Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch einer Schutzbefohlenen
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 8. April 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Jugendschutzkammer zuständige Jugendkammer des Landgerichts Paderborn zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in sechs Fällen, davon in fünf Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung und davon wiederum in zwei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch eines Kindes, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 3 StPO Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils hat der Angeklagte seine im Juni 1982 geborene Tochter Nicole im Zeitraum von Oktober 1994 bis Ende März 1997 in mindestens sechs Fällen sexuell mißbraucht. Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegten Taten „in vollem Umfang” abgestritten. Das Urteil stützt sich im wesentlichen auf die Bekundungen der Geschädigten.
a) Am ersten Hauptverhandlungstag (16. März 1999) wurde, nachdem sich der Angeklagte zur Sache geäußert hatte, in dessen Abwesenheit (§ 247 StPO) nur noch die Geschädigte als Zeugin vernommen, die dabei, wie auch das angefochtene Urteil ergibt, im wesentlichen ihre früheren, den Angeklagten belastenden Angaben wiederholte. Nach Wiederzulassung des Angeklagten wurde die Geschädigte um 16.15 Uhr entlassen. Sodann wurde die Hauptverhandlung bis zum Fortsetzungstermin am übernächsten Tag (18. März 1999), unterbrochen. Zu Beginn dieses zweiten Hauptverhandlungstages stellte der Verteidiger einen mit umfangreichem Schriftsatz vorbereiteten Antrag, mit dem er „namens und im Auftrage” des Angeklagten die Vorsitzende Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnte. Zur Begründung führte er aus, die abgelehnte Richterin habe nach Vernehmung der Geschädigten sich bei deren im Sitzungssaal anwesenden Betreuerin erkundigt, ob sich die Geschädigte „bereits in einer Therapie” befinde und dazu ergänzend bemerkt, „daß eine derartige intensive Therapie dringend erforderlich sei, da die Nicole diese belastenden Geschehnisse sonst ja überhaupt nicht verarbeiten könne”. Mit der Bezugnahme auf „die belastenden Geschehnisse” als Anlaß für eine Therapie habe die abgelehnte Richterin zu erkennen gegeben, daß sie von der Schuld des Angeklagten bereits überzeugt sei, ohne zuvor die weitere Beweisaufnahme abzuwarten. In ihrer daraufhin eingeholten dienstlichen Äußerung bestätigte die abgelehnte Richterin die beanstandete Äußerung gegenüber der Betreuerin im wesentlichen; sie führte dazu aber aus, mit „Geschehnissen” habe sie „die Gesamtsituation des Verfahrens und die damit verbundenen Situationen von Nicole, d.h. Vernehmungen durch Frau T., Herrn W., jetzige Vernehmung, Exploration durch die Sachverständige, das Leben im Heim seit 2 Jahren ohne Kontakt zur Familie” gemeint. Die Jugendkammer lehnte den Befangenheitsantrag ohne Mitwirkung der abgelehnten Richterin als unbegründet mit der Begründung ab, „die Frage nach der Therapie (könne) als sachgerecht beurteilt werden, da aufgrund der gesamten persönlichen Situation und der besonderen Vernehmungssituation der Zeugin, unabhängig von der Richtigkeit der belastenden Angaben, eine Aufarbeitung unter fachlicher Hilfe durchaus angezeigt” gewesen sei.
