtet hat.
Rz. 193
b) Hier war keine Mitteilung über die Feststellungsverfügung gemäß § 3 Abs. 5 TMG (§ 3 Abs. 5 DDG), Art. 3 Abs. 4 Buchst. b Richtlinie 2000/31 erforderlich. Denn die auf der Grundlage von § 19a Abs. 1 GWB ergangene Feststellungsverfügung bewirkt schon keine Einschränkung des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat im Sinn von § 3 Abs. 2 TMG (§ 3 Abs. 2 DDG), Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2000/31 (zu diesem Erfordernis vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2023 - C-376/22, NJW 2024, 201 Rn. 31 - Google Ireland; sowie die Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in den Rechtssachen C-662/22 bis C-667/22 vom 11. Januar 2024, Rn. 173). Sie entfaltet keine Rechtswirkungen im Hinblick auf einen bestimmten Dienst, weil sie sich nicht auf einen bestimmten Dienst bezieht. Soweit die Beschwerdeführerinnen geltend machen, der Feststellungsverfügung komme eine auch die grenzüberschreitenden Geschäftstätigkeiten beeinträchtigende Vorfeldwirkung zu, weil sie geeignet sei, Investitionsentscheidungen zu beeinflussen, und die Beschwerdeführerinnen organisatorische und finanzielle Vorkehrungen im Hinblick auf die Norm hätten treffen müssen, reicht das für die Bewirkung einer solchen Einschränkung nicht aus. Der freie Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft wird erst und allenfalls beschränkt, wenn sich etwaige Verfügungen nach § 19a Abs. 2 GWB auf einen bestimmten Dienst beziehen. Nur in Bezug auf einen bestimmten Dienst kann geprüft werden, ob er einen Dienst der Informationsgesellschaft gemäß Art. 2 Buchst. a Richtlinie 2000/31 darstellt, wer Diensteanbieter gemäß Art. 2 Buchst. b ist, in welchem Mitgliedstaat der Diensteanbieter gemäß § 2 Nr. 1 und 2, § 2a Abs. 1 TMG (§ 2 Nr. 1 und 2, § 2a DDG) in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c und Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2000/31 - sowie in Bezug auf Videosharing-Plattformen gegebenenfalls gemäß § 2a Abs. 4 bis 7 TMG (§ 2a Abs. 4 bis 7 DDG) - niedergelassen ist und ob das Herkunftslandprinzip entgegen § 3 Abs. 2 TMG (§ 3 Abs. 2 DDG) eingeschränkt wird. Nichts anderes ergibt sich aus den von den Beschwerdeführerinnen in Bezug genommenen Schlussanträgen des Generalanwalts Szpunar (Rechtssachen C-662/22 bisC-667/22 vom 11. Januar 2024, Rn. 31 f., 134), die ein italienisches Gesetz betrafen, wonach Amazon Services Europe Sàrl als eine Gesellschaft, die einen bestimmten Dienst - Amazon Store Italien - betreibt, zur Registrierung in Italien verpflichtet ist.
Rz. 194
c) Danach kann dahinstehen, ob für § 19a GWB die für kartellrechtliche Fragen geltende Ausnahmeregelung gemäß § 3 Abs. 4 Nr. 8 TMG (§ 3 Abs. 4 Nr. 8 DDG), Art. 1 Abs. 5 Buchst. c Richtlinie 2000/31 eingreift.
Rz. 195
3. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen ist § 19a Abs. 1 GWB keine technische Vorschrift, die gemäß Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2015/1535 vor ihrem Erlass hätte notifiziert werden müssen.
Rz. 196
a) "Technische Vorschriften" sind gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. f Richtlinie 2015/1535 unter anderem "Vorschriften betreffend Dienste", einschließlich der einschlägigen Verwaltungsvorschriften, deren Beachtung rechtlich oder de facto für das Inverkehrbringen, die Erbringung des Dienstes, die Niederlassung eines Erbringers von Diensten oder die Verwendung in einem Mitgliedstaat oder in einem großen Teil dieses Staats verbindlich ist. Eine "Vorschrift betreffend Dienste" ist nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Richtlinie 2015/1535 eine allgemein gehaltene Vorschrift über den Zugang zu den Aktivitäten der gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. b Richtlinie 2015/1535 definierten Dienste und über deren Betreibung, insbesondere Bestimmungen über den Erbringer von Diensten, die Dienste und den Empfänger von Diensten, unter Ausschluss von Regelungen, die nicht speziell auf die unter dieser Nummer definierten Dienste abzielen.
