Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 31. Mai 2001 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in 33 Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel ist begründet.
I.
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen mißbrauchte der verheiratete Angeklagte seine 1973 geborene Tochter zwischen dem 1. Juli 1984 bis zu deren 14. Geburtstag am 14. Januar 1987 in wenigstens 33 Fällen sexuell. Zeitlich früher und auch nach dem Tatzeitraum liegende Delikte waren verjährt (wegen der kürzeren Verjährungsfrist für den sexuellen Mißbrauch Schutzbefohlener). Mit dem 15. Lebensjahr der Tochter hörte der Mißbrauch auf. In den folgenden Jahren wies die Tochter in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis auf den sexuellen Mißbrauch durch den Vater hin, bat sich jedoch teilweise ausdrücklich Schweigen aus. Da sie wiederholt Probleme in ihren Beziehungen zu Männern hatte, unterzog sie sich schließlich einer Therapie. Ende 1999 kam es sodann zur Anzeigeerstattung.
Das Landgericht hält die nur pauschal bestreitende Einlassung des zur Sache im übrigen schweigenden Angeklagten für widerlegt. Dabei stützt es sich im wesentlichen auf die für glaubhaft erachtete Aussage der mittlerweile – zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung – 28jährigen Tochter, die es durch die Angaben von Zeugen aus dem Freundes- und Verwandtenkreis zu entsprechenden früheren Äußerungen der Tochter bestätigt sieht.
II.
Das Urteil hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung des Landgerichts weist rechtlich erhebliche Mängel auf (§ 337 StPO). Die Beweiswürdigung ist zwar Sache des Tatrichters und das Revisionsgericht hat sie grundsätzlich hinzunehmen. Das gilt aber dann nicht, wenn die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar ist, oder gegen die Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt. Zumal in Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht, bedarf es in besonderem Maße einer Gesamtwürdigung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände (vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 14, 17; Beweiswürdigung, unzureichende 1). Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht in jeder Hinsicht gerecht.
1. Bei der Bewertung der Glaubwürdigkeit der Geschädigten und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben würdigt die Strafkammer auch die Aussage der Mutter des Angeklagten zu einer bedeutsamen Einzelheit, nämlich zu dem Zeitpunkt eines Telefonanrufes dieser Zeugin beim Angeklagten am Tage des Todes von dessen Vater. Dieser Anruf sollte den Angeklagten der Aussage der Geschädigten zufolge während der Ausführung einer der Taten erreicht haben. Nach Auffassung der Verteidigung war dies wegen des behaupteten späten Zeitpunkts des Anrufs im Verlaufe des Vormittags und des Schulbesuchs der Geschädigten nicht möglich. Die Kammer führt dazu bewertend aus, der entsprechende Beweisantrag auf Einvernahme der Zeugin, die im Hinblick auf ihr im Ermittlungsverfahren geltend gemachtes Zeugnisverweigerungsrecht und ihre aktenkundige Gebrechlichkeit von der Kammer nicht geladen worden war, sei erst am ursprünglich vorgesehenen Ende der Beweisaufnahme gestellt worden, obwohl sich dieser Entlastungsbeweis bereits seit Kenntnis der Anklageschrift aufgedrängt habe (UA S. 25).
Dies läßt besorgen, daß die Strafkammer zum Nachteil des Angeklagten ein zulässiges prozessuales Verhalten berücksichtigt hat (vgl. dazu BGHSt 45, 367, 369/370; BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 13, 21). Das begegnet hier deshalb rechtlichen Bedenken, weil der Angeklagte die Tat mit einer allgemeinen Erklärung in Abrede gestellt hatte. Mangels Mitwirkung des Angeklagten an der Aufklärung des Sachverhalts konnte das nicht als nur teilweises Schweigen gewertet werden, das einer Würdigung zugänglich gewesen wäre (vgl. BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 14). Der Angeklagte darf aber nicht nur schweigen, sondern ebenso auf den Antritt eines Entlastungsbeweises verzichten, ohne deshalb in Kauf nehmen zu müssen, daß dieses Verhalten als belastender Umstand bewertet wird und ihm damit zum Nachteil gereicht (BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 13, Überzeugungsbildung 8). Es ist grundsätzlich seine Entscheidung, wann er einen Beweisantrag stellt (Rechtsgedanke des § 246 Abs. 1 StPO). Allerdings darf durchaus bei der Würdigung eines solchen, spät angetretenen Beweises in Rechnung gestellt werden, daß eine etwa entlastende Aussage erst während des Verlaufs der Hauptverhandlung zustande gekommen ist und es dem Zeugen mithin möglich war, seine Aussage auf das bisherige Beweisergebnis einzurichten (BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 21; BGH, Beschl. vom 6. September 2001 – 3 StR 302/01).