b) Das Landgericht hat den – hier noch rechtzeitig gestellten – Ablehnungsantrag zu Unrecht verworfen. Der Senat hat die im Ablehnungsantrag enthaltene Begründung nach Beschwerdegrundsätzen zu würdigen (st. Rspr.; BGHSt 23, 265 f.). Diese Überprüfung führt zu dem Ergebnis, daß der Angeklagte Anlaß hatte, an der Unparteilichkeit der Vorsitzenden zu zweifeln. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die abgelehnte Richterin tatsächlich befangen war und sich bereits in dem frühen Stadium der Hauptverhandlung eine abschließende Meinung zur Schuldfrage gebildet hatte. Auch wenn die abgelehnte Richterin die Notwendigkeit einer Therapie der Geschädigten wegen der belastenden Situation des Verfahrens in Betracht gezogen haben mag, ließ doch die Bezugnahme auf „die Geschehnisse” in der beanstandeten Äußerung auch bei vernünftiger Würdigung (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 24 Rdn. 8 m.N.) eher die Deutung zu, daß mit „den Geschehnissen” die dem Angeklagten angelasteten sexuellen Übergriffe gemeint waren. Dies legte schon der zeitliche und sachliche Zusammenhang der beanstandeten Äußerung mit der Aussage der Geschädigten nahe, deren Gegenstand gerade die Tatvorwürfe waren. Deshalb bezog sich die an die Betreuerin der Geschädigten gerichtete Frage nach einer Therapie – entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts in der Antragsschrift vom 16. Juli 1999 – gerade nicht „ersichtlich” auf die von dem dem Angeklagten angelasteten Tatgeschehen unabhängige „evidente Belastungssituation der Zeugin”; im Gegenteil liegt – wie die Revision überzeugend einwendet – die Notwendigkeit einer Therapie wegen der mit den Vernehmungen und der Heimunterbringung verbundenen Belastung eher fern, jedenfalls weniger nahe, als dies zur Verarbeitung der traumatisierenden Erlebnisse tatsächlich stattgefundener sexueller Übergriffe der Fall ist. Aus diesem Grund konnte vom Standpunkt des Angeklagten aus dieser auch die dienstliche Erklärung der abgelehnten Richterin als lediglich „nachgeschobene Begründung” werten. Deshalb war aus seiner Sicht bei verständiger Würdigung durch die dienstliche Äußerung die begründete Besorgnis der Befangenheit nicht ausgeräumt (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO Rdn. 8 a.E.). Auf die Frage, ob der Angeklagte – wie er in seinem Ablehnungsgesuch geltend gemacht hatte – die beanstandete Äußerung dahin auffassen konnte, die abgelehnte Richterin habe sich schon aufgrund der Aussage von Nicole zur Schuldfrage festgelegt, geht die Jugendkammer in ihrem Beschluß, mit dem sie das Ablehnungsgesuch verworfen hat, nicht ein. Vermochte demgegenüber der Angeklagte bereits aus der beanstandeten Äußerung der Vorsitzenden Richterin begründete Zweifel an deren Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit herzuleiten, so kommt es für den Erfolg der Rüge nicht mehr darauf an, ob sich für den Angeklagten die Besorgnis der Befangenheit auch daraus ergab, daß – wie im Ablehnungsgesuch weiter geltend gemacht wurde – die abgelehnte Richterin gegenüber der Ehefrau des Angeklagten und Mutter von Nicole in „sehr harschem Ton” ankündigte, man werde „dem Jugendamt über die Vorkommnisse eine Mitteilung zusenden und dabei auch anregen, den Eltern der Nicole das Sorgerecht umgehend zu entziehen”.
2. Da das Urteil bereits aufgrund dieser Rüge nach § 338 Nr. 3 StPO der Aufhebung unterliegt, bedarf es keines näheren Eingehens auf die weiteren Verfahrensbeschwerden, mit der sich der Angeklagte gegen unterbliebene Beweiserhebungen wendet. Der Senat sieht jedoch Anlaß zu folgenden Hinweisen:
a) Die Begründung, mit der das Landgericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Benutzung der Dusche neben dem elterlichen Schlafzimmer zurückgewiesen hat, begegnet jedenfalls im Hinblick auf den vorrangigen Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache rechtlichen Bedenken. Nach ständiger Rechtsprechung darf sich das Gericht im Urteil nicht in Widerspruch zu dieser Ablehnungsbegründung setzen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. September 1993 - 4 StR 498/93 - und vom 20. August 1996 - 4 StR 373/96; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 244 Rdn. 56 m.w.N.). Mit der unter Beweis gestellten Tatsache, daß die Dusche „seit Mitte/Ende November 1994 nicht mehr genutzt wurde”, lassen sich aber die Feststellungen zu den Fällen II 1 bis 3 der Urteilsgründe, wonach der Angeklagte die sexuellen Handlungen im Zusammenhang mit dem Duschen vorgenommen hat, nicht ohne weiteres vereinbaren.