Rz. 197
b) Diese Voraussetzungen liegen im Hinblick auf § 19a Abs. 1 GWB nicht vor. § 19a Abs. 1 GWB ist keine allgemein gehaltene Vorschrift betreffend Dienste der Informationsgesellschaft im Sinn des Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Richtlinie 2015/1535 und damit keine technische Vorschrift (Art. 1 Abs. 1 Buchst. f Richtlinie 2015/1535).
Rz. 198
aa) Die Voraussetzung "allgemein gehalten" ist nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck des Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Richtlinie 2015/1535 dahin auszulegen, dass die Vorschrift betreffend Dienste sich auf alle Dienste oder alle Diensteerbringer gleichermaßen beziehen muss. Es reicht entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen dagegen nicht aus, dass eine nur für bestimmte - wenige - Unternehmen (hier: Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb) geltende Vorschrift in abstrakt-genereller Weise formuliert ist.
Rz. 199
(1) Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Richtlinie 2015/1535. Da es sich bei einer Vorschrift um eine generelle und abstrakte Regelung handelt, muss das in der Richtlinie 2015/1535 enthaltene zusätzliche Erfordernis "allgemein gehalten" - worauf das Bundeskartellamt in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat - eine darüber hinausweisende Bedeutung haben. Dies lässt sich den anderen Sprachfassungen der Richtlinie 2015/1535 unzweifelhaft entnehmen ("a requirement of a general nature relating to the taking-up and pursuit of service activities (…)"; "une exigence de nature générale relative à l'accès aux activités de service (…)"; "un requisite di natura generale relative all'accesso alle attività di servizio (…)"; "un requisite de carácter general relative al acceso a las actividades de servicios (…); "een algemene eis betreffende de toegang tot en de uitoefening van dienstenactiviteiten (…)". Gemeint ist danach eine Vorschrift, die sich auf alle Dienste oder Diensteerbringer gleichermaßen bezieht und die in diesem Sinn generell anwendbar ist. Das wird auch daraus deutlich, dass Art. 1 Abs. 1 Buchst. d Richtlinie 2015/1535 als sonstige Vorschrift eine Vorschrift für ein Erzeugnis definiert, ohne zugleich das zusätzliche Merkmal "allgemein gehalten" zu verwenden. Eine solche Klarstellung ist in Bezug auf für Erzeugnisse geltende Spezifikationen oder sonstige Vorschriften nicht erforderlich, weil der Begriff der Vorschrift ihre generelle Geltung für alle Erzeugnisse bereits beinhaltet.
Rz. 200
(2) Dass eine Vorschrift betreffend Dienste gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Richtlinie 2015/1535 sich generell auf Dienste oder Diensteerbringer beziehen muss, lässt sich auch Erwägungsgrund 18 der Richtlinie 98/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juli 1998 zur Änderung der Richtlinie 98/34/EG über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften (ABl. EU Nr. L 217 vom 5. August 1998, S. 18 bis 26; fortan: Änderungs-RL) entnehmen. Durch die Änderungs-RL wurden die Vorschriften, die Dienste der Informationsgesellschaften betreffen, in die Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 eingefügt, die 2015 durch die Richtlinie 2015/1535 ersetzt wurde. Nach Erwägungsgrund 18 Änderungs-RL sind unter Vorschriften für den Zugang zu den Diensten und über deren Betreibung Anforderungen für die Dienste der Informationsgesellschaft wie Vorschriften über Erbringer, Dienste und Empfänger der Dienste zu verstehen, die sich auf eine elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf des Empfängers erbrachte Leistung wirtschaftlicher Art beziehen. Darunter fallen zum Beispiel die Vorschriften über die Niederlassung der Erbringer dieser Dienste und insbesondere diejenigen über Genehmigungs- oder Lizenzsysteme. Nicht darunter fallen dagegen Maßnahmen, die sich unmittelbar und individuell auf bestimmte Adressaten beziehen (wie zum Beispiel die Lizenzen auf dem Gebiet der Telekommunikation).
Rz. 201
(3) Auch nach ihrem Sinn und Zweck erstreckt sich Art. 5 Richtlinie 2015/1535 nur auf Vorschriften, die generell für Dienste und Diensteerbringer gelten.