Selbst wenn der Zeitpunkt einer Beweisantragstellung als solcher einer Beweiswürdigung ausnahmsweise zugänglich sein sollte (so noch Senat, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 10; differenzierend auch BGHSt 45, 367, 369/370), ist eine darauf abstellende Beweisführung nur dann lückenlos und tragfähig, wenn naheliegende unverfängliche Erklärungsmöglichkeiten für den späten Beweisantritt erörtert und ausgeräumt werden. Zu Recht weist die Revision darauf hin, daß der Angeklagte hier aus seiner Sicht zunächst gute Gründe haben konnte, seiner – wie auch das Urteil erwähnt (UA S. 25) – gebrechlichen Mutter die mit einer Aussage in der Hauptverhandlung gegen ihren Sohn verbundenen Belastungen verschiedener Art zu ersparen (vgl. auch UA S. 26/27). Zudem hatte die Mutter sich im Ermittlungsverfahren auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen, was letztlich ihre eigene Entschließung war. Unter diesen Umständen erweist es sich als rechtlicher Mangel der Beweiswürdigung, daß das Landgericht – wenn auch nur neben anderen Umständen – auf den erst späten Zeitpunkt der Beweisantragstellung abhebt, ohne naheliegende Erklärungsmöglichkeiten dafür in den Blick zu nehmen.
2. Die Urteilsgründe lassen darüber hinaus nicht hinreichend erkennen, daß die Strafkammer eine Gesamtwürdigung und -abwägung aller für und gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechenden Indizien vorgenommen hat. Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben des Tatopfers darf sich der Tatrichter nicht darauf beschränken, Umstände, die gegen die Zuverlässigkeit der Aussage sprechen könnten, gesondert und einzeln zu erörtern sowie getrennt voneinander zu prüfen, und festzustellen, daß sie jeweils nicht geeignet seien, die Glaubhaftigkeit in Zweifel zu ziehen (BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 14; Beweiswürdigung, unzureichende 1). Die Strafkammer hat zwar die Bekundungen der Zeugin B. B. (Ehefrau des Angeklagten und Mutter des Tatopfers) sowie der Zeugen A. B. (Bruder des Angeklagten) und M. B. (Sohn des Angeklagten und Bruder des Tatopfers) jeweils für sich bewertet; dazu gehörten neben zahlreichen anderen Punkten auch die Angaben von Bruder und Mutter der Geschädigten, von dem jahrelangen sexuellen Mißbrauch (im selben Haushalt) nichts bemerkt zu haben. Es fehlt jedoch eine Gesamtschau und Gesamtabwägung aller Beweise; daß diese vorgenommen worden wäre, läßt sich dem Urteil nicht entnehmen. Das wäre indessen hier geboten gewesen, weil die Anzeigeerstattung erst viele Jahre nach den in Rede stehenden Taten erfolgt ist und zum Tatgeschehen – beim Fehlen objektiver Tatspuren – Aussage gegen Aussage steht.
3. Ohne daß es im Ergebnis noch darauf ankäme begegnet die Beweiswürdigung auch deshalb rechtlichen Bedenken, weil die Strafkammer zu zwei von der Geschädigten angegebenen Einzelheiten eine Bewertung vorgenommen hat, die jedenfalls als sogenannter Zirkelschluß und damit als Verstoß gegen die Denkgesetze mißverstanden werden kann. Die Geschädigte hatte der Polizei ein sogenanntes Epiliergerät übergeben, von dem sie bekundet hat, der Angeklagte habe es zu ihrer sexuellen Stimulation verwendet. Das Vorhandensein eines solchen Gerätes im Haushalt hatte die Mutter in Abrede gestellt und – mit dem Angeklagten – eine Durchsuchung nach entsprechenden Zusatzgeräten abgelehnt. Weiter hatte die Geschädigte zu einer der Taten einen bestimmten zeitlichen Verlauf des Vormittags mit dem Anruf der Mutter des Angeklagten am Todestag von dessen Vater berichtet (siehe oben). Hinsichtlich beider Einzelheiten glaubt die Kammer der Geschädigten und führt dazu aus, im Falle einer Falschbezichtigung würde die Geschädigte von der Schilderung solcher Details Abstand genommen haben, weil sie damit einen Anknüpfungspunkt für die Prüfung des Wahrheitsgehaltes ihrer Aussage geliefert hätte (UA S. 23, 27). Der Revision ist zuzugeben, daß dies so verstanden werden kann, als werde allein schon die Behauptung eines Details deshalb als wahr erachtet, weil es eben als Detail behauptet worden ist. Der Senat ist indessen der Auffassung, daß die Strafkammer damit bei sinngerechtem Verständnis im Ergebnis lediglich darauf abstellen wollte, daß die Geschädigte in diesen Punkten grundsätzlich überprüfbare Einzelheiten angegeben hat, was an sich ein Kriterium für die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage sein kann.
4. Die oben (unter II. 1. und 2.) aufgezeigten Mängel der Beweiswürdigung zwingen zur Aufhebung des Urteils. Der Senat vermag trotz zahlreicher den Angeklagten belastender Beweismittel nicht sicher auszuschließen, daß der Tatrichter ohne die bezeichneten Fehler ebenso die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewonnen hätte.
Unterschriften
Schäfer, Nack, Boetticher, Schluckebier, Hebenstreit
Fundstellen
Haufe-Index 657779 |
NStZ 2002, 161 |
StV 2002, 466 |