b) Der neue Tatrichter wird sich wegen der – wie sich schon aus den Urteilsgründen ergibt – widersprüchlichen Angaben der Geschädigten zu dem Vorfall im Gartenhaus (Fall II 4 der Urteilsgründe) auch insoweit um weitere Aufklärung zu bemühen haben, zumal es an einer einleuchtenden Begründung dafür fehlt, weshalb das Landgericht von einer Tatzeit „im Sommer 1996” ausgeht, obwohl Nicole diese Tat in der Hauptverhandlung „als ersten Vorfall” bezeichnet hat (UA 22). Auch läßt das Urteil nicht erkennen, welche konkreten Angaben Nicole zur Größe dieses Gartenhauses gemacht hat. Unter Zugrundelegung der Einlassung des Angeklagten könnte es – durch die Ausführungen hierzu auf UA 30/31 nicht ohne weiteres ausgeräumten – Zweifeln begegnen, ob dieses Gartenhaus für eine Übernachtung von zwei Personen jedenfalls dann ausreichend bemessen war, wenn sich darin, was nach den bisherigen Feststellungen nicht ausgeschlossen ist, zugleich die darin regelmäßig aufbewahrten Gegenstände befanden. Diese Umstände betreffen indiziell die Glaubhaftigkeit der belastenden Aussage von Nicole und bedürfen namentlich bei einer Beweislage wie hier, bei der Aussage gegen Aussage steht, besonders kritischer Würdigung (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 14, 15, 17). In diesem Zusammenhang verweist der Senat zu den Mindestanforderungen an strafprozessuale Glaubhaftigkeitsgutachten auf das zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung bestimmte Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98.
3. Soweit das Landgericht im übrigen in allen Fällen mit Ausnahme des Falles II 4 der Urteilsgründe eine Vornahme der sexuellen Handlungen „mit Gewalt” bejaht und deshalb den Angeklagten insoweit wegen tateinheitlich verwirklichter sexuellen Nötigung nach § 178 Abs. 1 StGB a.F. verurteilt hat, ist dies im Ansatz insoweit richtig, als auch das Einsperren des Opfers als tatbestandliche Gewalt ausreichen kann (vgl. Lackner/Kühl StGB 23. Aufl. § 177 Rdn. 4 m.N.). Die von der Jugendkammer getroffene Feststellung, der Angeklagte habe in diesen Fällen jeweils die Schlafzimmertür verschlossen und den Schlüssel versteckt, rechtfertigt indes nicht ohne weiteres die Würdigung, der Angeklagte habe hiermit verhindern wollen, „daß Nicole die Räume verlassen konnte” (UA 16; ebenso UA 35). Abgesehen davon, daß das Urteil nicht mitteilt, wie und auf welche Weise der Angeklagte den Schlüssel jeweils „versteckt” hat, könnten sich Zweifel an der für die Verurteilung nach § 178 Abs. 1 StGB a.F. notwendigen bewußten, finalen Verknüpfung des Abschließens der Schlafzimmertür als Mittel der Herbeiführung der sexuellen Handlungen schon daraus herleiten, daß das Landgericht selbst erwägt, „daß das Abschließen der Schlafzimmertür nur erfolgte, um einer Entdeckung zu entgehen” (UA 35). Eine Begründung dafür, weshalb das Gericht diese Möglichkeit verwirft, enthält das Urteil nicht. Dessen hätte es aber schon deshalb bedurft, weil das Landgericht selbst davon ausgeht, daß während der Vorfälle (jedenfalls teilweise) andere Familienmitglieder im Hause anwesend waren. Ganz abgesehen von den im übrigen wechselnden Angaben von Nicole zu ihrem Abwehrverhalten (vgl. dazu UA 19, 20, 22, 23), ergeben die Feststellungen im übrigen nicht, daß Nicole jemals den Versuch unternommen hat, während der sexuellen Übergriffe das Schlafzimmer zu verlassen. In diesem Zusammenhang könnte auch bedeutsam sein, daß die zur Glaubwürdigkeit gehörte Sachverständige bei Kindern, die sich nicht trauen, sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren, die Neigung, „Schilderungen über erlebte Vorkommnisse mit erfundenen Angaben über eigenes Abwehrverhalten anzureichern”, in einen inneren Zusammenhang damit gestellt hat, daß es diesen Kindern „eher peinlich ist, in derartigen Situationen ‚erwischt’ zu werden” (UA 28). In gleicher Weise hatte aber auch der Angeklagte Anlaß zu verhindern, daß er und Nicole bei den Vorfällen von im Hause anwesenden Familienmitgliedern überrascht wurden.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Maatz, Kuckein, Athing, Otten
Fundstellen
Haufe-Index 540796 |
NStZ 1999, 629 |
StV 1999, 575 |