Rz. 202
(a) Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2015/1535 dient der Verwirklichung des Binnenmarktes und der Sicherung der primärrechtlichen Waren- und Dienstleistungsfreiheiten, die den Binnenmarkt konstituieren. Nach ständiger Rechtsprechung soll die Richtlinie 2015/1535 den freien Wettbewerb im Binnenmarkt, der zu den Grundlagen der Europäischen Union gehört, durch eine vorbeugende Kontrolle schützen. Dies ist insofern sinnvoll, als unter die Richtlinie fallende technische Vorschriften möglicherweise Behinderungen des Warenaustauschs zwischen Mitgliedstaaten darstellen, die nur zugelassen werden können, wenn sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen zu genügen, die ein im allgemeinen Interesse liegendes Ziel verfolgen (vgl. EuGH, Urteile vom 30. April 1996 - C-194/94, Slg. 1996, I-2201, Rn. 40, 48 - CIA Security International zur Richtlinie 83/189/EWG; vom 8. September 2005 - C-303/04, Slg. 2005, I-7865, Rn. 22 - Lidl Italia zur Richtlinie 98/34/EG; vom 19. Juli 2012 - C-214/11, BeckRS 2012, 81476 Rn. 26). Die Notifizierungs- und Stillhaltepflicht soll das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts sichern, indem hinsichtlich nationaler Maßnahmen zur Erstellung technischer Vorschriften größtmögliche Transparenz hergestellt wird (Erwägungsgründe 2 bis 7). Die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten sollen bereits vor dem Erlass technischer Vorschriften auf dadurch möglicherweise verursachte Handelshemmnisse hinweisen können. Auch die Wirtschaftsteilnehmer sollen über Informationen zu den technischen Vorschriften verfügen. Im Hinblick auf Vorschriften betreffend Dienste hat der Unionsgesetzgeber ausgeführt, dass sich ohne eine Koordinierung aus der Regelungstätigkeit der Mitgliedstaaten Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit ergeben könnten, die zu einer Zersplitterung des Binnenmarkts und zu einer Überreglementierung führen würden (Erwägungsgrund 8 Änderungs-RL). Angesichts einer nur teilweisen Harmonisierung der für die Informationsgesellschaft relevanten Bereiche (Erwägungsgründe 10, 11 Änderungs-RL) sei ein Verfahren zur Information, Konsultation und administrativen Zusammenarbeit erforderlich, um zu schützende Allgemeininteressen zu erkennen und den Schutz von Zielen des Allgemeininteresses auf das absolut notwendige und angemessene Maß zu verringern (Erwägungsgrund 12 Änderungs-RL).
Rz. 203
(b) Diese Ziele sind auf Vorschriften zugeschnitten, die generell für Dienste und Diensteerbringer gelten. Nur aus solchen Vorschriften können sich Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit ergeben, die der Kommission, den anderen Mitgliedstaaten sowie den Wirtschaftsteilnehmern nach Sinn und Zweck der Richtlinie 2015/1535 zur Kenntnis zu bringen sind, weil sich daraus zu schützende Allgemeininteressen in Bezug auf Dienste und Diensteerbringer und damit ein Harmonisierungsbedarf ergeben können. Das gilt dagegen nicht für Vorschriften, die nicht an dienstespezifische, sondern an unternehmensspezifische Merkmale anknüpfen und daher nicht alle, sondern nur bestimmte Diensteerbringer betreffen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 4. Februar 2016 - C-336/14, juris Rn. 76 mwN - Ince; EuGH, Urteil vom 20. Dezember 2017 - C-255/16, juris Rn. 16 mwN - Falbert).
Rz. 204
bb) Nach diesen Grundsätzen ist § 19a Abs. 1 GWB keine allgemein gehaltene Vorschrift über Dienste der Informationsgesellschaft im Sinn des Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Richtlinie 2015/1535. § 19a Abs. 1 GWB bezieht sich nur auf einzelne Wirtschaftsteilnehmer. Die Vorschrift gilt nicht gleichermaßen für jedes Unternehmen, das Dienste der Informationsgesellschaft erbringt oder erbringen möchte. Sie erfasst lediglich besondere, von der Tätigkeit weniger Unternehmen ausgehende wettbewerbliche Gefährdungslagen und ermöglicht dem Bundeskartellamt - nach konstitutiv wirkender Feststellung der Adressateneigenschaft eines betroffenen Unternehmens gemäß § 19a Abs. 1 Satz 1 GWB - nur diesem Unternehmen nach § 19a Abs. 2 GWB besondere Verhaltenspflichten in Bezug auf die Erbringung der von ihm angebotenen Dienstleistungen aufzuerlegen. Die Feststellung nach § 19a Abs. 1 GWB hat ihren Grund in der Bedeutung des jeweiligen Unternehmens für den Wettbewerb und ist daher unternehmensspezifisch. Sie gilt nicht allgemein für Dienste oder Diensteerbringer. Soweit das von den Beschwerdeführerinnen vorgelegte Gutachten des ehemaligen Generalanwalts Saugmandsgaard Øe vom 14. Juli 2023 und Stimmen in der Literatur (Schubert, NZKart 2021, 338, 339) die Voraussetzung des Vorliegens einer allgemein gehaltenen Vorschrift durch § 19a GWB als unproblematisch erfüllt ansehen, stellen sie lediglich auf dessen allgemein gehaltenen Wortlaut ab, ohne sich mit dem unternehmensspezifischen Gehalt der Regelung auseinanderzusetzen.
Rz. 205
cc) Auf die von den Beschwerdeführerinnen aufgeworfene Frage, ob Ermächtigungsgrundlagen, auf deren Grundlage nach der Feststellung darin enthaltener Voraussetzungen konkret individuelle Entscheidungen getroffen werden, von der Notifizierungspflicht erfasst werden, kommt es hier schon deshalb nicht an, weil die Ermächtigungsgrundlage (§ 19a Abs. 1 GWB) nach dem Ausgeführten selbst keine allgemein gehaltene Vorschrift ist und daher der Notifizierungspflicht aus diesem Grund nicht unterfällt. Eine Umgehung von Art. 5 ff. Richtlinie 2015/1535 durch die Konstruktion der Vorschrift in dem Sinn, dass die Entscheidung über ihre Anwendbarkeit durch eine Verwaltungsbehörde getroffen wird (so auch Schubert, NZKart 2021, 338, 339; Grünwald in FK-Kartellrecht, Stand 01/2024, § 19a GWB Rn. 32; Kruse/Maturana, GRUR 2021, 1366, 1368), kommt daher hier nicht in Betracht.
Rz. 206
dd) Dieses Ergebnis wird durch den Zusammenhang von Art. 3 Richtlinie 2000/31 und Art. 5 Richtlinie 2015/1535 bestätigt. Der Unionsgerichtshof hat entschieden, dass Art. 3 Abs. 4 Richtlinie 2000/31 dahin auszulegen ist, dass generell-abstrakte Maßnahmen, die sich auf eine allgemein umschriebene Kategorie bestimmter Dienste der Informationsgesellschaft beziehen und unterschiedslos für alle Anbieter dieser Kategorie von Diensten gelten, nicht unter den Begriff der Maßnahmen betreffend einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft im Sinne dieser Bestimmung fallen (EuGH, Urteil vom 9. November 2023 - C-376/22, NJW 2024, 201 Rn. 60 - Google Ireland). Er hat das unter anderem damit begründet, dass Art. 3 Abs. 4 Buchst. b Richtlinie 2000/31 - wenn die Vorschrift so auszulegen wäre, dass sie Maßnahmen abstrakt-genereller Natur umfasste, die unterschiedslos für alle Anbieter einer Kategorie von Diensten der Informationsgesellschaft gelten - neben der von der Richtlinie 2015/1535 geforderten Mitteilung überflüssig wäre (EuGH, Urteil vom 9. November 2023 - C-376/22, NJW 2024, 201 Rn. 37 - Google Ireland). Daraus folgt im Umkehrschluss, dass Art. 5 Richtlinie 2015/1535 lediglich Vorschriften abstrakt-genereller Natur umfasst, die sich auf alle Dienste oder alle Diensteerbringer gleichermaßen beziehen müssen. Denn wenn sich die Vorschrift auch auf konkrete Maßnahmen bezöge, die nur einzelne Diensteanbieter betreffen, wäre Art. 3 Abs. 4 Buchst. b Richtlinie 2000/31 neben Art. 5 Richtlinie 2015/1535 überflüssig.
Rz. 207
ee) Danach kommt es nicht mehr darauf an, ob § 19a Abs. 1 GWB über die nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. f Richtlinie 2015/1535 vorausgesetzte Verbindlichkeit verfügt, insbesondere, ob die Regelung - wie die Beschwerdeführerinnen unter Bezugnahme auf ein Gutachten des ehemaligen Generalanwalts Saugmandsgaard Øe vom 14. Juli 2023 geltend machen - aufgrund der möglichen allgemeinen Lenkungswirkungen als eine technische de facto Vorschrift gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. f Richtlinie 2015/1535 anzusehen ist (vgl. Wagner-von Papp, BeckOK Kartellrecht, Stand 1. April 2024, § 19a GWB Rn. 27 aE; Schubert NZKart 2021, 338, 339; Kruse/Maturana, GRUR 2021, 1366, 1368; Grünwald in FK-Kartellrecht, Stand 01/2024, § 19a GWB Rn. 32).
Rz. 208
4. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union ist nicht veranlasst.
Rz. 209
a) Ein einzelstaatliches Gericht ist, soweit gegen seine Entscheidung kein Rechtsmittel gegeben ist, verpflichtet, den Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs.3 AEUV anzurufen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts stellt (EuGH, Urteil vom 15. März 2017 - C-3/16, ECLI:EU:C:2017:209, Rn. 42 - Aquino). Es ist von dieser Pflicht nur dann befreit, wenn die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, die Vorschrift des Unionsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile vom 6. Oktober 1982 - Rs. 283/81, ECLI:EU:C:1982:335, Rn. 21 - Cilfit u. a.; vom 15. September 2005 - C-495/03, ECLI:EU:C:2005:552, Rn. 33 - Intermodal Transports; und vom 4. Oktober 2018 - C-416/17, ECLI:EU:C:2018:811, Rn. 110 - Kommission/Frankreich).
Rz. 210
b) Nach diesen Maßgaben ist eine Vorlage im Hinblick auf die Beurteilung des Senats, dass es sich bei § 19a Abs. 1 GWB um eine nationale Wettbewerbsvorschrift im Sinn des Art. 1 Abs. 6 Satz 2 Buchst. b DMA handelt, nicht veranlasst. Die richtige Auslegung des Unionsrechts ist im vorliegenden Fall aufgrund des Wortlauts, des Sinns und Zwecks, der genannten Erwägungsgründe sowie insbesondere der Entstehungsgeschichte des Digital Markets Act, in den die Vorschrift des Art. 1 Abs. 6 Satz 2 Buchst. b DMA gerade mit Blick auf § 19a GWB eingefügt wurde (vgl. Käseberg in Bien/Käseberg/Klumpe/Körber/Ost, Die 10. GWB-Novelle, Einl. Rn. 31; Kap. 1 Rn. 182; Wagner-von Papp in BeckOK Kartellrecht, Stand 1. April 2024, § 19a GWB Rn. 24, 26 aE; Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 61, 65) derart offenkundig, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel bleibt.
Rz. 211
c) Gleiches gilt für die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. e, f, Art. 5 Richtlinie 2015/1535 (vgl. auch Schweitzer in Immenga/Mestmäcker, GWB, 7. Aufl., § 19a Rn. 20). Es gibt nach dem Ausgeführten keine Anhaltspunkte dafür, dass nur auf bestimmte - wenige - Diensteerbringer anwendbare Vorschriften, auf deren Grundlage die Kartellbehörden nach Feststellung von unternehmensspezifischen Voraussetzungen konkret-individuelle Entscheidungen treffen, der Notifizierungspflicht gemäß Art. 5 Richtlinie 2015/1535 unterfallen könnten. Davon, dass dies nicht der Fall ist und auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde, ist der Senat insbesondere im Hinblick auf die abgesehen von der deutschen Fassung übereinstimmenden Sprachfassungen, Sinn und Zweck der Notifizierungspflicht sowie die Entscheidung des Unionsgerichtshofs vom 9. November 2023 (C-376/22, NJW 2024, 201 Rn. 37 - Google Ireland) überzeugt (vgl. Urteile vom 6. Oktober 1982 - Rs. 283/81, ECLI:EU:C:1982:335, Rn. 16 - Cilfit u. a.; vom 15. September 2005 - C-495/03, ECLI:EU:C:2005:552, Rn. 39 - Intermodal Transports; vom 28. Juli 2016 - C-379/15, ECLI:EU:C:2016:603, Rn. 48 - Association France Nature Environnement; vom 6. Oktober 2021 - C-561/19, BeckRS 2021, 29188 Rn. 32 bis 40 - Consorzio Italian Management e Catania Multiservizi).
Rz. 212
d) Schließlich ergibt sich auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2000/31 keine Vorlagepflicht. Insoweit ist der Senat nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift und der Entscheidung des Unionsgerichtshofs vom 9. November 2023 (C-376/22, NJW 2024, 201 Rn. 31 - Google Ireland) überzeugt, dass die auf Grundlage von § 19a Abs. 1 ergangene Feststellungsverfügung keine Einschränkung des freien Verkehrs von Diensten im Sinne dieser Richtlinie darstellt, weil sie schon keinen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft betrifft.
Rz. 213
V. Entgegen der Auffassung der Beschwerde bestehen keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von § 19a Abs. 1 GWB. Es kommt daher nicht darauf an, dass sich die in einem Drittstaat ansässige Beschwerdeführerin zu 1 auf die Grundrechte des Grundgesetzes nicht berufen kann (Art. 19 Abs. 3 GG, vgl. dazu und zu den Regelungen des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika geschlossenen Freundschafts-, Handel-, und Schifffahrtsvertrags vom 29. Oktober 1954 [BGBl II S. 487] BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2018 - 2 BvR 1287/17, juris Rn. 27, 41 f.; siehe ferner auch BVerwG, Urteil vom 14. März 2023 - 8 A 2/22, BVerwGE 178, 46 Rn. 90). Die auf die Erkenntnisse zahlreicher, in den Gesetzesmaterialien genannter Studien und Berichte, wie etwa - nebst weiteren - dem bereits erwähnten Bericht des US-Repräsentantenhauses (Investigation of Competition in Digital Markets), dem Sondergutachten 68 zu "Herausforderung digitale Märkte" der Monopolkommission sowie dem Final Report des Stigler Center (Stigler Committe on Digital Platforms; siehe Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 19/23492, S. 55; BT-Drucks. 19/25868 S. 8 und S. 120), gestützte Entscheidung des Gesetzgebers, Unternehmen der Digitalwirtschaft, die auf mehrseitigen Märkten und Netzwerkmärkten im Sinn des § 18 Abs. 3a GWB tätig sind, unter den Voraussetzungen des § 19a Abs. 1 Satz 1 GWB weitergehenden kartellrechtlichen Verhaltensbeschränkungen zu unterwerfen, ist nicht zu beanstanden.
Rz. 214
Die darin liegende Beschränkung der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit der Normadressaten des § 19a GWB findet ihre sachliche Rechtfertigung in der besonderen Schutzbedürftigkeit des Wettbewerbs auf den betroffenen mehrseitigen Märkten und Netzwerkmärkten, die wegen der in ihnen vorherrschenden Netzwerkeffekte besondere Konzentrationstendenzen aufweisen (siehe Rn. 46). Dies schränkt die - ihrerseits von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten - Möglichkeiten an sich effizienter Wettbewerber ein, in diese Märkte einzutreten oder sich dort durchzusetzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. März 2006 - 1 BvR 2087/03, BVerfGE 115, 205 [juris Rn. 82]; Wagner-von Papp in BeckOK Kartellrecht, Stand 1. April 2024, § 19a GWB Rn. 32; Nothdurft in Bunte, Kartellrecht, 14. Aufl., § 19a GWB Rn. 7 f., 13). Zudem steht hier nur eine geringe Belastung durch die keine Verhaltenspflichten begründende Feststellungsverfügung in Rede. Eine Verfügung nach § 19a Abs. 2 GWB, bei deren Überprüfung die Wertentscheidungen der Grundrechte zu berücksichtigen sein werden, ist im vorliegenden Verfahren bereits nicht betroffen. Entsprechendes gilt für die von der Beschwerde gerügten Verstöße gegen die EU-Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention, so dass dahinstehen kann, ob die Grundrechtecharta hier Anwendung findet.
Rz. 215
VI. Die Kostenentscheidung beruht auf § 71 Satz 1 GWB.
Kirchhoff |
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Roloff |
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Tolkmitt |
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Picker |
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Holzinger |
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Fundstellen
BB 2024, 1857 |
BB 2024, 962 |
NJW 2024, 3302 |
GRUR 2024, 1384 |
ZIP 2024, 5 |
JZ 2024, 464 |
NJ 2024, 4 |
WRP 2024, 1220 |
GRUR-Prax 2024, 663 |
MMR 2024, 12 |
RdW 2024, 555 |
Mitt. 2024, 295 |
NZKart 2024, 500 |